Zu-R-Nickel-Xenophon-Thukydides
Rainer Nickel: Der verbannte Stratege – Xenophon und der Tod des Thukydides, Wissenschaftliche Buchgesellschaft (Philipp von Zabern) Darmstadt 2014. 144 S., € 29,95 (ISBN 978-3-8053-4755-6).
Thukydides – als Scriptor rerum Begründer der historischen Monographie, in diesem Falle über den Peloponnesischen Krieg (431-404 v. Chr.) zwischen den Hauptmächten des perikleischen Zeitalters samt ihrer verschiedenen und wechselnden Verbündeten, als Auctor rerum (Sall. Cat. 3, 1 f.) Athener Stratege ebenda bis zu seiner Verbannung im Winter 424/23 nach dem Verlust von Amphipolis im Westen Thrakiens an Sparta (IV 104-06). Und Xenophon von Athen übernimmt in seinen Hellenika den Stab, wo Thukydides abbricht – im Sommer des Jahres 411 nach der Seeschlacht bei Kynossema (‚Hundsgrab‘), einem Vorgebirge am Hellespont.
Nickels (N.) Darstellung kombiniert überliefertes Quellenmaterial – neben den genannten besonders Xenophons „Kriegstagebuch“ Anabasis – mit literarischer Fiktion und rekonstruiert aus historisch Gesichertem und authentisch Plausiblem eine zusammenhängende Erzählung vom Friedensvertrag des Jahres 404 bis zum erfolgreichen Ende des ‚Zugs der Zehntausend‘ an die Schwarzmeerküste 400. Dieses Verfahren stellt N. in die bereits antike, aber auch moderne (Chr. Meier) historiographische Tradition (S. 7; vgl. Thuk. I 22, 1), und man ist sogleich an zeitgenössische Formen medialer Aufbereitung von historischen Stoffen („History-Doku“) samt ihrem ‚Dreieck‘ aus objektiver Darstellung, Fiktionalität und didaktischer Intention erinnert. Zentrales Thema ist der Tod des Thukydides, für den es belastbare Belege keine, Theorien seit dem Altertum in ganz unterschiedliche Richtungen gibt, was Todesort (Pausanias: Athen, Plutarch: Thrakien) wie -umstände (gewaltsam, Unfall) angeht (S. 19 f.): Didymos (Chalkenteros, 1. Jh. v. Chr.) geht davon aus, daß der aus dem thrakischen Exil nach Athen zurück Berufene in den Wirren der ‚Dreißig‘ erschlagen wurde, und Xenophon (= N.) verwahrt sich, damit Etwas zu tun gehabt zu haben – was ihm L. Canfora (Die verlorene Geschichte des Thukydides) 1990 (orig. Storie di oligarchi 1983) zu unterstellen scheint (S. 68-70; 94) und daraus ein thukydideisch-xenophontisches Geschichts-Triptychon ‚kreieren‘ wird (S. 76-88).
Jedenfalls trifft der eine Generation Jüngere den prominenten Ex-Exilanten auf dem Landgut seines Vaters, freundet sich mit ihm an und erhält Dokumente; danach verliert sich dessen Spur (S. 8). Wenige Jahre später wird Xenophon von seinem Gastfreund Proxenos auf eine ‚Reise‘ zu dem persischen Satrapen Kyros d. J. eingeladen, und der künftige Kriegsberichterstatter könnte (= N.) bei diesem Abenteuer die Spurensuche nach dem Verschollenen im Auge gehabt haben. Diese bleibt letztlich ebenso erfolglos wie zuvor schon seine erklärten Bemühungen, Thukydides vor dem Terror der Dreißig zu schützen, als Kompensation für seine zeitweilige Zusammenarbeit mit ihnen – „fiktiv … nachvollziehbar, aber nicht durch Quellen belegt“, es kann so gewesen sein: „kontrollierte Fantasie“ (S. 7 f.) in der Ich-Erzählung Xenophons, die mit Überliefertem ebenso wie mit literarischen Motiven (Witwe von Ephesos S. 88 f., Kroisos und Kyros d. Gr. 71, 90) verknüpft eine durchgehend lebensnahe und anschauliche Darstellung der Abläufe, aber auch von historischen (Alkibiades S. 23 f., Klearchos 111 f.) wie literarischen (Philoktet S. 44 f., Marsyas 97) Persönlichkeiten ergibt.
Der Erzählreigen beginnt mit der Schleifung der Langen Mauern als Kriegsende, der Einsetzung der Dreißig unter Obhut des Admirals Lysander (und einer spartanischen Besatzung auf der Akropolis), ihren Willkürakten zur Wiederherstellung der „Verfassung der Väter“ sowie dem Konflikt der beiden Wortführer, des radikalen Kritias, Onkel Platons, und des gemäßigten, schließlich unterliegenden Theramenes (S. 11-17). Und hier kommt Xenophon ins Spiel; sein (überlieferter) Werdegang zwischen Athen und Sparta mündet in die Spekulationen um die Todesumstände des Thukydides, an welche und an seine Rolle für die Dreißig der junge Mann sich nun in eigener (= N.) Schilderung erinnert (S. 20 ff.): es ist Kritias, auf dessen Anweisung die Sache erledigt werden soll. Über Sokrates und ‚seine‘ Komödie, die Wolken des Aristophanes, setzen sich diese Ich-Gedanken fort, über die Motive des Kritias und die Gefahr, welche von Hintergrundmaterial und -wissen des Historikers für die Dreißig ausgehe, um zunächst einmal im (gesichert) gemeinsamen geistigen Hintergrund, der Sophistik in Athen zu münden (S. 28 f.). Es ist eine Geschichte in Fortsetzungen, die N. Xenophon über seine Annäherung an Thukydides bis zu ihrem persönlichen Zusammentreffen auf dem väterlichen Gut entwickeln läßt: nach Einlagen über den Parthenon-Fries (= N.) – mit Andeutungen über den Beginn seiner Vereinnahmung als Ephebe durch die Dreißig – und den Epitaphios des Perikles (= Th.) schildert der junge Kavallerist, wie er bei der befohlenen Verhaftung den Plan faßt (S. 34), den Schriftsteller (als Wiedergutmachung, s.o.) zum Verlassen Athens zu überreden, was er – nach einer gründlichen (realen) Beschreibung von Autor und Werk (im Kontrast insbes. zu Herodot) – in ihrer ersten (fiktiven) Begegnung in dessen Stadthaus insoweit erreicht, als Thukydides ungläubig zwar weder zu Kritias mitkommt noch nach Thrakien zurück flieht, aber sich auf das Landgut des ihm von früher bekannten Gryllos einladen läßt, nicht ohne auf sein wertvolles Schriftmaterial zu verweisen (S. 37-41).
Das bietet N. Gelegenheit, den Oikonomikos mit dem Lob des Landlebens in Aristophanes‘ Eirene zu verbinden, um Xenophon auf dieser Folie die Rolle des Vaters und seines Gutshofes in der Anfangsphase des Krieges nachzeichnen und sich selbstkritisch als mutmaßliches Werkzeug des intriganten Kritias gegenüber Thukydides in eine Linie mit Neoptolemos gegenüber dem sophokleischen Philoktet stellen zu lassen (S. 42-45). Auf dem Hof kommt es tatsächlich und doch auch gedacht zugleich zum zweiten-ersten Treffen des jüngeren Historikers mit seinem Vorgänger, die Umstände, die seinerzeit zur Verbannung des Strategen geführt hatten, werden besprochen (S. 48 f.), der Melier-Dialog (V 85-113) angekündigt (S. 50), und hier erhält Xenophon von Thukydides (= N.) den Auftrag, die Unterlagen aus seinem – später in Brand gesetzten (S. 65-67) – Stadthaus zu bergen (S. 61-63), die einen Teil von Canforas (s.o.) Hypothese stützen werden. Daß die ersten beiden Bücher der Hellenika in Stil wie Struktur ausgesprochen thukydideisch seien und möglicherweise auf dessen Material zurückgehen, läßt auch N. gelten (S. 51 f. und noch einmal 100).
Unterdessen ist Thukydides einem zweiten Brief des Kritias gefolgt (S. 52 f., 60, 63), und Xenophon bleibt hin- und hergerissen, ob es sich dabei um eine Schutzmaßnahme des Freundes handelt oder eine Fälschung der ‚Kleonisten‘, oder ob der Historiker, der zuviel weiß, in der immer chaotischeren Endphase der Dreißig beseitigt werden soll. Jedenfalls taucht sein Mentor nicht wieder auf, und Nachforschungen bis nach Thrakien (Amphipolis) ergeben nicht mehr als eine nebulöse Mordtheorie (S. 70). Eher beiläufig bringt Xenophon (= N.), der für sich und Philesia, Thukydides’ Tochter, selbst vom Orakel in Delphi keine Hilfe erwartet, die „Augen und Ohren“ des Großkönigs (Kyr. VIII 2, 10), die persische Geheimpolizei ins Spiel, leitet damit aber zu seinem nächsten großen Abenteuer über: er folgt dem Ruf seines boiotischen Gastfreundes Proxenos (An. II 6, 16-20) nach Sardes an den Hof des jüngeren Kyros (Diog. Laert. II 49 f.). Das Treffen mit seinem Lehrer Sokrates hierzu liefert N. den losen Aufhänger, die Kleinen Schriften Xenophons knapp zu charakterisieren (S. 78 f.), ebenso wie ein Gespräch mit persischen Forschungsreisenden auf der Überfahrt nach Ephesos, den „berühmten Herodot aus Halikarnassos“ vorzustellen (S. 83-85). Diese (= N.) kennen Thukydides und beruhigen Xenophon (S. 86 f.); von seiner Ernennung zum Schreiber durch Kyros (ein idealisierendes Porträt nach An. I 9 bei N., S. 92 f.) verspricht er sich Hilfe bei seinen weiteren Nachforschungen (S. 94).
Nach einem Stimmungsbild (=N.) vor dem Aufbruch von Sardes, insbesondere über die Zusammensetzung des Söldnerheeres aus den vormaligen Gegnern im Peloponnesischen Krieg (S. 95 f.), ist Xenophon mit der angeblichen Strafexpedition südöstlich durch Lydien über den Mäander nach Pisidien wieder ‚bei sich‘, also der Anabasis. In Kolossai komplettieren ein thessalisches Kontingent unter (dem aus Platon bekannten) Menon, im phrygischen Kelainai der aus Sparta verbannte Klearchos (Weitere An. I 1, 9-11 und 2, 9) die (mehr als) ‚Zehntausend‘, und hier gibt der Fluss Marsyas dem Forscher Gelegenheit, auf dessen aus Ovid (Met. VI 382-400 und Fast. VI 692-710) bekannten Namensgeber und seinen unglücklichen Wettstreit mit Apoll hinzuweisen. Unzufriedenheiten der Söldner über das offensichtlich vorgetäuschte Marschziel sowie ausbleibenden Sold finden eine Lösung (An. I 2, 12) im Auftritt der kilikischen Fürstengattin Epyaxa (S. 97 f.) – aber Thukydides rückt auf dem Weg ins Landesinnere immer weiter aus dem Blickfeld (S. 100) und kommt, eingebettet in Charakteristiken von Menon (An. II 6, 21-29 und N. mit Thuk. III 82 f.) und Klearchos (An. II 6, 6-15) sowie die Episode um den persischen Satrapen Orontas (S. 115 f.) oder zwischen der Darstellung des Söldneraufstands in Tarsos (S. 104-06) nach Durchsickern des tatsächlichen Marschziels (An. I 3, 1 f.) und der Übergabeverhandlungen nach Kunaxa (S. 117-19), nur noch punktuell ins Spiel, und das nurmehr zur erinnernden Bestätigung seiner Unauffindbarkeit, wie im Gespräch mit den Händlern aus Abdera (=N., S. 103 f.). „Nachrichten über Thukydides ?“ (S. 112-14) mit – von Xenophon kritisch abgewogenen – Lebenszeichen aus seinen Goldbergwerken in Thrakien oder Feuertod in seinem Athener Haus stellen in der aktuellen Situation schließlich (=N.) das Ende der Recherchen dar. Auf Xenophon warten andere Aufgaben (in denen er Thukydides dann doch noch auf seine Weise ‚findet‘ = N., S. 127): der weitere Fortgang der Anabasis ist bekannt, das Tagebuch liegt vor, und seine spätere (394 v. Chr.) Verbannung aus Athen wegen seiner spartanischen Bande – Koroneia – werden (=N.) eine Wiederaufnahme der Ermittlungen – dann vor Ort – verhindern (vgl. S. 130).
Ein hohes Maß an probabilitas erhält N.s Erzählung durch die konsequente Verzahnung ihrer fiktiven mit den nach Quellenlage abgesicherten Bauteilen: das Eine bedingt, setzt voraus, veranlaßt das Andere et vice versa; quellenmäßig gestützte Sachinformationen werden in die Erzählteile eingebaut (106; 120 f.: N.s Selbstlegitimation des künftigen Generals). Nicht selten wird der lineare Handlungsstrang durch Vorgriffe – wie etwa auf den Tod des Vaters Gryllos (S. 58 f.) bei der zweiten Vorladung des Thukydides – oder Rückblicke – wie auf den Betrug des Menon an Gryllos (S. 101) – aufgelockert, mitunter erläutern kleinere Wiederholungen (S. 97 m. Anm.191; S. 102 m. Anm. 204). Am Ende hat man sich von N. durch einen authentischen Geschehenszusammenhang samt agierenden Personals führen lassen, welcher die Lebenswege zweier nicht eben unbedeutender scriptores ebenso wie actores soweit als möglich miteinander verknüpft.
Michael P. Schmude, Boppard
aus: FORUM CLASSICUM 57 (2014), S. 171-174.