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Der-Mensch-von-Prometheus-bis-Sartre

Der-Mensch-von-Prometheus-bis-Sartre

Der Mensch – von Prometheus bis Sartre:

ein philosophischer Par-Cours*

von  Michael P. Schmude,  Boppard / Vallendar

in: Lingue antiche e moderne 2 (2013), S. 79-104

 

0. ABSTRACT

Der Mensch – Mängelwesen oder Krone der Schöpfung ? Die Diskussion, ob der Mensch aufgrund der Unzulänglichkeiten des einzelnen Individuums zur Bildung von Gemeinschaften gezwungen oder als Zṓon politikón dazu schlichtweg veranlagt ist, reicht bis in die Antike zurück (Platon – Aristoteles – Cicero), zieht sich aber als offene Frage durch die Geschichte der Philosophie bis in die heutige Zeit. „Der Mensch ist das Maß aller Dinge“ (Protagoras) – als Ebenbild Gottes mit der Aufgabe betraut, sich die Erde untertan zu machen, zeigt er jedoch vornehmlich seine Wolfsnatur (Hobbes) gegenüber Seinesgleichen; diese in ein stützendes Gerüst an Regeln und Konventionen einzubetten, wird zur zentralen Aufgabe des aufgeklärten Staates (Locke), der “kategorische Imperativ“ Kants greift die “Goldene Regel“ der Bergpredigt wieder auf. „Zurück zur Natur“ (Rousseau) gerade nicht – seine vermeintliche Schwäche, mit keiner speziellen Fähigkeiten ausgestattet in einer bestimmten natürlichen Umwelt nicht überlebensfähig zu sein, kehrt der Mensch in die Stärke um, sich jede Natur als Kultur zurecht zu machen (Gehlen). Für Nietzsche wie für Freud engen allerdings gerade die kulturellen Normen die Selbstbestimmtheit des ursprünglichen Menschen ein. Zugleich stellt sich seit dem Humanismus des Quattrocento die Frage nach der Verantwortlichkeit des Menschen für die Ausgestaltung seiner Eigenart wie seines Lebens (Pico della Mirandola), welche im 20. Jahrhundert vom Existentialismus eines Jean Paul Sartre eindeutig und konsequent beantwortet wird: “der Mensch ist nichts Anderes als wozu er sich macht“, er ist zur Freiheit in Verantwortung verurteilt.

 

  1. DER MENSCH – EIN MÄNGELWESEN ?

Die Menschen gehen ihres Weges und bewundern die Gipfel der Berge, die ungeheure Flut des Meeres, das Abwärtsgleiten der breiten Ströme, den Ozean in seiner Unermeßlichkeit und die Kreisbahnen der Sterne ‑ von sich selbst jedoch entfernen sie sich mehr und mehr“ ‑ so der italienische Dichter und Humanist Francesco Petrarca im 14. Jh. in einem Brief an Freunde[1] ‑ wer oder was ist der Mensch ?

Diese Frage, in der Vorhalle des Apollontempels zu Delphi als Gebot formuliert ‑ das bekannte “gnṓthi seautón / erkenne Dich selbst“ der Sieben Weisen[2] ‑, bewegt die spekulierenden Geister der Jahrhunderte ‑ im besten Sinne des Wortes speculari als umherschauen, erforschen, beobachten. Aus der Frage nach der Ordnung der physikalischen Welt, dem Kosmos, die von den vorsokratischen Naturphilosophen des östlichen Mittelmeeres, von Thales v. Milet, von Pythagoras u.a., seit dem 7. vorchristlichen Jahrhundert aufgeworfen wurde, hatte sich die weitergehende nach der Entstehung menschlicher Gemeinschaft und Kultur ergeben. Wir denken aber auch an den thrakischen Sklaven und lebensklugen Schöpfer der Fabel Aesop aus dem 6. Jh. v.Chr. sowie an den Kyniker Diogenes ‑ den in der Tonne ‑ , wie er im Athen des 4. Jahrhunderts in Diensten desselben Delphischen Apoll am hellichten Tag mit einer Lampe umherläuft, um nach einem Menschen zu suchen[3].

Es war einst eine Zeit, wo es Götter zwar gab, sterbliche Geschlechter aber gab es noch nicht …“ beginnt ein Mythos, welchen Platon den Sophisten Protagoras vortragen läßt[4]: Danach bildeten die Götter die Lebewesen zur vorherbestimmten Zeit im Erdinnern aus einem Gemenge von Erde und Feuer und beauftragten das Brüderpaar Prometheus und Epimetheus ‑ den Vorherdenker und den Nachherdenker ‑ , diese ans Licht der Welt zu befördern und mit den hierfür erforderlichen Wesensanlagen auszustatten. Es gelang dem Epimetheus, seinen Bruder zu beschwatzen, ihm diese Aufgabe alleine zu überlassen, und so machte er sich ans Werk.

Er legte dabei zunächst auch einen erstaunlichen Verstand an den Tag: welchen er Stärke zugeteilt hatte, die bedurften nicht besonderer Schnelligkeit, mit dieser hingegen versah er die Schwachen und Kleinen, dazu mit Flügeln oder unterirdischer Behausung. Er vergab Felle gegen Hitze wie Kälte, Hufe und Klauen, wies den verschiedenen Arten verschiedene Formen der Ernährung zu, den einen Kräuter und Früchte, den anderen das Fleisch anderer Tiere; die Räuber begrenzte er in ihrer Vermehrung, während er der Beute durch entsprechende Zeugungskraft den Bestand ihrer Gattung sicherte …

Doch jetzt hatte er ein Problem: nach seiner auf den ersten Blick so umsichtigen Verteilung war nichts mehr für das letzte der sterblichen Geschlechter übriggeblieben, den Menschen. Als der Bruder Prometheus hinzukam und die Bescherung sah, wußte er nur noch dadurch Abhilfe zu schaffen, daß er der Athene die Handwerke und dem Hephaistos das Feuer stahl und den Menschen brachte; bekanntlich hat Zeus ihm dies niemals verziehen und ihn zur Strafe an eine Felswand schmieden lassen – die Tragödie nahm sich des Gefesselten Prometheus an, und es sollte eines Herakles bedürfen[5], um ihn später aus dieser wenig befriedigenden Lage zu befreien. Wie anders hiergegen – und in Abwandlung auch der hesiodeischen Vorlage[6] – der Prometheus, den nahezu 2200 Jahre später (1785) J.W. Goethe in Enttäuschung und grenzenloser Verachtung vom “Göttervater“ sich verabschieden läßt “… hier sitze ich, forme Menschen nach meinem Bilde, ein Geschlecht, das mir gleich sei, zu leiden, weinen, genießen und zu freuen sich, und Dein nicht zu achten – wie ich[7].

Der Mensch als Mängelwesen, ein Stiefkind der Natur ‑ weniger behende als die geflügelten Schwachen, den Starken unter den tierischen Geschlechtern an Kraft unterlegen und auch in seiner Vermehrung nicht unerheblichen individuellen Schwankungen unterworfen ‑ ist das der Mensch, von welchem der gleiche Protagoras den berühmt-berüchtigten Homo-mensura-Satz prägen sollte: “Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der Seienden, daß sie sind, der nicht-Seienden, daß sie nicht sind[8] ?

Platon hat die Unzulänglichkeiten des Einzelmenschen zum Beweggrund für den Zusammenschluß zu sozialen Gemeinschaften gemacht: die bürgerliche, die politische Fertigkeit hatte Prometheus freilich nicht stehlen können, die verwahrte Zeus einstweilen noch persönlich. In der Politeía sodann, Platons Staatsmodell, ergänzen sich die Menschen mit jeweils derjenigen Fähigkeit, die jeder Einzelne zur allgemeinen Bedürfnisbefriedigung beitragen kann[9]: der Bauer stellt seinen Pflug nicht selbst her, auch der Arzt benötigt Schuhwerk, und der Kaufmann wird von Kopf- oder Bauchschmerzen geplagt. Allerdings bedarf es als ordnenden Elementes auch hier noch eines allgemeinen Rechtsempfindens: in Analogie der gesellschaftlichen Gruppen des organismusartigen Staates zur Dreiteilung der menschlichen Einzelseele und über eine Harmonie des vernunftbegabten und herrschenden Teiles mit dem triebgesteuerten, befördert durch das Muthaft-Beseelte, verwirklicht sich dieses für Individuum wie Gemeinwesen letztlich darin, daß Jeder seinen Platz im Gefüge nach Anlage und Erziehung ein- und annimmt und dort “das Seine tut – ta heautoú práttei“[10].

Entsprechend platonisch wird im christlichen Hochmittelalter der Dominikanermönch und “Fürst aller Scholastiker“ Thomas von Aquin (1225-1274) den vernunftbegabten Menschen (gipfelnd in der Gestalt des Königs) denn auch als irdisches Pendant zum Weltenlenker Gott, aber auch zur Vernunft als herrschendem Teil der Seele setzen und mit der aristotelischen Auffassung vom staatenbildenden Wesen verbinden[11]. Zugleich erweitert er dessen Endziel eines gerechten Lebens in der Gesellschaft um das höhere der Anschauung Gottes und hierin um die Ideenschau des Weisen nach Platon, zu welchem der Mensch aber nicht mehr vom weltlichen, sondern nur noch vom himmlichen Königtum des Stellvertreters Christi auf Erden geführt werden kann – und zwar die gesamte Gemeinde der Kinder Gottes und nicht nur eine kleine Philosophen-Elite.

Aristoteles prägt den Begriff vom Menschen als Zṓon politikón[12], welcher später insbesondere für die Stoa[13] maßgebend wurde, und sieht die – präexistente und selbstgenügsame (autarke) – staatliche Gemeinschaft als die naturgegebene Bestimmung des Menschen und das “gute“ Leben nach den Tugenden der goldenen Mitte (mesótēs), namentlich der staatsbürgerlichen (aretḗ politikḗ)[14], als deren Ziel: wie Cicero es nach ihm formulieren sollte, sei Grund für das Zusammengehen nicht so sehr die Schwäche und Wehrlosigkeit des Einzelnen als vielmehr ein gleichsam natürlicher Trieb des Menschen zur Geselligkeit, der Einsiedelei seinem Wesen nach scheue[15].

Es war Epikur, der Vielbemühte und meist Geschmähte, welcher beiden Vorstellungen, die zuvor schon nicht scharf voneinander zu trennen waren, in seinen Kulturphasen Rechnung trug ‑ soweit wir dies jedenfalls aus der dichterischen Kulturentstehungslehre seines römischen Schülers und etwas jüngeren Zeitgenossen Ciceros, Lukrez[16], ersehen können: während zunächst einmal die äußeren, natürlichen Umstände auf den Menschen Zwang ausüben, sind erst in einem zweiten Schritt menschlicher Verstand und Überlegung Triebkräfte einer sozialen und kulturellen Entwicklung.

 

  1. DER MENSCH – KRONE DER SCHÖPFUNG ?

Kehren wir zurück zum Homo-mensura-Satz des Sophisten: wenn der Mensch das Maß ist ‑ wer setzt ihm das Maß, wer gibt ihm die Norm, wer zeigt ihm seine Grenze ? Wo bleibt für ihn dann der Gott, die Ordnung über ihm ?

Als den Menschen die Erde nicht mehr genügte, bauten sie einen Turm, um in den Himmel zu gelangen, und als die chaotischen Giganten die Ordnung der Götter umstürzen wollten, türmten sie Berge gegen den Olymp auf ‑ wie es den Einen erging, erzählt uns das Alte Testament[17], was den Anderen blühte, ist am Pergamon-Altar auf der Berliner Museumsinsel zu besichtigen. Doch nirgendwo wird der Mensch in seiner vermeintlichen Stärke und Souveränität so unerbittlich in seine Schranken gewiesen wie in den Über-Menschen der Attischen Tragödie: von Kreon, dem Herrscher über Theben, welcher sich in Staatsraison wider alle Menschlichkeit versteigt, bis zum (gleichfalls sophokleischen) Meisterdetektiv Ödipus in seiner intellektuellen, aber hybriden Brillianz, mit welcher er schon das Menschenrätsel der Sphinx gelöst und diese in Verzweiflung gestürzt hatte[18]: zerschlagen, weil sie das ihnen ‑ eben doch ! ‑ gesetzte Maß überschritten haben. Nur einer will zum tragischen Helden nicht recht taugen: es ist der vielduldende Odysseus (jedenfalls der jüngeren homerischen Dichtung), der listenreiche, der um seine Schwächen weiß und schlau seine Stärken ausspielt ‑ und überlebt.

Ungeheuer ist viel, doch nichts ungeheurer als der Mensch – er durchschreitet das Meer im Wintersturm, er müht die Erde mit kreisendem Pflug im Wechsel der Jahre, jagt das flüchtige Geschlecht der Vögel, bezwingt mit List das bergbeschreitende Wild, herrscht, hat Rede und Gedanken erlernt und staatenlenkende Sinnesart ‑ nur dem Ort der Toten zu entgehen, das hat er nicht erlangt; an Geschick und List über Verhoffen begabt schreitet er bald zum Übel, bald zum Edlen hin …“ – in diesem Sinne läßt Sophokles den Chor der Antigone sich vor deren Artgenossen verwahren[19]: was hatte man sich nicht Alles untereinander angetan, stets mit gutem Grund, mit tragischer Notwendigkeit ‑ der Bruder den Bruder von Stadt und Herrschaft ferngehalten, der wiederum die Vaterstadt mit einem fremden Heer angegriffen und belagert, die Brüder sich schließlich im Zweikampf gegenseitig getötet, doch nur einer durfte bestattet werden, der Leichnam des anderen sollte Hunden und Vögeln zum Fraß dienen, die Schwester, die das Bestattungsverbot übertreten hatte (“Nicht mitzuhasssen, mitzulieben bin ich geboren[20]), sah der Todesstrafe entgegen, ihr Verlobter, Sohn desjenigen, welcher Verbot wie Strafe erlassen hatte, beging darum Selbstmord, seine Mutter folgte ihm darin ‑ eine Familie, ein Katalog von Leichen ‑ der Mensch dem Menschen Wolf ‑ homo homini lupus …

Versöhnlicher ist nur die Komödie: “… ich bin Mensch, nichts Menschliches ist mir fremd – homo sum: humani nil a me alienum puto“ ‑ mit diesem Bekenntnis läßt der Afrikaner Terenz ‑ nach einer hellenistischen Vorlage ‑ im 2. Jh. v. Chr. eine seiner Figuren sich selbst charakterisieren[21]: aber welcher Mensch ist hier gemeint ‑ der Mensch als Mängelwesen oder der Mensch als Krone der Schöpfung ? Die beiden Quellenschriften zur alttestamentlichen Genesis, der (ältere) Jahwist[22] wie die (jüngere) Priesterschrift[23] sehen in ihm Mittel- bzw. Höhepunkt der Welterschaffung, ausgestattet mit einer Art Freifahrtschein, sich diese untertan zu machen, könnte man meinen.

Doch bekanntlich behagte das Prunkstück auch seinem Erschaffer immer weniger, je weiter und breiter es sich machte, bis er schließlich die Große Flut schickte, um “klar Schiff“ für einen neuen Anlauf zu bekommen[24]; bei dem Griechen Hesiod (um 7oo vor) wie bei dem Römer Ovid einige Jahre nach Christi Geburt wird dies über die Deszendenz der Menschengeschlechter hinweg vom Goldenen bis zum Eisernen Zeitalter nötig[25]: übrigens ist diese Vorstellung vom Mißraten des ersten Schöpfungsversuches ein gemeinsames Grundmuster menschlichen Denkens, denn in den Aufzeichnungen verschiedener Kulturvölker mit Schöpfungsberichten, von den Indianern Nordamerikas bis zu den Einwohnern des Zweistromlandes, bedarf es (ungeachtet der jeweiligen Eignung ihrer historischen Landschaft für derlei Katastrophen) einer Sintflut, um das Mißlingen der Schöpfung noch einmal zu korrigieren – und der Sintfluthelden[26] wie eines Utnapištim im Gilgamesh-Epos oder des sumerischen Ziusuthra bzw. akkadischen Atra(m)hasis, seines jahwistisch-elohistischen Nachfolgers Noah oder des griechischen Paares Deukalion, Sohn des Prometheus und Pyrrha, Tochter des Epimetheus und der ersten Frau Pandora[27], um den Neuanfang zu bewerkstelligen.

Nun ist dies natürlich kein beliebig wiederholbares Verfahren, und welcher Weg beschritten werden sollte, als auch der zweite Versuch mit der “Krone der Schöpfung“ danebengeriet, findet sich im Neuen Testament gleich mehrfach aufgezeichnet ‑ ihren Mängeln war indes mit Verbesserungsvorschlägen nicht mehr beizukommen, da half nur noch Vergebung statt Strafe. Der Mensch, nach dem babylonisch-akkadischen Enuma Elisch (“Als droben …“) vom Wassergott Ea aus Götterblut geschaffen zu deren Verehrung[28], nach einem ostafrikanischen Mythos König[29], einem indianischen Verkörperung der Erde[30] – er sitzt längst schon im Dunkel des Jammertals.

 

  1. HOMO UND HUMANISMUS

Es ist der Humanismus, welcher den Menschen wieder in den Mittelpunkt rückt, nach den Möglichkeiten seiner eigenständigen Entfaltung wie nach seiner Daseinsbestimmung als Individuum fragt. Insbesondere der Renaissancehumanismus im Florenz des Quattrocento, im 15. und 16. Jahrhundert, stellt mit der Wiederentdeckung der Klassischen Texte der alten Griechen auch deren zentrale Frage nach der Eigenart des Menschen in den Vordergrund: hatte Cicero[31] die Wahrnehmung der vier Kardinaltugenden Gerechtigkeit, Erkenntnis(drang) und Weisheit, Tapferkeit sowie besonnenes Maßhalten an seiner alleinigen Fähigkeit zur Erkenntnis als unterscheidend-qualifizierendem Merkmal (homo rationis est particeps) verankert, so bestimmte der Stoiker und Prinzenerzieher Neros, Seneca d. J. mittels eines Syllogismus die Daseinserfüllung , das suum des Menschen – in ausdrücklicher Abgrenzung zum maximum – mit der ratio: “Quid est in homine proprium ? Ratio: Was ist im Menschen das Eigene ? Die Vernunft: diese hat auf rechte und vollkommene Weise das Glück des Menschen erfüllt. Wenn also eine jede Sache dann, wenn sie ihr Gutes vollendet hat, lobenswert ist und ans Ziel ihrer Natur gelangt ist, für den Menschen aber sein Gutes die Vernunft ist: (dann,) wenn er diese vollendet hat, ist er zu loben und hat das Ziel seiner Natur erreicht – si hanc perfecit, laudabilis est et finem naturae suae tetigit[32].

Für Pico della Mirandola (1486) hat der optimus opifex, der beste Bildner, den Menschen in den Mittelpunkt der Welt gestellt aufgrund seines freien Willens (arbitrium), sich den Platz, die Form, die Fertigkeiten zu geben, welche auch immer er sich wünscht, während die übrigen Lebewesen in gesetzte, vom Schöpfer vorgegebene Grenzen eingebettet seien: “nec certam sedem nec propriam faciem nec munus ullum peculiare tibi dedimus, o Adam, ut, quam sedem, quam faciem, quae munera tute optaveris, ea pro voto, pro tua sententia habeas et possideas. Definita ceteris natura intra praescriptas a nobis leges coercetur. Tu nullis angustiis coercitus pro tuo arbitrio, in cuius manu te posui, tibi illam praefinies. Medium te mundi posui …[33]. Und der “König der Humanisten“ Erasmus von Rotterdam sieht im Mängelwesen Mensch (inermis et imbecillus), zum wechselseitigen Zusammenhalt gezwungen (necessitas docuit societatem), welchem aber alleine von den übrigen Lebewesen die Kraft der ratio eingegeben sei (uni homini indita vis rationis), diese gemeinsame Veranlagung als Grundlage einerseits für Bildung und Tugenden, andererseits für Milde, Friedensliebe sowie gegenseitiges Wohlwollen untereinander und damit als eigentliche humanitas – dem Skeptiker René Descartes wird mehr als ein Jahrhundert später diese Fähigkeit des Denkens zum Ausgangspunkt des Bewusstseins und der Vergewisserung Seiner selbst und damit erst zur Basis jeglichen gesicherten Wissens werden, das berühmte je pense, donc je suis (cogito, ergo sum) seines Discours de la Méthode> von 1637[34].

Litterae und prudentia erhebt der spanische Humanist und Hofchronist Karls V., Juan Ginés de Sepúlveda im Streitgespräch mit dem Dominikanermönch Bartolomé de Las Casas 1550 in Valladolid über den Umgang mit den Indiovölkern Südamerikas zu Hauptkriterien einer moralisch-kulturellen Überlegenheit des christlichen Europa[35] – eine fragwürdige Einengung indes und von dem späteren Bischof von Guatemala entschieden zurückgewiesen[36], der neben den zivilisatorisch-institutionellen (res publicae … civitates … leges, quae … Athenarum sapientibus admirationi esse possent) sowie den technisch-künstlerischen (mechanicae cuiusque artisplumā et acu pictă operă) gerade die Artes Liberales (wie Grammatik und Logik, Musik, Kalligraphie) als Kennzeichen der eingeborenen Humanitas herausstellt.

Findet der Mensch Ziel und seine Bestimmung im Gemeinwesen (Aristoteles) und wird durch dieses selbst gerecht, während er bei Platon im Staat aufgeht, das Seine tut und diesen damit gerecht macht – also in gewisser Weise und letztlich für diesen da ist – , wird der Mensch noch im Mittelalter weiterhin und selbstverständlich vom Staat her gedacht (so zuletzt bei Thomas von Aquin, s.o.), sieht sich als “a priori – Mitglied“ mit fest zugewiesenem Platz in einer organischen Gemeinschaft, einem “Staatskörper“, dargestellt durch den Herrscher als Summe seiner Glieder, so tritt er im Übergang zur Neuzeit und in den Staatskonzeptionen von Renaissance und Aufklärung zunehmend als Individuum heraus und dem Staat als noch zu begründender Organisation und Apparat gegenüber: Ausgangspunkt ist nicht mehr die Polis, die staatliche Gemeinschaft, sondern die einzelne Person der bürgerlichen Gesellschaft.

Es stellt sich die Frage nach dem Spannungsverhältnis zwischen dem Menschen als Einzelwesen im Gemeinwesen und der Autorität des Staates, und die findet in der egalitären Städteverfassung auf der Insel “Utopia“ des Thomas Morus (1516)[37], Elemente der Polistradition platonischer Zeit gleichwohl aus der Ferne weiterführend, oder (im gleichen Jahr) in der Institutio principis christiani des Erasmus von Rotterdam an Kaiser Karl V. eine völlig gegenläufige Antwort zu derjenigen ihres Zeitgenossen Nicolo Machiavelli und dessen Handreichung für den skrupellosen Machtpolitiker vom Schlage eines Cesare Borgia (1475-1507), schillernden Renaissancefürsten, Sohn des berüchtigtsten Papstes der Kirchengeschichte (Alexander VI.) und Bruder der Lucrezia, zum Principe (1513), für den durchzusetzende politische Interessen als Zweck jedes Mittel gegenüber Konkurrenten wie Untertanen heiligen: in Morus‘ Entwurf ist der Bürger eingebettet in eine autarke Einheitsgesellschaft, die im gemeinsamen Dienst auf dem Feld und arbeitsteiligen im Handwerk (samt lebenslanger Geistesbildung) mit der Abwesenheit von Privateigentum und mit wechselseitiger Fürsorge auch die Not zum Verbrechen “abgeschafft“ hat. Erasmus empfiehlt seinen Fürsten – geistlichen wie weltlichen – aus einem milden und liebenswürdigen Wesen, einem ruhigen und besonnenen Gemüt (indoles animi mansueta placidaque) heraus, welches für Mahnung und Rat offen, aber nicht verführbar gegenüber jedwedes Beliebigen Willkür sei, beim Regieren stets das Wohl der Allgemeinheit (publicam commoditatem) zu bedenken, fernab aller persönlichen Gefühle (procul ablegatis privatis affectibus), und nach gemeinsamer Planung für das Allgemeinwohl zu handeln (communi consilio commune negotium agere), wodurch zugleich Jedes eigene Güter befördert würden (etiam eă quae cuique privată sunt, magis florerent)[38].

In der von Morus neubegründeten Linie utopischer Staatsentwürfe folgt auch der theokratisch-sozialistische Sonnenstaat “Città del Sole“ (1623) des Thommaso Campanella dem Grundsatz “Allgemeinwohl vor Einzelwohl“, sichert die innere Eintracht durch Gütergemeinschaft mit Tauschhandel, Einheitspädagogik und Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie Mitwirkung Aller an der politischen Debatte. Die “Nova Atlantis“ (1624/27) des Francis Bacon, eine hierarchisch gegliederte Monarchie (mit beigeordnetem Senat) “bettet“ den Menschen in eine patriarchalisch strukturierte Gesellschaft mit ausgeprägter Sittenstrenge ein und leistet sich als Staat im Staat das “Haus Salomons“ oder “Kollegium der Sechs Tage“, mit dem Ziel, Wirkursachen, verborgene Kräfte und Bewegungen, also das Wesen der Natur zu erkennen und die menschliche Herrschaft bis an die Grenze des überhaupt Möglichen zu erweitern – wissenschaftliche Forschung und Fortschritt mithin als humanitäre Anliegen. Zur Antiutopie gerät schließlich 1948 der “Große Bruder“ George Orwells, welcher in der Parteidiktatur des totalitären Überwachungsstaates “1984“ durch ganzheitliche Gedankenkontrolle jegliche Individualität ausschaltet; ein ständiger Scheinkrieg der drei (ideologisch gleich strukturierten) Supermächte Ozeanien, Eurasien und Ostasien dient als Alibi für staatliche Gewaltmaßnahmen im Innern zur völligen Unterwerfung des Einzelnen.

 

  1. HOMO HOMINI LUPUS ?

Vor dem Hintergrund des Bürgerkrieges zwischen dem englischen König Karl I. und dem Parlament in London 1642-1648 läßt Thomas Hobbes, der Begründer der modernen Staatsphilosophie, die Menschen einen Jeden mit Jedem vertraglich übereinkommen, seine Macht und Stärke dem Staat als einem Einzigen zu überantworten und sich danach selbst als Autor aller Maßnahmen und Handlungen ebendieses Souveräns zu sehen: einen solchen Zusammenschluß verkörpert das biblische Ungeheuer “Leviathan“ (1651)[39], der sterbliche Gott als Schutz gegen die Wolfsnatur des ursprünglich bösen Menschen, um durch das staatliche Monopol legitimer physischer Gewalt dem elenden Krieg Aller gegen Alle aus der wechselseitigen Furcht im Naturzustand zu entkommen. Der natürliche, damit unbedingt und kritikfrei berechtigte Selbsterhaltungstrieb des freien Menschen kennt kein Gut oder Böse, kein Unrecht; die Selbsterhaltung aber ist nur gesichert durch Vernichtung oder Macht über den Anderen, so daß der Kampf Jedes gegen Jeden – aus den naturgegebenen Hauptursachen Wettstreben, Argwohn oder Ruhmsucht – einzig durch den Zwang einer in Regeln und Gesetzen verfaßten Gesellschaft geordnet und eingeschränkt werden kann, den Staat. Dabei ist Gerechtigkeit für Hobbes keine Naturanlage – sie zeigt sich beim Menschen allein in der Gesellschaft. Diese Auffassung vom natürlichen Wesen des homo lupinus wird im Folgenden freilich auf entschiedenen Widerspruch insbesondere anarchistischer und marxistischer Entwürfe treffen: für sie wird Hobbes‘ ursprünglicher Krieger gerade erst von seiner Zeit und sozialem Umfeld hervorgebracht und geprägt …

Durchaus positiver das Bild vom freien, aber nicht zügellosen, vielmehr von Natur aus vernunftbelehrten und ihrem Gesetz nach wechselseitig gleichen wie unabhängigen Menschen bei John Locke und den liberalen Staatstheoretikern der Aufklärung, welchen zumal der Schutz des Individuums auch gegenüber einem allmächtigen oder willkürlichen Staatsapparat angelegen ist. In seiner Schrift Über die Regierung (1690) formuliert Locke deshalb als Hauptziel eines staatlichen Zusammenschlusses von Menschen, die sich mehrheitlich eben doch nicht streng an Billigkeit und Gerechtigkeit halten und darum im natürlichen Zustand ebenso wenig Sicherheit wie fortwährende Übergriffe zu gewärtigen haben, die gegenseitige Erhaltung ihres Lebens, ihrer Freiheiten und Güter, allgemein ihres Eigentums, garantiert durch eine Gewalt, deren Teilung in Legislative, Judikative sowie Exekutive (mit geregeltem Strafmonopol) hier bereits angelegt ist[40] – Charles de Montesquieu wird im Frankreich der Mitte des 18. Jh. dieses Prinzip für das moderne Verfassungsverständnis systematisieren[41].

Gänzlich entgegengesetzt Jean-Jacques Rousseau: der Mensch von Natur aus gut – zu Beginn das ideale Tier, ein Einzelwesen, verkommt er in dem Maße, wie sein Leben mit dem seiner Artgenossen in Gefühl, Eigentum und wechselseitiger Hilfe verflochten wird, er die natürliche Unabhängigkeit verliert. Seine Zivilisierung weg von unverdorbenen Instinkten hinein in die körperlichen Krankheiten und sozialen Verwerfungen der bürgerlichen Gesellschaft ist ein steter Weg bergab und diese selbstverschuldete “Depravierung“ des guten Wilden nur durch einen “Contrat social“ (1762) aufzufangen, welcher in der “völligen Entäußerung jedes Mitgliedes mit allen seinen Rechten an das Gemeinwesen als Ganzes“ durchaus an Hobbes erinnert, wie sein Autor sich an anderer Stelle (1755) von diesem ausdrücklich abgesetzt, nicht zuletzt eine Vielzahl von Leidenschaften, welche der wilde Mensch bei Hobbes zu befriedigen trachte, als Werke erst der Zivilisation bestimmt hatte[42]: der Gesellschaftsvertrag überführt im Zusammenschluß Aller die natürliche Freiheit der einzelnen in die auf Vertrag beruhende Freiheit der öffentlichen Person, schafft ihr gemeinschaftliches Ich als sittliche Gesamtkörperschaft, welche als Volkssouverän unveräußerlich und keinem Herrn unterworfen den Gemeinwillen ausübt – deutlich dabei die Distanz Rousseaus zu Gewaltenteilung und repräsentativer Demokratie. Aus der natürlichen Freiheit, beschränkt allein in der Stärke des Individuums, mit Besitz infolge dieser Stärke und erster Inbesitznahme, wird die bürgerliche Freiheit, begrenzt durch den Gemeinwillen, mit Eigentum auf der Grundlage eines ausdrücklichen Titels, schließlich die sittliche Freiheit einer Überwindung des reinen Begehrens als Gehorsam gegen das selbstgegebene Gesetz.

 

  1. DER MENSCH – SELBSTBESTIMMT VERANTWORTLICH

In Immanuel Kants Metaphysik der Sitten (1797/98) steht der völligen Abwesenheit eines Naturrechts bei Hobbes, welches bei Locke immerhin traditionell teleologisch abgeleitet wird im Verweis auf ein der Vernunft (und dem Auftrag Gottes → Thomas von Aquin) entspringendes natürliches Gesetz, die Begründung einer Menschenwürde als ursprüngliches Rechtsprinzip und Maßstab für das positive staatliche Recht gegenüber, welche sich a priori aus der Freiheit jedes Gliedes der Gemeinschaft als Menschen, der Gleichheit desselben mit jedem anderen als Untertan und der Selbständigkeit jedes Gliedes der Gemeinschaft als Bürgers zusammensetzt, formuliert im kategorischen Imperativ des Rechts: “Handle äußerlich so, daß der freie Gebrauch Deiner Willkür mit der Freiheit von Jedermann nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann“[43]. Aus der sittlichen Autonomie des in seiner Willkürfreiheit vernünftig und rechtmäßig entscheidenden und darin an der allgemeinen moralischen Gesetzgebung teilhabenden Menschen erwächst diesem seine absolute Würde, welche ihn zugleich nach der “Menschheitszweckformel“ des kategorischen Imperativs als “Wert an sich“, als Zweck an sich selbst und nie bloß als Mittel zu einem anderen Zweck stellt. Andererseits liege indes die Unsicherheit der Menschen wie Völker gegenüber wechselseitiger Bedrohung voreinander “aus jedes seinem eigenen Recht, zu tun, was ihm recht und gut dünkt“, nicht etwa in der Erfahrung ihrer Gewalttätigkeit und Bösartigkeit (← Hobbes) begründet, sondern a priori in der Vernunftidee des nicht-rechtlichen Naturzustandes: dieser sei, wenngleich kein Zustand der Ungerechtigkeit, so doch ein Zustand der Rechtlosigkeit und der Mensch gehalten, in einen bürgerlichen Zustand miteinander zu treten, dessen äußere Macht und Sanktion Jedem das Seine vor denjenigen, mit welchen “in Wechselwirkung zu geraten er nicht vermeiden kann“ gesetzlich anerkennt und sichert (← Locke) – der Staat legitimiert sich mittels der Garantie des Rechts[44].

Rousseaus “volonté générale“, in welcher individueller und allgemeiner Wille zusammenfallen, wird in den Grundlinien der Philosophie des Rechts (1820) G.W.F. Hegels kritisch aufgegriffen, insofern dessen Gemeinwille am Ende doch lediglich auf der Verallgemeinerung von Einzelwillen gründe. Hegel sieht (wie Platon) den Staat als vernünftiges Ziel für den Bürger, welcher (anders als Platon) diesen zugleich als Individuum berücksichtigt. Das wird in einem ersten Dreischritt konstituiert aus abstraktem Recht – äußere Freiheit und positives Recht – , Moralität – Willensfreiheit und innere Freiheit des Subjekts, ausgerichtet an Gewissen und selbstgesetzter Moral – sowie Sittlichkeit, der Einheit des objektiv und des subjektiv Guten, des Rechts und des Gewissens, in welcher sich das subjektive Wollen aus freier Einsicht an die vernünftige Ordnung einer Gemeinschaft bindet und der homo politicus, der polítēs in wirklicher Freiheit bewußt in ihr und an ihr mitarbeitet. Eine solche Idee der Sittlichkeit verwirklicht Hegel in einem zweiten Dreischritt: die Wahrnehmung des Allgemeininteresses gegenüber den Einzelinteressen der bürgerlichen Gesellschaft gleicht sich im Staat aus mit der “Vereinigung des Prinzips der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft; dieselbe Einheit, die in der Familie das Gefühl der Liebe ist, ist sein Wesen, welches aber zugleich durch das zweite Prinzip des wissenden und aus sich tätigen Wollens die Form gewußter Allgemeinheit erhält“ – der Staat als “sterblicher Gott“ (← Hobbes) eine Kombination von natürlich vorgegebener Familie und bewußter Entscheidung dafür: indem er Gesetze und Interessen von Familie wie bürgerlicher Gesellschaft sich unterordnet, von sich abhängig macht, ist er ihnen gegenüber äußerliche Notwendigkeit und höhere Macht, aber auch ihr immanenter Zweck, und stellt, indem er neben Pflichten gegen sich ebenso auch Rechte an sich zugibt, die Einheit seines allgemeinen Endzwecks und des besonderen Interesses der Individuen her[45].

Hatte der Rechtsbegriff Kants teleologische Naturrechtsbegründungen durch das Prinzip der Selbstbestimmtheit des sittlichen Subjekts abgelöst, so erfolgt im 19. Jh. die völlige Abkehr von metaphysischen Erklärungsmustern mit den Lehren Charles Darwins von der Evolution als fortlaufender natürlicher Auslese durch Überleben der an eine sich ständig verändernde Umwelt bestangepaßten Lebewesen, dabei der Mensch durchaus nicht notwendig “Krone der Schöpfung“. Dies wird in der Folge zum Einen vom Sozialdarwinismus auf die menschliche Gesellschaft übertragen: die herausragende Stellung des Menschen gründet in der höheren Entwicklung seiner Vernunft, nach welcher er zur Hervorbringung von Kultur (Ernst Haeckel), zu Fortschritten in Wissenschaft, Technik und Gesellschaft befähigt ist, und im naturgemäßen Konkurrenzkampf behaupten sich die Tüchtigsten und sittlich Höchststehenden als Akteure jeden Fortschritts; am Ende des Jahrhunderts gilt dieses Prinzip des “Survival of the Fittest“ auch auf der Ebene des Verhältnisses der Völker zueinander. Zum Andern entwickelt Friedrich Nietzsche gleichfalls von Darwins Theorie aus und in deutlicher Nähe zu Rousseaus Verständnis vom natürlichen Menschen seine nihilistische Kulturanthropologie als eine scharfe Kulturkritik, gemäß welcher sich die alt-ursprünglichen, unbewußt-sicherführenden Triebe, “jene Instinkte des wilden freien schweifenden Menschen“, die nach außen nicht mehr gelebt werden dürfen, auf Denken und Schließen, Abwägen von Ursache und Wirkung beschränkt, nach innen entladen; aus dieser Verinnerlichung erwächst seine Seele, faltet sich eine innere Welt auf, sein (defizientes) Bewußtsein, und dieser Konflikt gebiert das “schlechte Gewissen“, das “Leiden des Menschen am Menschen an sich“: Kultur also eine Entfremdung des Menschen von seiner triebgeprägten Natur, dieser als Kulturmensch gleichsam der Weg einer “gegen sich selbst gekehrten Tierseele“ hin zu einem wirklichen Menschen der Zukunft, welcher – “Antichrist und Antinihilist“ – die natürlichen Triebe und kraftvollen Mutwillen vom Fluch des bisherigen Ideals befreien und von dessen Ausgeburten, “vom großen Ekel, vom Willen zum Nichts, vom Nihilismus“ erlösen wird[46].

Im Gegensatz dazu stellt der Sozialphilosoph Arnold Gehlen nach Maßstäben moderner Biologie 1942/1957[47] dem von J.G. Herder im 18. Jh. so genannten Mängelwesen Mensch mit seiner unzureichenden physischen Ausstattung sowie seiner Instinktmangelhaftigkeit, dabei außerordentlichen Lernfähigkeit und Gelehrigkeit seiner Sinnesleistungen (die er freilich vergleichsweise langsam erwirbt) das Kulturwesen Mensch gegenüber, welches gegebene, urwüchsige Bedingungen tätig verändert, stets voraussehend und gemeinsam planend, niemals rein instinktiv (wie beispielsweise Tiere beim Bau ihrer Behausung) – der Mensch als Prometheus … Und während das Tier, gesichert durch stabile Instinkte, aufgrund seiner organischen, sich ständig anpassenden und leistungsfähigen Ausstattung einem speziellen Komplex natürlicher Lebensbedingungen, also einer Umwelt, zugeordnet ist, besteht die “Sonderstellung“ des Menschen in seiner organischen wie psychischen Mittellosigkeit darin, daß er sich gerade diesen Platz, diese seine Umwelt erst schaffen und als seine Kultursphäre zurechtmachen muß. Er ist damit zur Unterwerfung und Beherrschung der Natur biologisch geradezu gezwungen: in der “ersten Natur“, der natürlichen Umwelt seiner Ausstattung nach lebensunfähig, muß er sich eine “zweite Natur“, eine künstlich bearbeitete und angepaßte Ersatzwelt, seine “ökologische Nische“ herstellen – natürliche Grenzbedingungen menschlicher Lebensfähigkeit gehen in den Möglichkeiten seiner kulturschaffenden Tätigkeit auf, und Beide sind aufeinander zu beziehen, so daß der Mensch anstelle eines für ihn fatalen “zurück zur Natur“ (Rousseau, s.o.) sich in dieser oder besser: gegenüber dieser allein durch ein entschiedenes und tätiges “zurück zur Kultur“ behaupten kann. Diese tritt der unsicheren, unberechenbaren Instinktnatur des Menschen auf allen Ebenen letztlich in Gestalt tradierter Institutionen gegenüber, bettet das formlose Chaos ein in den Kosmos von Recht und Gesittung, Disziplin und Moral, macht den Einzelnen, eingefasst im System der Gesellschaft, vorherseh- und berechenbar, sichert und entlastet ihn zugleich von Verantwortung und ermöglicht so erst in einem höheren Sinne individuelle Kreativität und Persönlichkeitsentwicklung.

Nach der Psychoanalyse Sigmund Freuds stehen im Einzelmenschen die vorgeprägte und ererbte, eher triebhafte psychische Provinz des Es – das Unbewußte – sowie dessen steuernde und mit der realen Außenwelt vermittelnde, diese in Reizaufnahme wie –abwehr verändernde Seite des Ich – Bewußtsein und Willkür – unter dem Einfluß der übernommenen und verinnerlichten Normen des elterlichen Über-Ich und vermittels derer des fortgepflanzten Kultur-Über-Ich von Familien- und Volkstradition des jeweiligen sozialen Milieus, im Rahmen der gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen zueinander als Ethik zusammengefaßt – ohne Rücksicht freilich darauf, ob das Individuum überhaupt in der Lage ist, diese zu befolgen. Es und Über-Ich verbindet mithin, daß sie die Einflüsse der Vergangenheit darstellen, das Es den der vererbten, das Über-Ich den der von Anderen übernommenen – lediglich der bewußte Wille des Ich wird durch Selbsterlebtes, Zufälliges und Aktuelles, bestimmt[48]: nicht eben einfach für das liberum arbitrium, sich gegenüber diesem Hintergrund selbstbestimmt zu behaupten. Immerhin jedoch erhält der Mensch endlich ein Höchstmaß an Würde – ähnlich aber bereits Pico – in subjekthafter Eigenverantwortlichkeit – siehe Kant – durch den atheistischen Existentialismus eines Jean-Paul Sartre (1946) mit dem Selbstentwurf seiner individuellen, kommenden “Essenz“: “der Mensch ist nichts Anderes als wozu er sich macht“, er ist zur Freiheit in Verantwortung verurteilt: “… verurteilt, weil er sich nicht selbst erschaffen hat, anderweit aber dennoch frei, da er, einmal in die Welt geworfen, für Alles verantwortlich ist, was er tut[49].

Und so werden wir eine Einordnung des Menschen in seinen Mikro- wie Makrokosmos[50] hier und abschließend nicht leisten können, aber das war auch mit diesem kleinen, ganz willkürlich-unvollständigen Parcours durch ganz unterschiedliche Auffassungen unterschiedlicher Jahrhunderte an keiner Stelle beabsichtigt[51]. Vorgeführt werden sollte, wie die Frage nach Wesen und Bestimmung des Menschen aufgeworfen und zeitlos formuliert, kontrovers und zeitbedingt diskutiert, uns Späteren aller Zeiten als Auftrag mit auf den Weg gegeben wurde. In der Auseinandersetzung mit, in Annahme wie Zurückweisung bereits gegebener Antworten, liegen Möglichkeiten, in der Erkenntnis unserer Grenzen wie unserer Verantwortung gegenüber dem Ganzen, in dem von uns geforderten, wohlverstandenen Respekt vor der Schöpfung und ihrer Wohlgeordnetheit, ihrer Eu-kosmía, ein Stück weiter aus unserem Neandertal herauszutreten.

[*Fortlaufend überarbeitete, wesentlich ergänzte und stark erweiterte Fassung eines Vortrages “Der Mensch – Mängelwesen oder Krone der Schöpfung ?“, vgl. www.ulisseweb.eu: Official documents – Papers of Malta Convention 09.04-05.2006.]

 

LITERATUR

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ANMERKUNGEN

[1] De fam. 6 / 4, 1.

[2] Meier 1987.

[3] Diog. Laert. 6, 41.

[4] Prot. 320 c 8 – 323 a 3.

[5] Aisch. Prom. Desmṓtēs 755-85 (Zeusorakel der Themis), 851/871-74 sowie danach im Prometheus Lyómenos.

[6] Hes. Theog. 507-616; Erga 47-105.

[7] J.W. Goethe, Prometheus (Trunz 1981: 44 ff.) – in diesem Sinne bereits sein im Sommer 1773 entstandenes Dramenfragment Prometheus.

[8] VS 80 B 1.

[9] Politeia 369 b 5 ff.

[10] Politeia 431 d 9 – 434 c 10.

[11] Th. von Aquin, Über die Herrschaft der Fürsten (Schreivogel 1990: 47 f.).

[12] Politika 1253 a 3.

[13] Vgl. Cic. off. 1, 22 Panaitios / 152-61 Poseidonios.

[14] Politika 1280 b 5 – 1281 a 8.

[15] Rep. 1, 39; so auch der Stoiker Cato fin. 3, 63 … naturā sumus apti ad coetūs, conciliă, civitates.

[16] Rer. nat. 5, 925 ff.

[17] Gen. 11.

[18] Soph. Oid. Tyr.: Hypothesis 3, 25-29; 393-398; Eur. Phoin. 45-50.

[19] Antig. 332 ff.: dabei birgt das ungeheure Potential des Menschen stets auch die Möglichkeit des Umschlages ins abgrundtief Böse in sich.

[20] Antig. 523; vergleichbar auch die vorbehaltlose Gastfreundschaft, welche Nausikaa dem zunächst einmal bedrohlichen, im Phäakenland zumindest fremden Schiffbrüchigen Odysseus als Gebot der Menschlichkeit entgegenbringt (Hom. Od. 6, 119-246). Zu solcher humanitas – hier zu unterscheiden vom “Humanismus“ als Frage nach dem Platz des Menschen im Gefüge der Weltordnung, des Kosmos – und ihrer Begründung bei Homer (s.o., ähnlich Od. 14, 37-54 der ‚göttliche‘ Schweinehirt Eumaios), Archilochos (Frg. 67a D.), Herodot (1, 86-88: Kyros und Kroisos), Xenophon (Kyrupädie 7, 5, 72 f.; Agesilaos 1, 21 f.), Sophokles (Philokt. 927-1080, 1222-92: Neoptolemos gegen Odysseus) und Polybios (29, 20)/Livius (45, 8: Aem. Paullus und Perseus v. Makedonien nach Pydna 168 v. Chr.) vgl. Nickel (2006), 56-62.

[21] Heautont. 77.

[22] Gen. 2,5‑25 (Königshof Davids um 1000 v. Chr.).

[23] Gen. 1,1 ‑ 2,4 (Babylonisches Exil zwischen 586 und 536 v. Chr.).

[24] Gen. 6‑9. – Zur Quellenfrage Westermann (1976: 77-91).

[25] Erga 109-200 / Metam. I 89 ff.; 240-415.

[26] Caduff (1986: 225-39), vgl. auch Schmude (1988); Schrott (2001: 295); zu Deukalion als Menschen- und Kulturstifter, also zweitem Prometheus Pindar, Ol. 9, 41-56, Apoll. Rhod. 3, 1088 f., Apollod. 1, 46-48, Plut. Mor. 1125 d, Nigid. Fig. frg. 99 Sw., Hygin fab. 153,1-3 R.

[27] Als ‚Allgeschenk‘ (Theog. 570-612, Erga 70-99) Hesiods Fassung der mosaischen Eva und mit ihr kongeniale Ikonen urtümelnder Misogynie.

[28] 19.-17. Jh. v. Chr., in Klein (1964: 144-46).

[29] Einstein (1980: 118).

[30] Rede des Indianerhäuptlings Seattle [vom Stamm Duwamish 1855 vor dem amerikanischen Präsidenten Franklin Pierce], in: Wallhof (1982: 4 f.).

[31] De off. 1, 11-14: Natura vi rationis hominem conciliat homini … ad vitae societatem … nemini parēre velit nisi utilitatis causā iuste et legitime imperanti: die Natur versöhnt durch die Kraft der Vernunft den Menschen mit dem Menschen … zur Gemeinschaft des Lebens … (so daß er) Niemandem gehorchen will außer demjenigen, welcher um der Nützlichkeit willen gerecht und gesetzmäßig Befehle erteilt […] Causas rerum videt … in primīs hominĭs est propria veri inquisitio atque investigatio … veri videndi cupiditas: … Er sieht die Ursachen der Dinge … besonders ist dem Menschen zueigen das Erforschen und Aufspüren der Wahrheit … der Drang, das Wahre zu sehen […] Quae cura exsuscitat etiam animos et maiores ad rem gerendam facit … adpetitio quaedam principatūs: diese Sorge treibt sogar die Gemüter in die Höhe und macht sie größer, Taten auszuführen … ein gewisses Streben nach dem ersten Rang […] Unum hoc animal sentit, quid sit ordo, quid sit, quod deceat, in factis dictisque qui modus … ordinem in consiliis factisque conservandam putat cavetque, ne quid indecore effeminateve faciat, tum in omnibus et opinionibus et factis ne quid libidinose aut faciat aut cogitet: allein dieses Lebewesen fühlt, was Ordnung ist, was sich ziemt, welches Maß in Wort und Tat … es glaubt, daß in Rat und Tat eine Ordnung erhalten werden muß, und hütet sich davor, etwas un-ziemlich oder verweichlicht zu tun, sodann (hütet es sich) in allen Meinungen und Handlungen (davor), etwas Unsittliches zu tun oder zu denken.

[32] Ep. ad Lucil. 76, 8-10: Quid est in homine proprium ? Ratio: haec recta et consummata felicitatem hominis implevit. Ergo si omnis res, cum bonum suum perfecit, laudabilis est et ad finem naturae suae pervenit, homini autem suum bonum ratio est: si hanc perfecit, laudabilis est et finem naturae suae tetigit.

[33] De hominis dignitate 4.

[34] Erasmus, Querela pacis (1517) B-E; Descartes, Meditationes de Prima Philosophia (1641): Ego sum, ego existo (Schmidt 1986: 78).

[35] Apologia pro libro de iustis belli causis 1.

[36] Adversus persecutores et calumniatores gentium novi orbis ad oceanum reperti Apologia 1.

[37] Angefacht von der Frage nach der notwendigen (?) Strafgewalt des Staates ist diese eine fiktionale Beschreibung des Portugiesen Raphael Hythlodäus, eines vorgeblichen Reisegefährten des Amerigo Vespucci anfangs des 16. Jh. in die Neue Welt, an den Gesandten Heinrichs VIII. von England im flämischen Antwerpen.

[38] E. von Rotterdam, Institutio principis christiani (Christian 1968: 112, 354).

[39] Th. Hobbes, Leviathan (Fetscher 1984: 134 f.).

[40] J. Locke, Über die Regierung (Mayer-Tasch 1974: 4-8, 73-75, 95-99, 166 f.).

[41] Ch. de Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, Bd. 1 (1748), 11, 6 (Forsthoff 1992: 213 f.). Eine im Wechsel kontrollierende Verflechtung unterschiedener staatlicher Gremien war – in guter Polistradition – bereits auf Morus’ utopischer Insel aufgeschienen.

[42]J.-J. Rousseau, Discours sur l’inégalité (Meier 1984: 79-197); Vom Gesellschaftsvertrag (Brockard 1977: 16-21, 27-31, 41 f., 98 f., 102 f.). Insbesondere bringt Rousseau anstelle des hobbes’schen Machtstrebens über Andere als ‚zwischenmenschlichen Umgangsmodus‘ das natürliche Mitleid mit dem (schwächeren) Anderen ins Spiel – vor dem Aufkommen der Eigenliebe mit der (Selbst-)Reflexion „im Zustand der Vernunfterwägung“.

[43] I. Kant, Metaphysik der Sitten (Weischedel 1982a: 345); Über den Gemeinspruch (Weischedel 1982b: 144 f.).

[44] I. Kant, Metaphysik der Sitten (Weischedel 1982a: 430 f.).

[45] G.F.W.Hegel (1830), Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (Moldenhauer/Michel 1970b: 330); Grundlinien der Philosopie des Rechts (Moldenhauer/Michel 1970a: 408).

[46] F.Nitzsche (1887), Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift (Holz 1968: 79-90).

[47] A.Gehlen, Anthropologische Forschung (1961: 17-21, 46-48, 59 f., 71 f.).

[48] S. Freud (1953a: 125-129; 1953b: 9-12).

[49] J.-P. Sartre, Ist der Existentialismus ein Humanismus ? (1983: 9-12, 16 f.).

[50] Ein beredtes Zeugnis für postmodernes Verständnis vom Menschen in selbstverantworteter Würde und Freiheit gibt indes eine Leitartikelserie “Verbot-“ der FAZ vom 19. bis 22.03.2007: Verbotsphantasien (Umweltpolitik und Klimawandel); Verbotszwecke (dazu aus dem Allgemeinen Gesetzbuch für die Preußischen Staaten von 1791: “Die Gesetze und Verordnungen dürfen die natürliche Freyheit und Rechte der Bürger nicht weiter einschränken, als es der gemeinschaftliche Endzweck erfordert“); Verbotswettbewerb (Autonomie [?] und Reglementierungssucht in der Bildungspolitik, an Schule wie Hochschule); Verbotssignale (Umgang mit Rauschmitteln als gesellschaftliche Indikation, auch v. 05.02.08, S. 38): die Verbotsrepublik gängelt ihre mündigen Bürger zu einem guten und richtigen Leben … sowie ein Leserbrief ebda. v. 30.03.07 zu den Vernünften des Citoyen, Werten und positivem Recht.

[51] Umfassende Darstellung (mit weiterführender Literatur) s.v. Humanismus und Humanitas/Humanität (Ritter/Gründer/Gabriel 1974: 1218-32) sowie Mensch (Ritter/Gründer/Gabriel 1976: 1059-90).

 

Der-Mensch-Maengelwesen-oder-Krone-der-Schoepfung

Der-Mensch-Maengelwesen-oder-Krone-der-Schoepfung

Der Mensch ‑ Mängelwesen oder Krone der Schöpfung ?*

von Michael P. Schmude,  Boppard

aus: Anregung 43 (1997), S. 91-94            [Abiturrede 1996]

 

Die Menschen gehen ihres Weges und bewundern die Gipfel der Berge, die ungeheure Flut des Meeres, das Abwärtsgleiten der breiten Ströme, den Ozean in seiner Unermeßlichkeit und die Kreisbahnen der Sterne ‑ von sich selbst jedoch entfernen sie sich mehr und mehr“ ‑ so der italienische Dichter und Humanist Francesco Petrarca im 14. Jh. in einem Brief an Freunde (de fam. VI <IV 1>) ‑ wer oder was ist der Mensch ?

Diese Frage, in der Vorhalle des Apollontempels zu Delphi als Gebot formuliert ‑ das bekannte „gnṓthi seautón: erkenne Dich selbst“ der Sieben Weisen ‑, bewegt die spekulierenden Geister der Jahrhunderte ‑ im besten Sinne des Wortes speculari als ‚umherschauen, erforschen, beobachten‘. Aus der Frage nach der Ordnung der physikalischen Welt, dem Kosmos, die von den vorsokratischen Naturphilosophen des östlichen Mittelmeeres, von Thales v. Milet, von Pythagoras u.a., seit dem 7. vorchristlichen Jahrhundert aufgeworfen wurde, hatte sich die weitergehende nach der Entstehung menschlicher Gemeinschaft und Kultur ergeben. Wir denken aber auch an den Kyniker Diogenes ‑ den in der Tonne ‑ , wie er im Athen des 4. Jahrhunderts in Diensten desselben Delphischen Apoll am hellichten Tag mit einer Lampe umherläuft, um nach einem Menschen zu suchen (Diog. Laert. 6, 41).

Es war einst eine Zeit, wo es Götter zwar gab, sterbliche Geschlechter aber gab es noch nicht …“ beginnt ein Mythos, welchen Platon den Sophisten Protagoras vortragen läßt (Prot. 32o d ff). Danach bildeten die Götter die Lebewesen zur vorherbestimmten Zeit im Erdinnern aus einem Gemenge von Erde und Feuer und beauftragten das Brüderpaar Prometheus und Epimetheus ‑ den Vorherdenker und den Nachherdenker ‑ , diese ans Licht der Welt zu befördern und mit den hierfür erforderlichen Wesensanlagen auszustatten. Es gelang dem Epimetheus, seinen Bruder zu beschwatzen, ihm diese Aufgabe alleine zu überlassen, und so machte er sich ans Werk.

Er legte dabei zunächst auch einen erstaunlichen Verstand an den Tag: welchen er Stärke zugeteilt hatte, die bedurften nicht besonderer Schnelligkeit, mit dieser hingegen versah er die Schwachen und Kleinen, dazu mit Flügeln oder unterirdischer Behausung. Er vergab Felle gegen Hitze wie Kälte, Hufe und Klauen, wies den verschiedenen Arten verschiedene Formen der Ernährung zu, den einen Kräuter und Früchte, den anderen das Fleisch anderer Tiere; die Räuber begrenzte er in ihrer Vermehrung, während er der Beute durch entsprechende Zeugungskraft den Bestand ihrer Gattung sicherte …

Doch jetzt hatte er ein Problem: nach seiner auf den ersten Blick so umsichtigen Verteilung war nichts mehr für das letzte der sterblichen Geschlechter übriggeblieben, den Menschen. Als der Bruder Prometheus hinzukam und die Bescherung sah, wußte er nur noch dadurch Abhilfe zu schaffen, daß er der Athene die Handwerke und dem Hephaistos das Feuer stahl und den Menschen brachte; bekanntlich hat Zeus ihm dies niemals verziehen und ihn zur Strafe an eine Felswand schmieden lassen – es sollte eines Herakles bedürfen, um ihn später aus dieser wenig befriedigenden Lage zu befreien.

Der Mensch als Mängelwesen, ein Stiefkind der Natur ‑ weniger behende als die geflügelten Schwachen, den Starken unter den tierischen Geschlechtern an Kraft unterlegen und auch in seiner Vermehrung nicht unerheblichen individuellen Schwankungen unterworfen ‑ ist das der Mensch, von welchem der gleiche Protagoras den berühmt-berüchtigten Homo-mensura-Satz prägen sollte: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der Seienden, daß sie sind, der nicht-Seienden, daß sie nicht sind“ (VS 80 B 1) ? Platon hat die Unzulänglichkeiten des Einzelmenschen zum Beweggrund für den Zusammenschluß zu sozialen Gemeinschaften gemacht: die bürgerliche, die politische Fertigkeit hatte Prometheus freilich nicht stehlen können, die verwahrte Zeus einstweilen noch persönlich. In der Politeia sodann, Platons Staatsmodell, ergänzen sich die Menschen mit jeweils derjenigen Fähigkeit, die jeder Einzelne zur allgemeinen Bedürfnisbefriedigung beitragen kann (369 b 5 ff.): der Bauer stellt seinen Pflug nicht selbst her, auch der Arzt benötigt Schuhwerk, und der Kaufmann wird von Kopf- oder Bauchschmerzen geplagt. Allerdings bedarf es als ordnenden Elementes auch hier noch eines allgemeinen Rechtsempfindens.

Demgegenüber prägt Aristoteles den Begriff vom Menschen als Zṓon politikón (Pol. 1253 a 3), welcher später insbesondere für die Stoa (vgl. Cic. off. I 22 [Panaitios]; I 152‑61 [Poseidonios]) maßgebend wurde: wie Cicero es nach ihm formulieren sollte, sei Grund für das Zusammengehen nicht so sehr die Schwäche und Wehrlosigkeit als vielmehr ein gleichsam natürlicher Trieb des Menschen zur Geselligkeit, der Einsiedelei seinem Wesen nach scheue (rep. 1, 39). Es war Epikur, der Vielbemühte und meist Geschmähte, welcher beiden Vorstellungen, die zuvor schon nicht scharf voneinander zu trennen waren, in seinen Kulturphasen Rechnung trug ‑ soweit wir dies jedenfalls aus der dichterischen Kulturentstehungslehre seines römischen Schülers und etwas jüngeren Zeitgenossen Ciceros, Lukrez (5, 925 ff.), ersehen können: während zunächst einmal die äußeren, natürlichen Umstände auf den Menschen Zwang ausüben, sind erst in einem zweiten Schritt menschlicher Verstand und Überlegung Triebkräfte einer sozialen und kulturellen Entwicklung.

Kehren wir zurück zum Homo-mensura-Satz des Sophisten: wenn der Mensch das Maß ist ‑  wer setzt ihm das Maß, wer gibt ihm die Norm, wer zeigt ihm seine  Grenze ? Wo bleibt für ihn dann der Gott, die Ordnung über ihm ?

Als den Menschen die Erde nicht mehr genügte, bauten sie einen Turm, um in den Himmel zu gelangen, und als die chaotischen Giganten die Ordnung der Götter umstürzen wollten, türmten sie Berge gegen den Olymp auf ‑ wie es den Einen erging, erzählt uns das Alte Testament (Gen. 11), was den Anderen blühte, ist am Pergamon-Altar auf der Berliner Museumsinsel zu besichtigen. Doch nirgendwo wird der Mensch in seiner vermeintlichen Stärke und Souveränität so unerbittlich in seine Schranken gewiesen wie in den Über-Menschen der Attischen Tragödie: von Kreon, dem Herrscher über Theben, welcher sich in Staatsraison wider alle Menschlichkeit versteigt, bis zum Meisterdetektiv Ödipus in seiner intellektuellen, aber hybriden Brillanz, mit welcher er schon das Menschenrätsel der Sphinx gelöst und diese in Verzweiflung gestürzt hatte: zerschlagen, weil sie das ihnen ‑ eben doch ! ‑ gesetzte Maß überschritten haben. Nur einer will zum tragischen Helden nicht recht taugen: es ist der vielduldende Odysseus, der listenreiche, der um seine Schwächen weiß und schlau seine Stärken ausspielt ‑ und überlebt.

Ungeheuer ist viel, doch nichts ungeheurer als der Mensch – er herrscht über die Stürme des Meeres und die Erde mit ihrem Getier, herrscht über Rede und Gedanken, über Städte – nur dem Ort der Toten zu entgehen, das hat er nicht gelernt, Hochmut, Unrecht und Frechheit bringt er …„; in diesem Sinne läßt Sophokles den Chor der Antigone (332 ff.) sich vor deren Artgenossen verwahren: was hatte man sich nicht Alles untereinander angetan, stets mit gutem Grund, mit tragischer Notwendigkeit ‑ der Bruder den Bruder von Stadt und Herrschaft ferngehalten, der wiederum die Vaterstadt mit einem fremden Heer angegriffen und belagert, die Brüder sich schließlich im Zweikampf gegenseitig getötet, doch nur einer durfte bestattet werden, der Leichnam des anderen sollte Hunden und Vögeln zum Fraß dienen, die Schwester, die das Bestattungsverbot übertreten hatte, sah der Todesstrafe entgegen, ihr Verlobter, Sohn desjenigen, welcher Verbot wie Strafe erlassen hatte, beging darum Selbstmord, seine Mutter folgte ihm darin ‑ eine Familie, ein Katalog von Leichen ‑ der Mensch dem Menschen Wolf ‑ homo homini lupus …

Versöhnlicher ist nur die Komödie: „… ich bin Mensch, nichts Menschliches ist mir fremd“ ‑ mit diesem Bekenntnis läßt der Afrikaner Terenz ‑ nach einer hellenistischen Vorlage ‑ im 2. Jh. v. Chr. eine seiner Figuren sich selbst charakterisieren (Heautont. 77): doch welcher Mensch ist hier gemeint ‑ der Mensch als Mängelwesen oder der Mensch als Krone der Schöpfung ? Die beiden Quellenschriften zur alttestamentlichen Genesis, der (ältere) Jahwist (Gen. 2, 4b‑25) wie die (jüngere) Priesterschrift (Gen. 1, 1 ‑ 2, 4a) sehen in ihm Mittel- bzw. Höhepunkt der Welterschaffung, ausgestattet mit einer Art Freifahrtschein, sich diese untertan zu machen, könnte man meinen …

Doch bekanntlich behagte das Prunkstück auch seinem Erschaffer immer weniger, je weiter und breiter es sich machte, bis er schließlich die Große Flut schickte, um ‚klar Schiff‘ für einen neuen Anlauf zu bekommen (Gen. 6‑8); bei dem Griechen Hesiod (um 7oo vor) wie bei dem Römer Ovid einige Jahre nach Christi Geburt wird dies über die Deszendenz der Menschengeschlechter hinweg vom Goldenen bis zum Eisernen Zeitalter nötig (Erga 1o9 ff / Metam. 1, 89 ff; 244 ff): übrigens ist diese Vorstellung vom Mißraten des ersten Schöpfungsversuches ein gemeinsames Grundmuster menschlichen Denkens, denn in den Aufzeichnungen verschiedener Kulturvölker mit Schöpfungsberichten, von den Indianern Nordamerikas bis zu den Einwohnern des Zweistromlandes, bedarf es einer Sintflut, um das Mißlingen der Schöpfung noch einmal zu korrigieren. Nun ist dies natürlich kein beliebig wiederholbares Verfahren, und welcher Weg beschritten werden sollte, als auch der zweite Versuch mit der ‚Krone der Schöpfung‘ danebengeriet, findet sich im Neuen Testament gleich mehrfach aufgezeichnet ‑ ihren Mängeln war indes mit Verbesserungsvorschlägen nicht mehr beizukommen, da half nur noch Vergebung statt Strafe. Der Mensch sitzt längst schon im Dunkel des Jammertals.

Es ist der Humanismus, welcher den Menschen wieder in den Mittelpunkt rückt, nach den Möglichkeiten seiner eigenständigen Entfaltung wie nach seiner Daseinsbestimmung als Individuum fragt. Insbesondere der Renaissancehumanismus im Florenz des Quattrocento, im 15. und 16. Jahrhundert, stellt mit der Wiederentdeckung der Klassischen Texte der alten Griechen auch deren zentrale Frage nach der Eigenart des Menschen in den Vordergrund. Wiederaufgenommen im Neu-Humanismus der Deutschen Klassik, reicht seine Kraft trotz zeitgeistbedingter Anfechtungen mancher Epochen bis in unsere Tage, seine Notwendigkeit besteht in ebendem Maße, wie die Kernfrage, welche im Begriff Humanismus Programm geworden ist, auf eine erschöpfende Antwort dringt ‑ aber ist eine solche überhaupt vorstellbar ?

Nun ‑ wir werden dies hier und heute jedenfalls nicht leisten können, und das war auch mit diesem kleinen, eher willkürlich zusammengestellten Panoptikum ganz unterschiedlicher Auffassungen an keiner Stelle beabsichtigt. Vorgeführt werden sollte, wie die Frage nach Wesen und Bestimmung des Menschen aufgeworfen und zeitlos formuliert, kontrovers und zeitbedingt diskutiert, uns Späteren aller Zeiten als Hausaufgabe mit auf den Weg gegeben wurde. In der Auseinandersetzung mit, in Annahme wie Zurückweisung bereits gegebener Antworten, liegen Möglichkeiten, in der Erkenntnis unserer Grenzen wie unserer Verantwortung gegenüber dem Ganzen, in dem von uns geforderten, wohlverstandenen Respekt vor der Schöpfung und ihrer Wohlgeordnetheit, ihrer Eu-kosmía, ein Stück weiter aus dem Neandertal herauszutreten.

Lahnstein, 28. Juni 1996                                                Michael P. Schmude

 

*Erstfassung in: Anregung – Zeitschrift für Gymnasialpädagogik (s.o.); fortlaufend überarbeitet und erweitert in: www.ulisseweb.eu: Official documents – Papers of Malta Convention 09.04-05.2006 sowie Der Mensch – von Prometheus bis Sartre: ein philosophischer Par-Cours, in: Lingue Antiche e Moderne 2 (2013), 79-104.