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Homerische-Frage-und-Epischer-Kyklos

Homerische-Frage-und-Epischer-Kyklos

Die ‚Homerische Frage‘ und der Epische Kyklos

Ausgangssituation … Stichpunkte … offene Lösungsansätze – mps –

 

Bereits zur Person Homers stehen zwei Thesen einander gegenüber:

Abbé d’Aubignac (1604-46): Homer (ὅμηρος = Geisel, Bürge) ist als Person eine Fiktion, eine Kollektivbezeichnung für eine Vielzahl von Rhapsoden [ῥαψ-ῳδός [ἀοιδός] = Wandersänger [vgl. u. oral poetry]), welche „Gedichte Homers“ verbreiteten [→ etwa Volker von Alzey aus dem Nibelungenkreis oder die mittelalterlichen Minstrels].

  1. v. Wilamowitz-Moellendorff († 1928): den antiken, stark legendenhaften Nachrichten über das Leben des Dichters Homer liegt ein historischer Kern zugrunde.

Für uns heute ist Homer (8. Jh. v. Chr.) eine Chiffre als Verfasser dreier Epenkomplexe – der Ilias, der Odyssee und der homerischen Hymnen, von denen letztere sicher nicht von Homer / vom Verfasser der Ilias oder Odyssee stammen.

Aus antiken Notizen lässt sich erschließen, dass Homer (mit ‚bürgerlichem‘ Namen Melesígenes) aus der Gegend von Smyrna (Westküste Lydiens) stammte und an den Fürstenhöfen des westlichen Kleinasien (Ionien) verkehrte; Hauptwirkungsfeld dürfte die Insel Chios gewesen sein, sein Grab soll auf der Kykladeninsel Ios liegen. Die Nachricht von seiner Blindheit ist wohl Legende (vgl. die blinden Sänger Demódokos bei den Phäaken oder Phēmios auf Ithaka).

Erstmals von Gelehrten des ausgehenden 5. vorchristlichen Jahrhunderts (den Chorizónten Xenon und Hellanikos) zur Diskussion gestellt (von Aristarch v. Samothrake [216-144 v. Chr.], dem Schüler und Nachfolger des Aristophanes v. Byzanz als Vorsteher der alexandrinischen Bibliothek und [mit] bedeutendstem alexandrinischen Grammatiker, aber zurückgewiesen und für das weitere Altertum unterdrückt) und vom Abbé d‘ Aubignac (s.o.) in der modernen Philologie erneut vertreten, herrscht heute die Auffassung vor, dass Ilias und Odyssee nicht vom gleichen Dichter stammen: Unterschiede im sozialen Milieu der Handlung (die Ilias spiegelt die Adelsgesellschaft mykenischer Zeit [1600-1200 v. Chr.], die Odyssee die Gesamtgesellschaft der Zeit Homers [8. Jh.]), in der Wesensart der Haupthelden, in der Handlungskonzeption im Großen (die Ilias eine Episode, von welcher aus der gesamte Krieg um Troja betrachtet wird – die Odyssee Erzählung eines linearen Geschehens mit kunstvoller Verflechtung der Handlungsstränge [z.B. Nachreichung von umfangreichen Passagen der Handlung in Form der Ich-Erzählung in den Phäakenbüchern]) wie in den zahlreichen, märchenhaft-novellistischen Elementen der Odyssee im Kleinen, sowie jüngere Stadien der Sprachentwicklung (in Morphologie wie Syntax) in der Odyssee lassen diese als das (um eine Generation?) spätere Werk erscheinen, während der Dichter der Ilias zumeist mit Homer identifiziert wird.

 

Die Homerische Frage: mit diesem Problem verbinden sich verschiedene Theorien zum Zustandekommen der epischen Gedichte Ilias und Odyssee in der uns heute vorliegenden Gestalt:

 

  1. a) Liedertheorie: die Ilias besteht aus vielen einzelnen, dem dichtenden Volksgeist entstammenden und von fahrenden Sängern = Rhapsoden mündlich weitergetragenen Liedern, welche in der Regierungszeit des Peisistratos v. Athen (560-27 v. Chr.) erst schriftlich fixiert, zusammengefügt und redigiert wurden (vgl. Cic. de or. 3, 137: Pisistrati? qui primus Homeri libros confusos antea sic disposuisse dicitur, ut nunc habemus).

 

  1. b) Kompilationstheorie: selbständige Kleinepen (behandelnd etwa die Heim- u. Irrfahrten der Trojakämpfer [Nóstoi – s.u. Epischer Kyklos]) wurden von einem Kompilator (lat. compilare – zusammenraffen; ausbeuten, plündern) oder Redaktor zur Odyssee

 

  1. c) Entwicklungstheorie: Eine Ur-Ilias geringen Umfanges wurde durch Einschübe und Hinzufügungen erweitert. In der Odyssee wäre eine solche denkbare ‚Interpolation‘ die Telemachie. Möglicherweise sind der Verfasser einer Ur-Ilias und einer Ur-Odyssee

 

  1. d) Unitarische Theorie: die Ilias ist das Werk eines Dichters; diese These wird bekräftigt durch die Beobachtung strukturähnlicher Szenen (Heeresversammlung, Botenszenen, Begrüßung / Ansprache o.ä.) in Ilias wie Odyssee, welche auf eine einheitliche Konzeption wie Komposition beider Gedichte jeweils hinweisen (← Strukturanalyse).

 

Der Epische Kyklos: umfasst einen Kreis von weiteren epischen Dichtungen, welche den gesamten Mythos (außer Ilias und Odyssee) von der Entstehung der Welt bis zum Tod des Odysseus behandeln, in einem engeren Sinne allerdings den Sagenkreis um den trojanischen Krieg ergänzen, ausgestalten und abrunden. Zeitlich anzusetzen sind sie wohl zwischen 800 und 500 v. Chr., verschiedene Dichter sind auch namentlich bekannt (Arktinos, Hegesias v. Salamis, Lesches v. Mytilene, Stasinos, Kinaithon u.a.), eine sichere Zuordnung einzelner Werke aber kaum möglich. Erhalten sind uns einzelne Fragmente oder bloße Titel, daneben Testimonien = (längere oder kürzere) Nachrichten jüngerer antiker Autoren aus bzw. über verschiedene Dichtungen, außerdem spätere Bearbeitungen des gleichen Stoffes in Lyrik und Drama sowie in der Bildenden Kunst. Auf trojanischer Seite tritt die Aenéis Vergils – eine Art Odyssee und am Ende auch nóstos (s.u.) des überlebenden Helden und seiner Gefährten – in der römischen Literatur als paralleler Erzählstrang hinzu.

 

Als Sagenkreise sind zu unterscheiden:

  1. a) Göttergeschichte: Theogonie (Hesiod um 700 v. Chr.), Titanomachie (vgl. [Ps.-] Aischylos‘ Prométheus [desmōtes]);

 

  1. b) der thebanische Sagenkreis: Oidipodeía (vgl. Sophokles‘ König Ödipus sowie Ödipus auf Kolōnós), Thébais (Zug der Sieben gegen Theben, vgl. Aischylos; Euripides‘ Phoenissen und Hiketiden, Sophokles‘ Antigone) und Epígonoi (Zug der Söhne der Thebenfahrer [aus Argos] gegen Theben);

 

  1. c) der trojanische vor dem Geschehen der Ilias:

 

  • Kyprien (Vorgeschichte: Hochzeit des Peleus und der Thetis [vgl. Catull, c. 64], Parisurteil, Entführung Helenas, Werbung des Menelaos zum Kriegszug, Ereignisse in Aulis [Iphigenie, vgl. Euripides] und Geschichten aus dem in der Ilias nicht behandelten Kriegsabschnitt (1.-9. Kriegsjahr; vgl. etwa Bakchylides‘ Dithyrambos Die Antenoriden oder Die Rückforderung der Helena);

 

nach dem Geschehen der Ilias:

 

  • Aithíopis: Kampf des Aithiopenfürsten Memnon (Sohn der Eos) gegen Achill, beider Tod, Kampf um Achills Leiche [wie auch später um seine Waffen], seine Bestattung, Selbstmord des Aias (vgl. Sophokles); dazu Kampf Achills mit der Amazonenkönigin Penthesileía (→ Camilla in Vergils Aeneis).
  • Kleine Ilias: Ereignisse nach Hektors Tod bis zur Einnahme Trojas (→ Fortsetzung der Ilias; teilweise inhaltliche Überschneidung mit der Aithíopis).
  • Iliupérsis: Eroberung und Zerstörung Trojas mit Hilfe des Hölzernen Pferdes (vgl. Euripides‘ Hekabe, Troerinnen, Helena, Andromache), Schicksal des Laokoon und Flucht des Aeneas (→ Vergils Aeneis, B. II).
  • Nóstoi: Heimkehr weiterer trojanischer Helden, insbes. Agamemnons Schicksal und Orests Rache (Aischylos‘ Orestie [Agamemnon, Choephoren, Eumeniden]; Sophokles‘ Elektra; Euripides‘ Elektra, Orest, Iphigenie bei den Taurern).
  • Telegonie und Thesprōtis: Schicksale des Odysseus nach seiner Heimkehr – Versöhnung mit Poseidon; Aufeinandertreffen mit (→ Hildebrandslied) und (versehentliche) Ermordung durch seinen Sohn von Kirke = Telegonos, dessen Verbindung mit Penelope und die des Telemach mit Kirke

sowie

Wanderung des Odysseus nach Thesprōtien (NW-Griechenland/Epiros), zweite Ehe und Kampf gegen die Bryger (ursprünglich ein thrakischer Stamm, in W-Makedonien und Illyrien ansässig).

 

  1. d) von den Epen außerhalb des trojanischen und thebanischen Sagenkreises dürften die Argonautiká (vgl. Euripides‘ Medéa), die Herakléis (vgl. Euripides‘ Herakles sowie Sophokles‘ Trachinierinnen) und die Theséis (vgl. Euripides‘ Hippólytos) am bekanntesten sein.

 

Von den obengenannten ist der thebanische Stoff dem der Ilias zeitlich vorgeordnet (unter den Sieben gegen Theben ist Týdeus, der Vater des Trojafahrers Diomédes); auch die Helden der Argonauten- (und Theseus-)Sage gehören einer früheren Generation an als die iliadischen Helden (die Brüder Télamon und Peleus nehmen an der Kalydonischen Jagd wie der Argonautenfahrt teil und sind Väter von Helden vor Troja – Aias bzw. Achill; Philoktet ist Bindeglied: Argonaute und Trojafahrer, vgl. Sophokles. Herakles ist [kurzzeitig] Argonaute, befreit Theseus [gleichfalls Argonaute] nach dessen versuchter Entführung der Persephone aus der Unterwelt; Aigeus, der Vater des Theseus, gewährt Medea Asyl in Athen [← Eur. Medea], Theseus selbst wiederum dem verbannten Greis Oidipus in Attika [→ Soph. Oidipus auf Kolōnós]). Hesíone, die Schwester des Priamos, Sohnes des (dritten) trojanischen Gründerkönigs Laómedon, heiratet Telamon, Bruder des Peleus (= Achills Vater) und Vater des großen Aias → damit ist Priamos als Vater von Hektor und Paris zugleich Onkel von Achill und Aias und sind mithin die führenden Kämpfer auf griechischer wie trojanischer Seite Cousins. Über die gleiche Linie (Laomedons Schwester Themis – vgl. in der Aeneis die Bezeichnung Laomedóntia pubes für die nach der Zerstörung verbliebenen Trojaner) ist Priamos Vetter des Anchises und Großcousin (sowie durch seine Tochter Kreüsa Schwiegervater) des Aeneas. Dessen Sohn Askánios = Iulus wiederum wird über die Königsliste von Alba Longa (in Latium) und darauf Romulus und Remus Gründungsahne von Roma aeterna und Namensgeber aller Iulier = der gens Iulia (→ das sidus Iulum im Unterweltsbuch von Vergils Aeneis).

 

Literarisch stehen die Dichtungen des Kyklos der Ilias und Odyssee – natürlich in unterschiedlichem Maße – recht nahe; allerdings ging bei ihnen (nach dem Urteil der Antike) das Streben nach stofflicher Vollständigkeit und Abrundung der homerischen Epen offenbar auf Kosten der künstlerischen Gesamtkomposition.

 

Oral Poetry (begründet von Milman Parry 1928 ff.): eine feste Tradition der soeben angesprochenen mythischen Erzählkomplexe reicht bis in das 14. vorchristliche Jahrhundert, in mykenische Zeit (die homerischen Epen geben ja gleichfalls ein Bild der Adelsgesellschaft dieser Zeit, auch für Homer selbst also bereits ‚Geschichte‘, Vergangenheit) und damit in eine Epoche der Nicht-Schriftlichkeit zurück.

Homers Leistung besteht nun darin, dass er einerseits den mündlich gebundenen Überlieferungsstand seiner eigenen Zeit mit Hilfe des (spätestens) zu Beginn des 8. Jh. von den Phöniziern übernommenen Alphabets festgehalten hat, andererseits aber den chronologisch fortschreitenden Erzählaufbau durch eine Komposition ersetzt, welche von einem Leitmotiv (Zorn des Haupthelden; Irrfahrten) aus ein umfassenderes Geschehen (Krieg um Troja; Heimkehr des Odysseus) darstellt.

  1. a) Formeln, stehende Wendungen, zu wiederholende Verse sind unverzichtbare Hilfsmittel des Extemporierens, des (weiterhin improvisierend-kreativen) mündlichen Vortrages aus dem Gedächtnis.
  2. b) Kunstvolle Verflechtungen der Handlungsanlage (Rückblicke in Form der Ich- oder Botenerzählung, Schauplatzwechsel mit Überleitungen, Hintergrunderzählungen), Zentrierung der Geschehnisse auf ein Leitmotiv, vielfältige Bezüge und Anspielungen kennzeichnen ein Dichten, welches ohne Schriftlichkeit nicht mehr

Homer‘ hat Ende des 8. Jh. v. Chr. einzelne, umfangmäßig begrenzte Stränge vorgefundener, mündlich tradierter Volksdichtung unter dem von ihm angestrebten Kompositionsprinzip zu einem (umfangreichen und) großangelegten Ganzen, der Ilias, schriftlich zusammengefügt, wobei unsicher bleiben muss, welche Bestandteile er umlaufender oral poetry entnommen und welche er selbst (hinzu-)gedichtet hat.

Eine analoge Abfassungsgeschichte mit einem (wenig) jüngeren Dichter aus dem Umfeld Homers ist für die Odyssee anzunehmen; und in die gleiche ‚homerische Schule‘ gehören schließlich auch die sogenannten Homerischen Hymnen, Preislieder auf olympische Götter (mit Episoden aus ihrem Leben) und auf Heroen und Halbgötter unter Verwendung von Charakteristika der homerischen Großepen (Sprache, Formeln) seit dem 7. Jh. v. Chr.