Zu-H-Baykal-Der-erste-Reporter-Herodot

Zu-H-Baykal-Der-erste-Reporter-Herodot

Hakan Baykal: Der erste Reporter – Herodots Berichte aus aller Welt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft (Primus-Verl.) Darmstadt 2013. 159 S., € 19,90 (ISBN 978-3-86312-040-5).

Um es vorauszuschicken – Hakan Baykal (B.) legt nicht die (wievielte ?) durchgängige wissenschaftliche Monographie über den pater historiae (Cicero) vor, sondern eine geistreich-unterhaltsame wie angenehm lesbare Sammlung journalistischer Essays zu seinem Landsmann und ihm Seelenverwandten, deren Leichtigkeit der Darstellung die Selbstverständlichkeit der gleichsam beiläufig mitgegebenen Einzelinformationen wohl nicht ohne Absicht entspricht.

So zeigt die Einführung in Zeit und Werk (S. 7-14) Herodot als Erzähler von Geschichte wie Fabulierer von Geschichten, als Ethnologen und Geographen, als Biologen und Klimaforscher – als Enzyklopädisten der zu seiner Zeit bekannten Welt und ihrer Phänomene, und immer wieder: ihrer Menschen. Der ‚rote Faden‘, von welchem er ebenso oft ins Anekdotische und Legendenhafte abschweift wie er zu den historischen Fakten zurückkehrt, sind die Auseinandersetzungen zwischen Griechen und dem Perserreich, im Besonderen die Kriege zwischen 490 und 479 v. Chr.

Es ist ein Füllhorn kleiner Einzelbilder, die B. aus ihrer Abfolge im Geschichtswerk seines Kollegen löst und in fünf Themenkreisen – durch Querverweise teils (S. 125, 128, 142, 147) aufeinander bezogen – neu zusammenfaßt, die aber den o.g., weitergehenden Fachgebieten Herodots durchaus angemessen sind: Von Göttern und Menschen (S. 15-48) – Von Völkern und Ländern (S. 49-76) – Von Forschern und Entdeckern (S 77-104) – Vom Feiern und Trauern (S. 105-130) – Von Fürsten und Dienern (S. 131-153). Ein kurzes Verzeichnis allgemeinerer Literatur sozusagen um den Autor herum (S. 159) rundet die bunte Anthologie ab, Textgrundlage ist die Kröner-Übersetzung der Historien von A. Horneffer (Stuttgart 41971). So hören wir von der tranceseligen Reise des Aristeas aus Prokonnesos, Apollons Schamanen (S. 16-21), von der Küste des Marmarameeres ins Innere Asiens, auf der Route einer Seidenstraße, die es (im 7. Jh. v. Chr.) noch lange nicht gab und nahezu 2000 Jahre vor Marco Polo – in der Erzählung des antiken Reporters wie der Machbarkeitsprüfung des modernen, welcher sich hierfür auch auf Fachautoritäten stützt. Geschlechtliche Verbindungen von Mensch und Tier sind auch dem griechischen Mythos nicht fremd, man denke an die kretische Königin Pasiphae und den Minotaurus oder die Spartanerin Leda und ihren Schwan, aber Herodot siedelt seinen ersten Skandal im Rahmen des ägyptischen Logos im östlichen Nildelta an – die Anekdote um den Bock von Mendes (S. 28-33), während eines Aufenthaltes des Autors ebenda und zuvor bereits von Pindar bestätigt, wird aus ägyptologischer und religiöser, aus sexologischer und moderner juristischer Perspektive gedeutet – als Urthema der Menschheit wie auch der Kavallerie des Alten Fritz. Die Beschneidung – nicht Verstümmelung – , von Herodot bei den Ägyptern merklich distanziert beobachtet und mit Hygiene begründet, bei manchen Völkern Aufnahmeritual in die Kriegerklasse, im AT von Jahwe Im Zeichen des Bundes (S. 34-37) als Gesetz schon Abraham aufgegeben, zeigt sich – nicht ohne Schalk beschrieben – über die Verehrung des sanctum praeputium des beschnittenen Messias (Lk) bis in die Neuzeit hinein für B. noch in der tagesaktuellen Diskussion als „gleichsam konstituierendes Element des jüdisch-christlichen Abendlandes“ (S. 35). Rituelle Tötungen, die Herodot den Persern attestiert (S. 38-43 → AT, germanisch-nordische oder mittelamerikanische Praktiken), Tempelprostitution bei den Babyloniern, die er – auch mit einer Prise Süffisanz („Altherrenwitz“) – ausweidet (S. 44-48 → Devadasi in Indien), erweist B. als zeitenübergreifende multikulturelle Phänomene und findet einmal mehr – journalistisch recherchiert – für Beides Beispiele auch im Heute.

Sitten und Bräuche des ägyptischen Pharaonenreiches beschreibt der Ethnograph mittels ihrer völligen Gegensätzlichkeit zu den eigenen, hellenischen Verhältnissen – „Symmetrie im Gegensätzlichen“ als Erzählprinzip (R. Bichler, S. 51), Eigentümliches bis Skurriles, eine Verkehrte Welt (mundus inversus, S. 50-54), die er Mitte des 5. Jh. v. Chr. in Augenschein nimmt, über deren kulturelle Leistungen er seine Leserschaft aber mit Bewunderung und Faszination staunen läßt. Überhaupt ist der antike wie moderne Reporter zum Einen Publizist und Vortragender, welcher sein Publikum finden und unterhalten will, zum Anderen Wissenschaftler und Intellektueller, welcher mit der Darstellung fremdartiger Zustände auch Stellung bezieht zu denen der eigenen Gesellschaft. Und jene findet Herodot bei den barbarischen Völkern am Rande der Oikumene (S. 55-59), das Ideal des ‚edlen Wilden‘ (Aithiopen) ebenso wie eine Rohheit, die sich – abgestuft – vor Allem in Formen von Kannibalismus und sexueller Promiskuität zeige – und für die eigene „Performance“ (B. S. 58) ein dankbares Sujet hergab. Das bedrohliche Eintreten der skythischen Reiternomaden ins Blickfeld der Griechen als Folge einer eurasischen Völkerwanderung im Nordosten, die Diskussion um die kleinasiatische Herkunft der Etrusker im Westen (Herodot – Dionysios von Halikarnaß – Theopomp, S. 60-64), Herodots Unglaube an die Hyperboreer, des Pytheas von Massilia Bericht über Thule im Nordwesten, Platons Atlantis weit westlich der Säulen des Herakles, schließlich die Berührungen Europas mit dem El Dorado im Osten, dem indischen Subkontinent (S. 71-76) umreißen den geographischen Horizont unserer beiden Reporter. B. zeichnet dabei auch das Wiederauftauchen der legendären Inseltrias im Übergang von Renaissance zu Aufklärung nach – mitsamt der kruden Ableitung Nietzsches zu Beginn seines Antichrist und ihrer widerwärtigen Vereinnahmung durch die nationalsozialistische Ariosophie (S. 65-70). Die Landnahme(n) Indiens durch Alexander d. Gr. und römische Händler, über den 2. Kreuzzug (1147-49) und Vasco da Gamas Entdeckung des Seewegs dorthin (1498) bis zum Ende der britischen Kolonialherrschaft 1947 haben den antiken Reporter dann aber bereits weit hinter sich gelassen.

Für den modernen (S. 78-82) sind die Phönizier die ersten und besten unter den Entdeckern zur See: die Expedition im Auftrag des ägyptischen Pharao Necho II (610-594 v. Chr.), nachdem der Durchstich von Rotem ins Mittelmeer gescheitert war und ins 19. Jh. verlegt werden mußte, umschifft laut Herodot Libyen = Afrika Auf großer Fahrt von Osten her, ihre Nachfahren, Punier unter Hanno von Karthago, werden in der Gegenrichtung die Säulen des Herakles hindurch zunächst an Westafrika entlang fahren und immerhin den Golf von Guinea erreichen; auf ihren Landexpeditionen begründen sie Siedlungen und entdecken wilde Völker – Gorillas. Erst Ende 1487 wird mit dem Portugiesen Bartolomëu Diaz wieder ein Seefahrer das Kap der Guten Hoffnung umrunden … An den Quellen des Segens (S. 83-87) spürt die Ursprünge des sagenumwobenen Nil im Gebirge des heutigen Burundi und Ruanda auf – Herodot kommt nur bis zur Insel Elephantine beim ersten Katarakt (und dem modernen Assuan). Die nach Herodot von Pharao Psammetich I im 7. Jh. durch ein Experiment mit Neugeborenen angestoßene und bis heute letztlich erfolglose Suche nach der Ursprache (S. 88-93), die Erfindung der Eisenverhüttung (S. 94-98) im hethitischen Großreich – Herodot führt das Löten von Eisen auf einen Glaukos von Chios (unter dem Lyderkönig Alyattes im 6. Jh. v. Chr.) zurück – , Kryptographie und geheime Botschaften (S. 99-104), ausgehend von Herodots Episode um Histiaios und Aristagoras von Milet als Anstifter des Ionischen Aufstandes und von B. bis ins 20. Jh. weitergeführt, beschließen diesen Reigen von dem Forschergeist antiker wie moderner Zeiten gewidmeten Artikeln, für welche das einleitende Zitat aus den Historien durchweg ‚nur‘ als Ausgangspunkt dient.

Bewußtseinsverändernde Rauschmittel werden von Herodot (Skythen) wie von modernen Konsumenten der Exotik des Nahen und Fernen Orients zugeschrieben, aber B. (S. 106-110) legt ihre lange abendländische Tradition wieder frei. Die bekannte (und sprichwortgebende) Geschichte von der Vertanzten Hochzeit (S. 111-115) am Hofe des Kleisthenes von Sikyon zu Beginn des 6. Jh. v. Chr. gibt B. Gelegenheit zu einer kleinen Kult- und Kulturgeschichte des Tanzes. Und er bleibt weiter im privat-persönlichen Bereich: seinem antiken Kollegen attestiert er eine fast besessene Neugier an zwei gesellschaftlichen Urphänomenen – der Sexualität und dem Umgang mit Tod und Toten, die diesem auch als Gradmesser des Zivilisationsstandes der beschriebenen Völker – sei es der nomadischen Massageten nördlich des Kaspischen Meeres, sei es der bewunderten Ägypter vergleichsweise ‚vor der Haustür‘ – dienen, und speist einmal mehr auch hier Beispiele aus unserer Gegenwart mit ein (S. 116-125). Herausgehoben die Bestattungsriten der Skythen (S. 126-130), Vorboten der ‚Gefahr aus dem Osten‘ kommender Jahrhunderte (Hunnen, Mongolen, Türken), und auch hier wird der detaillierte Autopsie-Bericht (IV 81) des Reporters durch die von B. zitierte moderne Wissenschaft bestätigt – es sind merklich die ethnographischen Partien aus Herodots Geschichtswerk, denen B. mit Vorliebe die Blüten für seinen Kranz entnimmt.

Stärker historisch ausgerichtet der letzte; nur lose an Herodot anknüpfend (S. 132-137) über Formen antiker (namentlich römischer) wie moderner Sklaverei: der sagenhafte Prunk des persischen schahan schah, Organisation und Infrastruktur des Achaimenidenreiches, militärische Rüstung – Hybris am Beginn der Niederlage, bei Kroisos, Xerxes und Reza Pahlevi (S. 138-143). Das wahnsinnige Wüten des Jüngeren Kambyses unter den Einwohnern des ägyptischen Memphis wie in seiner eigenen Familie, nicht – wie Herodot erklärt – aufgrund von Epilepsie (S. 144-147), der aussichtslose Kampf der 300 (tatsächlich etwa 1000) bei den Thermopylen 480 v. Chr., nicht kriegsentscheidend, aber mythenbildend (S. 148-152), zuletzt die Begründung des Kulturkampfes zwischen hellenischem (demokratischem) Okzident und dem (despotischen) Orient der Barbarenvölker (S. 153-157) in den Frauenraub-Sagen durch unseren Reporter aus Halikarnaß sowie seine fragwürdige Stilisierung zum Ost-West-Konflikt in Generationen nach einem Aischylos (Perser) oder Herodot runden die Sammlung ab.

Ein Buch, das man – einmal mit der Lektüre begonnen – nicht ohne Weiteres wieder zur Seite legt: unangestrengt kenntnisreich, auf unterhaltsame Weise historisch, geographisch, ethnologisch informativ, durchgängig auch im Rückgriff auf die fachwissenschaftliche Diskussion – feuilletonistische Essays im besten Sinne, mitunter den Leser direkt ansprechend (S. 75, 104, 120) oder sympathisch Anteil nehmend (S. 41, 70, 121). Eine Werbung für einen antiken Autor, gerichtet zumal an Diejenigen, welche ihn – wie B. (S. 8 f.) – nicht in Schule oder Universität kennenlernen konnten oder wollten.

Michael P. Schmude, Lahnstein

 

aus: FORUM CLASSICUM 57 (2014), S. 78-80.

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