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Römisches-Spracherbe-und-Caesars-Rheinübergang-im-Neuwieder-Becken

Römisches-Spracherbe-und-Caesars-Rheinübergang-im-Neuwieder-Becken

Römisches Spracherbe und Cäsars Rheinübergang im Neuwieder Becken

von     Michael P. Schmude

[Vortrag auf den Römerabenden in Neuwied-Engers, Landesmusik-Akademie 17.09. und 21.10.2020]

 

Mit Caesar bricht über  Gallien die Zivilisation herein – ist das so? Immerhin gibt es in Asterix‘ Kampf der Häuptlinge eine klare Antwort darauf – ja, die Aquädukte … (und wer Asterix nicht kennen sollte, der kennt doch den Pont du Gard in Nîmes). Aber wenn – was wollte er dann in Germanien, zumal dazwischen auch noch der Rhein lag, in dieser Ecke (Neuwied-Engers) immerhin 400 Meter breit … [→ steht Alles in seinen Commentarii De bello Gallico IV 16-19, aber dazu später]. Und was ist von seiner Idee, den Rhein zu überschreiten, mitsamt ihrer Umsetzung geblieben? Da gibt es zum Einen bis heute viel Sprachliches, was nun nicht allein für diese Gegend spezifisch ist, sondern eher in einem allgemeineren Sinne. Und zum Anderen natürlich reiche Hinterlassenschaften für die Archäologen, soweit sie jedenfalls an die Anlagen und Baulichkeiten jener ersten Expeditionen herankommen und diese nicht ihrerseits wieder unter den architektonischen Aktivitäten folgender Jahrhunderte bis heute verbaut und versiegelt sind.

I. Mein Part wird heute Abend das sprachliche Erbe der Römerzeit sein, wie es sich in diesem Kerngebiet breitgemacht und zugleich sternförmig mit den imperialen Expeditionen in den gesamten mitteleuropäischen Kulturraum bis in die Jetztzeit hinein strahlt – und damit habe ich mir die ersten Stichworte bereits selbst an die Hand gegeben … zuvor allerdings ein paar allgemeinere Bemerkungen zu Latein als Muttersprache Mitteleuropas:

Es ist beliebt und gilt als ‚modern‘ – vielleicht besser: ‚modisch‘?? – Latein als ‚tote‘ Sprache in die Rumpelkammer des Sprachenlernens zu entsorgen. Aber wie steht es um die überaus lebendige Wiedergeburt, die das Lateinische erlebt, sobald man in eine andere europäische Fremdsprache hinein hört? Bekanntlich haben sich die heute gesprochenen, Neuen Sprachen Mittel-und Südeuropas aus dem umgangssprachlichen Alltagslatein des 5. und 6. Jahrhunderts herausgebildet, sind im eigentlichen Sinne regionale, später nationale Dialekte des spätantiken Vulgärlateins. Neben dem Vokabular, welches in den romanischen Sprachen Italienisch, Spanisch, Portugiesisch, Französisch, Rumänisch zu über achtzig Prozent, im Englischen zu zwei Dritteln aus dem Lateinischen stammt, sind auch die einzelnen Grammatiken Lateinische geblieben; nicht zuletzt unsere eigene, deutsche Grammatik lässt sich von der lateinischen her erst recht erschließen. Der umfangreiche Bestand an Fremd- und Lehnwörtern im Deutschen allgemein, in den einzelnen Fachsprachen insbesondere, sowie an naturwissenschaftlich-medizinisch-technischem Vokabular (Computer – Informatik – Processor u.a.m.) ist direkt oder indirekt ein Lateinischer.

Das Impeachment-Verfahren zur Amtsenthebung des amerikanischen Präsidenten kommt vom lateinischen im-pedica-re – verstricken, fangen (pes – der Fuß) und wird im Französischen zu empêcher und im Englischen zu impeach (hindern, aufhalten). Ius, iurare, iustus, iudex, iudicare – die Wortfamilie Recht und Rechtswesen liegt auf der Hand (samt Gegenteilen in-). Auch das lateinische Verb cernere, cerno, crevi, critum – entscheiden, unterscheiden, beurteilen eröffnet eine Wortgroßfamilie: Kritik, kritisieren, kritisch; seine Kombinationen de-cernere – der Dezernent, das Dekret; dis-cernereunterscheiden, davon dis-crimen und diskriminieren (= einen Unterschied herstellen); se-cernereabsondern, trennen, davon das Sekret, aber auch englisch secret (= geheim, service – servire = dienen). Ebenso tenēre, teneo, tenui, tentumhaben, halten – Abs-tinenz, Kon-tinent (= con-tinens terra – die zusammenhängende Erde, Erdteil [Gegenbegriff: insula]), englisch Content = Gehalt, Inhalt, aber auch die In-kon-tinenz und die Re-tinenz, und tendere(an)spannen, davon englisch und französisch Attention, Tension, die Intention; sternere, sterno, stravi, stratum – hinbreiten, -strecken, davon englisch the street, italienisch la strada, deutsch die Straße; trahere, traho traxi, tractum ziehen, schleppen – Traktor, sub-trahieren, abs-trahieren, der Kon-trakt, Kon-trahent und die Kontraktion, at-traktiv und die Attraktivität … um nur wenige, markante Beispiele zu nennen, in alle Richtungen und jederzeit erweiterbar.

Man kann das lateinische System als klarstes Modell dafür nutzen, aus welchen Elementen Sprache überhaupt besteht, wie sie aufgebaut ist und funktioniert, als sprachlichen Setzkasten, in dessen einzelne Kammern man neben die lateinischen Ausgangsfiguren die jeweiligen deutschen Entsprechungen einordnen wird, sodann diejenigen im Englischen, Französischen, Spanischen … usw. Auf diesem Wege erzieht Latein von Beginn an zu aufmerksamem Hinsehen und genauer Einordnung des Beobachteten. Die französische und italienische, nicht zuletzt die deutsche Grammatik oder besser: Sprachlehre sind – wie bereits gesagt – lateinische Sprachlehren. Latein als Denkschule, als ‚Trimm-Dich-Pfad‘ für die ‚kleinen grauen Zellen‘, als Ausweis von Genauigkeit und Unterscheidungsfähigkeit – Alltags-Kompetenzen, die man*frau in allen Lebensbereichen benötigt und gerne anwendet (, und es ist nicht unbedingt notwendig, bei jeder Gelegenheit darauf hinzuweisen, wo diese Kompetenzen eigentlich her stammen).

Aber zurück zu Stichworten des lateinischen Spracherbes im einstmals gallisch-germanischen Grenzgebiet:

Das imperium schlägt nicht nur zurück, es rückt auch vor: ‘Caesar in progress‘ – in diesem Falle aus dem Innern Galliens Richtung Rheingrenze und rechtsrheinisches Germanien, Germania libera = das freie Germanien (im Unterschied zur Gallia Romana), und Caesar gibt es auch nicht aus der Hand, die Konditionen = Bedingungen seines Hier- und Hinüber-Seins zu moderieren, er gibt den Konflikten mit den germanischen Stämmen, also den Zusammentreffen oder Zusammenstößen die Art und Weise = den Modus, welchen er im Sinne hat – wie eben der moderator oder die moderatrix einer Sendung etwa im Fernsehen.

Weitere, caesar-taugliche Kostproben:

ex-ped-ire (eigtl. aus dem Fuß gehen)                (freie) Unternehmung nach draußen (Expeditionen ins Tierreich)

cultus, cultura          Pflege, Wartung, Besorgung; Bebauung, Bearbeitung; Lebensweise, -einrichtung, -gewohnheit; Bildung, Erziehung; Verehrung, Anbetung. (Agri-cultura; Kultusminister, Kulturdezernent [de-cernere: entscheiden]; Jugendkult)

pro-gredi (gradi – gradus: Schritt, Stufe, Grad)            vor-rücken, voran-schreiten

libera-re, liberal-is   befreien, freiheitlich (libertas, liberté, liberty, Liberalität)

condicio, -oni-is       Bedingung, Voraussetzung (Vertrags-Konditionen; Konditionstraining im Sport)

conflige-re, conflict-us        Zusammenstoß, Aufeinanderprallen (Alltags-Konflikte)

modera-re     gestalten = einer Sache eine Art und Weise (modus) geben (Vertrags-Modalitäten, Modalitäten eines Ablaufs)

gusta-re         kosten (goûter, goutieren; köst-lich)

proba-re        prüfen (brave – brav, tapfer)

lingua                        Zunge, Sprache (langue, language, Linguistik)

relinque-re    zurücklassen, verlassen (→ Reliquie, Relikte)

Soweit ein paar eher zufällige Kostproben = gustamenta probanda aus dem reichhaltigen Schatz sprachlicher Hinterlassenschaften = linguistischer Relikte des Alten Rom nicht nur im Neuwieder Becken.

Als termini technici kommen aus den unterschiedlichsten Stellen der Commentarii Caesars:

imperium                 Herrschaft, Herrschaftsgebiet

imperare                   befehlen         Imperativ, imperatives Mandat

mandatum – der Auftrag, welcher Jemand*in in die Hand = manus gegeben = dare, datum worden ist.

limes                          Grenzsteig, -gemarkung, die (befestigte, markierte) Grenzlinie,

limit, limitieren – jede Art von Grenzziehung auch in unserem Lebensalltag.

Soldat                        solidum – Gesamtsumme oder Saldo – mit welchem der Söldner,

der Soldat entlohnt wurde: diese milites in ihrer Gesamtheit bildeten dann das Militär.

castellum                  Verkleinerungsform von castra – das Legionslager = der zweite Teil all unserer Ortsnamen mit –kastel.

 

II. Aber was erzählt uns eigentlich Caesar höchstpersönlich zu Ereignissen, Beweg- und Hintergründen seines Rheinübertritts im Jahre 55 v. Chr. an dieser Stelle?

[16] 1 Germanico bello confecto multis de causis Caesar statuit sibi Rhenum esse transeundum; quarum illa fuit iustissima quod, cum videret Germanos tam facile impelli ut in Galliam venirent, suis quoque rebus eos timere voluit, cum intellegerent et posse et audere populi Romani exercitum Rhenum transire. 2 Accessit etiam quod illa pars equitatus Usipetum et Tencterorum, quam supra commemoravi, praedandi frumentandi causa Mosam transisse neque proelio interfuisse, post fugam suorum se trans Rhenum in fines Sugambrorum receperat seque cum his coniunxerat. 3 Ad quos cum Caesar nuntios misisset, qui postularent eos qui sibi Galliaeque bellum intulissent sibi dederent, responderunt: 4 populi Romani imperium Rhenum finire; si se invito Germanos in Galliam transire non aequum existimaret, cur sui quicquam esse imperii aut potestatis trans Rhenum postularet? 5 Ubii autem, qui uni ex Transrhenanis ad Caesarem legatos miserant, amicitiam fecerant, obsides dederant, magnopere orabant ut sibi auxilium ferret, quod graviter ab Suebis premerentur; 6 vel, si id facere occupationibus rei publicae prohiberetur, exercitum modo Rhenum transportaret: id sibi ad auxilium spemque reliqui temporis satis futurum. 7 Tantum esse nomen atque opinionem eius exercitūs Ariovisto pulso et hoc novissimo proelio facto etiam ad ultimas Germanorum nationes, uti opinione et amicitia populi Romani tuti esse possint. 8 Navium magnam copiam ad transportandum exercitum pollicebantur.

[17] 1 Caesar his de causis quas commemoravi Rhenum transire decreverat; sed navibus transire neque satis tutum esse arbitrabatur neque suae neque populi Romani dignitatis esse statuebat. 2 Itaque, etsi summa difficultas faciendi pontis proponebatur propter latitudinem, rapiditatem altitudinemque fluminis, tamen id sibi contendendum aut aliter non traducendum exercitum existimabat. 3 Rationem pontis hanc instituit.

[Eine detailgenaue Zusammenstellung der Arbeitsschritte zur Rekonstruktion der Rheinbrücke  auf Grundlage einer kommentierten Auswertung des Textes von bG IV 16-19 und unter Einbezug des (späteren) römischen Architekten und Teilnehmers am Gallien-Feldzug Vitruv(ius Pollio) unternimmt Daniel Hinz: Caesars Rheinübergang (B.G. 4, 16 ff.), Universität Köln, Historisches Institut, Alte Geschichte, SS 2017 (Bachelor-Arbeit).

Vgl. auch Bernd Nebel – Julius Cäsars Brücke über den Rhein, auf www.bernd-nebel.de: BRÜCKEN – Architektur, Technik, Geschichte.]

Tigna bina sesquipedalia paulum ab imo praeacuta dimensa ad altitudinem fluminis intervallo pedum duorum inter se iungebat. 4 Haec cum machinationibus immissa in flumen defixerat fistucisque (Pfahlrammen → Ehrenbreitstein 2008) adegerat, non sublicae modo derecte ad perpendiculum, sed prone ac fastigate, ut secundum naturam fluminis procumberent, 5 iis item contraria duo ad eundem modum iuncta intervallo pedum quadragenum ab inferiore parte contra vim atque impetum fluminis conversa statuebat. 6 Haec utraque insuper bipedalibus trabibus immissis, quantum eorum tignorum iunctura distabat, binis utrimque fibulis ab extrema parte distinebantur; 7 quibus disclusis atque in contrariam partem revinctis, tanta erat operis firmitudo atque ea rerum natura ut, quo maior vis aquae se incitavisset, hoc artius inligata tenerentur. 8 Haec derecta materia iniecta contexebantur ac longuriis cratibusque consternebantur; 9 ac nihilo setius sublicae et ad inferiorem partem fluminis oblique agebantur, quae pro ariete subiectae et cum omni opere coniunctae vim fluminis exciperent, 10 et aliae item supra pontem mediocri spatio, ut, si arborum trunci sive naves deiciendi operis causa essent a barbaris missae, his defensoribus earum rerum vis minueretur neu ponti nocerent.

[Kleines Glossar:

trabs, -is – Holm = Längsbalken (einer flussaufwärts, einer flussabwärts)

tigna bina – (paarweise) schrägstehende Bockbeine

trabes bi-pedales – zwei-Fuß-dicke Querbalken (verbinden die Bockbeine wie o. bzw. werden zwischen die Doppelstämme eingelegt) = [30-35] Jochbalken im Abstand von je 40 Fuß = 12 m voneinander

fibulae – je (zwei) verbundene Rundhölzer (halten die Querbalken in den Bockbeinen)

longurii – (dünne) Stangen – quergelegt – zu den

derecta materia = Streckbalken (parallel zu und zwischen den beiden Holmen), ‘Belaghölzer‘

crates – Flechtwerk (Faschinen) aus Reisig und Ästen (der gefällten Bäume)

darüber dann Erde gestreut.

sublicae – (normalerweise) senkrechte Brückenpfähle, so in den Flussboden hinein gerammt, dass sie schräg stehen.

defensores – je drei sublicae, zu einem Dreieck geordnet zusammengestellt und miteinander verbunden, als Wellenbrecher (und Abwehr von Treibgut oder Booten der Germanen).]

 

[18] 1 Diebus decem, quibus materia coepta erat comportari, omni opere effecto exercitus traducitur. 2 Caesar ad utramque partem pontis firmo praesidio relicto in fines Sugambrorum contendit. 3 Interim a compluribus civitatibus ad eum legati veniunt; quibus pacem atque amicitiam petentibus liberaliter respondet obsidesque ad se adduci iubet. 4 At Sugambri, ex eo tempore quo pons institui coeptus est fuga comparata, hortantibus iis quos ex Tencteris atque Usipetibus apud se habebant, finibus suis excesserant suaque omnia exportaverant seque in solitudinem ac silvas abdiderant.

[19] 1 Caesar paucos dies in eorum finibus moratus, omnibus vicis aedificiisque incensis frumentisque succisis, se in fines Ubiorum recepit atque his auxilium suum pollicitus, si a Suebis premerentur (s.o. 16, 5), haec ab iis cognovit: 2 Suebos, postea quam per exploratores pontem fieri comperissent, more suo concilio habito nuntios in omnes partes dimisisse, uti de oppidis demigrarent, liberos, uxores suaque omnia in silvis deponerent atque omnes qui arma ferre possent unum in locum convenirent. 3 Hunc esse delectum medium fere regionum earum quas Suebi obtinerent; hic Romanorum adventum expectare atque ibi decertare constituisse. 4 Quod ubi Caesar comperit, omnibus iis rebus confectis, quarum rerum causa exercitum traducere constituerat, ut Germanis metum iniceret, ut Sugambros ulcisceretur, ut Ubios obsidione liberaret, diebus omnino decem et octo trans Rhenum consumptis, satis et ad laudem et ad utilitatem profectum arbitratus se in Galliam recepit pontemque rescidit.

In IV 20 ff. geht Cäsar seinen nächsten großen Grenzübertritt an – die (erste) Expedition nach Britannien …

Aber – Caesar hat‘s gegeben – Caesar hat‘s genommen: Nach zehn Tagen Bauzeit und achtzehn Tagen Aufenthalt jenseits des Rheins hat er gezeigt, a) wozu und was ein römisches Heer zu bauen in der Lage ist, und b) wie leichthin es dieses aber auch wieder zu tilgen bereit ist.

Die neue Grenze des imperium Romanum ist demonstriert und gesetzt: in Engers – Neuwied und am Rhein.

 

P.S.: Worin bestand überhaupt der Antrieb für einen römischen Pro-Magistraten wie Caesar, Provinzen zu ‚betreiben‘ und auch zu erweitern?

War es die bloße Dienstpflicht für den Staat, nach der einjährigen Amtszeit in Urbe das gleiche Amt für ein weiteres Jahr auch in einer der römischen Provinzen fortzuführen (und sei es nur, um den Verdienstausfall während der Tätigkeit in Rom durch Steuereinnahmen in der Provinz dann wieder ‚reinzuholen‘)?

Waren es politische Überlegungen – löblicher Einsatz zum Schutz für mit Rom befreundete Völker? Einfach: (auch persönliche) Machterweiterung, Veteranen-Versorgung? Oder standen am Ende nicht vielmehr längerfristig wirtschaftliche Interessen? Ackerbau, Viehzucht und Handel waren natürlich überall gegeben und bildeten die wirtschaftliche Grundlage, aber:

in Hispanien waren es die Gold-, Silber- und Zinn-Bergwerke, Britannien (Irland war in der Antike nahezu unbekannt) wird (→ Game of Thrones) mit den Eisen-Inseln in Verbindung gebracht (Zinn im SW, silberführende Bleiminen, Kohle in Mittelengland), Gallien bot wichtige Wasserstraßen und Knotenpunkte für den Handelsverkehr (Rhône, Lyon), Germanien Landwirtschaft und Handwerk (bekannt beispielsweise das Kölner Diatret-Glas): in Exkursen der Commentarii beschreibt Caesar aus seiner Sicht Gallier (VI 11-20), Germanen (21-28) und Briten (V 12-14) – auch hinsichtlich ihrer sozialen und Wirtschaftsstruktur.

Bereits in der Antike gab es die Bleivorkommen in der Gegend des heutigen Braubach oder das Römerbergwerk in Meurin (Tuffstein aus der Explosion des Laacher-See-Vulkans) als überregionalen Baustofflieferanten, und das Neuwieder Becken ist nicht erst seit heute ein Obst und Gemüsegarten.

Der-Mensch-Maengelwesen-oder-Krone-der-Schoepfung

Der-Mensch-Maengelwesen-oder-Krone-der-Schoepfung

Der Mensch ‑ Mängelwesen oder Krone der Schöpfung ?*

von Michael P. Schmude,  Boppard

aus: Anregung 43 (1997), S. 91-94            [Abiturrede 1996]

 

Die Menschen gehen ihres Weges und bewundern die Gipfel der Berge, die ungeheure Flut des Meeres, das Abwärtsgleiten der breiten Ströme, den Ozean in seiner Unermeßlichkeit und die Kreisbahnen der Sterne ‑ von sich selbst jedoch entfernen sie sich mehr und mehr“ ‑ so der italienische Dichter und Humanist Francesco Petrarca im 14. Jh. in einem Brief an Freunde (de fam. VI <IV 1>) ‑ wer oder was ist der Mensch ?

Diese Frage, in der Vorhalle des Apollontempels zu Delphi als Gebot formuliert ‑ das bekannte „gnṓthi seautón: erkenne Dich selbst“ der Sieben Weisen ‑, bewegt die spekulierenden Geister der Jahrhunderte ‑ im besten Sinne des Wortes speculari als ‚umherschauen, erforschen, beobachten‘. Aus der Frage nach der Ordnung der physikalischen Welt, dem Kosmos, die von den vorsokratischen Naturphilosophen des östlichen Mittelmeeres, von Thales v. Milet, von Pythagoras u.a., seit dem 7. vorchristlichen Jahrhundert aufgeworfen wurde, hatte sich die weitergehende nach der Entstehung menschlicher Gemeinschaft und Kultur ergeben. Wir denken aber auch an den Kyniker Diogenes ‑ den in der Tonne ‑ , wie er im Athen des 4. Jahrhunderts in Diensten desselben Delphischen Apoll am hellichten Tag mit einer Lampe umherläuft, um nach einem Menschen zu suchen (Diog. Laert. 6, 41).

Es war einst eine Zeit, wo es Götter zwar gab, sterbliche Geschlechter aber gab es noch nicht …“ beginnt ein Mythos, welchen Platon den Sophisten Protagoras vortragen läßt (Prot. 32o d ff). Danach bildeten die Götter die Lebewesen zur vorherbestimmten Zeit im Erdinnern aus einem Gemenge von Erde und Feuer und beauftragten das Brüderpaar Prometheus und Epimetheus ‑ den Vorherdenker und den Nachherdenker ‑ , diese ans Licht der Welt zu befördern und mit den hierfür erforderlichen Wesensanlagen auszustatten. Es gelang dem Epimetheus, seinen Bruder zu beschwatzen, ihm diese Aufgabe alleine zu überlassen, und so machte er sich ans Werk.

Er legte dabei zunächst auch einen erstaunlichen Verstand an den Tag: welchen er Stärke zugeteilt hatte, die bedurften nicht besonderer Schnelligkeit, mit dieser hingegen versah er die Schwachen und Kleinen, dazu mit Flügeln oder unterirdischer Behausung. Er vergab Felle gegen Hitze wie Kälte, Hufe und Klauen, wies den verschiedenen Arten verschiedene Formen der Ernährung zu, den einen Kräuter und Früchte, den anderen das Fleisch anderer Tiere; die Räuber begrenzte er in ihrer Vermehrung, während er der Beute durch entsprechende Zeugungskraft den Bestand ihrer Gattung sicherte …

Doch jetzt hatte er ein Problem: nach seiner auf den ersten Blick so umsichtigen Verteilung war nichts mehr für das letzte der sterblichen Geschlechter übriggeblieben, den Menschen. Als der Bruder Prometheus hinzukam und die Bescherung sah, wußte er nur noch dadurch Abhilfe zu schaffen, daß er der Athene die Handwerke und dem Hephaistos das Feuer stahl und den Menschen brachte; bekanntlich hat Zeus ihm dies niemals verziehen und ihn zur Strafe an eine Felswand schmieden lassen – es sollte eines Herakles bedürfen, um ihn später aus dieser wenig befriedigenden Lage zu befreien.

Der Mensch als Mängelwesen, ein Stiefkind der Natur ‑ weniger behende als die geflügelten Schwachen, den Starken unter den tierischen Geschlechtern an Kraft unterlegen und auch in seiner Vermehrung nicht unerheblichen individuellen Schwankungen unterworfen ‑ ist das der Mensch, von welchem der gleiche Protagoras den berühmt-berüchtigten Homo-mensura-Satz prägen sollte: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der Seienden, daß sie sind, der nicht-Seienden, daß sie nicht sind“ (VS 80 B 1) ? Platon hat die Unzulänglichkeiten des Einzelmenschen zum Beweggrund für den Zusammenschluß zu sozialen Gemeinschaften gemacht: die bürgerliche, die politische Fertigkeit hatte Prometheus freilich nicht stehlen können, die verwahrte Zeus einstweilen noch persönlich. In der Politeia sodann, Platons Staatsmodell, ergänzen sich die Menschen mit jeweils derjenigen Fähigkeit, die jeder Einzelne zur allgemeinen Bedürfnisbefriedigung beitragen kann (369 b 5 ff.): der Bauer stellt seinen Pflug nicht selbst her, auch der Arzt benötigt Schuhwerk, und der Kaufmann wird von Kopf- oder Bauchschmerzen geplagt. Allerdings bedarf es als ordnenden Elementes auch hier noch eines allgemeinen Rechtsempfindens.

Demgegenüber prägt Aristoteles den Begriff vom Menschen als Zṓon politikón (Pol. 1253 a 3), welcher später insbesondere für die Stoa (vgl. Cic. off. I 22 [Panaitios]; I 152‑61 [Poseidonios]) maßgebend wurde: wie Cicero es nach ihm formulieren sollte, sei Grund für das Zusammengehen nicht so sehr die Schwäche und Wehrlosigkeit als vielmehr ein gleichsam natürlicher Trieb des Menschen zur Geselligkeit, der Einsiedelei seinem Wesen nach scheue (rep. 1, 39). Es war Epikur, der Vielbemühte und meist Geschmähte, welcher beiden Vorstellungen, die zuvor schon nicht scharf voneinander zu trennen waren, in seinen Kulturphasen Rechnung trug ‑ soweit wir dies jedenfalls aus der dichterischen Kulturentstehungslehre seines römischen Schülers und etwas jüngeren Zeitgenossen Ciceros, Lukrez (5, 925 ff.), ersehen können: während zunächst einmal die äußeren, natürlichen Umstände auf den Menschen Zwang ausüben, sind erst in einem zweiten Schritt menschlicher Verstand und Überlegung Triebkräfte einer sozialen und kulturellen Entwicklung.

Kehren wir zurück zum Homo-mensura-Satz des Sophisten: wenn der Mensch das Maß ist ‑  wer setzt ihm das Maß, wer gibt ihm die Norm, wer zeigt ihm seine  Grenze ? Wo bleibt für ihn dann der Gott, die Ordnung über ihm ?

Als den Menschen die Erde nicht mehr genügte, bauten sie einen Turm, um in den Himmel zu gelangen, und als die chaotischen Giganten die Ordnung der Götter umstürzen wollten, türmten sie Berge gegen den Olymp auf ‑ wie es den Einen erging, erzählt uns das Alte Testament (Gen. 11), was den Anderen blühte, ist am Pergamon-Altar auf der Berliner Museumsinsel zu besichtigen. Doch nirgendwo wird der Mensch in seiner vermeintlichen Stärke und Souveränität so unerbittlich in seine Schranken gewiesen wie in den Über-Menschen der Attischen Tragödie: von Kreon, dem Herrscher über Theben, welcher sich in Staatsraison wider alle Menschlichkeit versteigt, bis zum Meisterdetektiv Ödipus in seiner intellektuellen, aber hybriden Brillanz, mit welcher er schon das Menschenrätsel der Sphinx gelöst und diese in Verzweiflung gestürzt hatte: zerschlagen, weil sie das ihnen ‑ eben doch ! ‑ gesetzte Maß überschritten haben. Nur einer will zum tragischen Helden nicht recht taugen: es ist der vielduldende Odysseus, der listenreiche, der um seine Schwächen weiß und schlau seine Stärken ausspielt ‑ und überlebt.

Ungeheuer ist viel, doch nichts ungeheurer als der Mensch – er herrscht über die Stürme des Meeres und die Erde mit ihrem Getier, herrscht über Rede und Gedanken, über Städte – nur dem Ort der Toten zu entgehen, das hat er nicht gelernt, Hochmut, Unrecht und Frechheit bringt er …„; in diesem Sinne läßt Sophokles den Chor der Antigone (332 ff.) sich vor deren Artgenossen verwahren: was hatte man sich nicht Alles untereinander angetan, stets mit gutem Grund, mit tragischer Notwendigkeit ‑ der Bruder den Bruder von Stadt und Herrschaft ferngehalten, der wiederum die Vaterstadt mit einem fremden Heer angegriffen und belagert, die Brüder sich schließlich im Zweikampf gegenseitig getötet, doch nur einer durfte bestattet werden, der Leichnam des anderen sollte Hunden und Vögeln zum Fraß dienen, die Schwester, die das Bestattungsverbot übertreten hatte, sah der Todesstrafe entgegen, ihr Verlobter, Sohn desjenigen, welcher Verbot wie Strafe erlassen hatte, beging darum Selbstmord, seine Mutter folgte ihm darin ‑ eine Familie, ein Katalog von Leichen ‑ der Mensch dem Menschen Wolf ‑ homo homini lupus …

Versöhnlicher ist nur die Komödie: „… ich bin Mensch, nichts Menschliches ist mir fremd“ ‑ mit diesem Bekenntnis läßt der Afrikaner Terenz ‑ nach einer hellenistischen Vorlage ‑ im 2. Jh. v. Chr. eine seiner Figuren sich selbst charakterisieren (Heautont. 77): doch welcher Mensch ist hier gemeint ‑ der Mensch als Mängelwesen oder der Mensch als Krone der Schöpfung ? Die beiden Quellenschriften zur alttestamentlichen Genesis, der (ältere) Jahwist (Gen. 2, 4b‑25) wie die (jüngere) Priesterschrift (Gen. 1, 1 ‑ 2, 4a) sehen in ihm Mittel- bzw. Höhepunkt der Welterschaffung, ausgestattet mit einer Art Freifahrtschein, sich diese untertan zu machen, könnte man meinen …

Doch bekanntlich behagte das Prunkstück auch seinem Erschaffer immer weniger, je weiter und breiter es sich machte, bis er schließlich die Große Flut schickte, um ‚klar Schiff‘ für einen neuen Anlauf zu bekommen (Gen. 6‑8); bei dem Griechen Hesiod (um 7oo vor) wie bei dem Römer Ovid einige Jahre nach Christi Geburt wird dies über die Deszendenz der Menschengeschlechter hinweg vom Goldenen bis zum Eisernen Zeitalter nötig (Erga 1o9 ff / Metam. 1, 89 ff; 244 ff): übrigens ist diese Vorstellung vom Mißraten des ersten Schöpfungsversuches ein gemeinsames Grundmuster menschlichen Denkens, denn in den Aufzeichnungen verschiedener Kulturvölker mit Schöpfungsberichten, von den Indianern Nordamerikas bis zu den Einwohnern des Zweistromlandes, bedarf es einer Sintflut, um das Mißlingen der Schöpfung noch einmal zu korrigieren. Nun ist dies natürlich kein beliebig wiederholbares Verfahren, und welcher Weg beschritten werden sollte, als auch der zweite Versuch mit der ‚Krone der Schöpfung‘ danebengeriet, findet sich im Neuen Testament gleich mehrfach aufgezeichnet ‑ ihren Mängeln war indes mit Verbesserungsvorschlägen nicht mehr beizukommen, da half nur noch Vergebung statt Strafe. Der Mensch sitzt längst schon im Dunkel des Jammertals.

Es ist der Humanismus, welcher den Menschen wieder in den Mittelpunkt rückt, nach den Möglichkeiten seiner eigenständigen Entfaltung wie nach seiner Daseinsbestimmung als Individuum fragt. Insbesondere der Renaissancehumanismus im Florenz des Quattrocento, im 15. und 16. Jahrhundert, stellt mit der Wiederentdeckung der Klassischen Texte der alten Griechen auch deren zentrale Frage nach der Eigenart des Menschen in den Vordergrund. Wiederaufgenommen im Neu-Humanismus der Deutschen Klassik, reicht seine Kraft trotz zeitgeistbedingter Anfechtungen mancher Epochen bis in unsere Tage, seine Notwendigkeit besteht in ebendem Maße, wie die Kernfrage, welche im Begriff Humanismus Programm geworden ist, auf eine erschöpfende Antwort dringt ‑ aber ist eine solche überhaupt vorstellbar ?

Nun ‑ wir werden dies hier und heute jedenfalls nicht leisten können, und das war auch mit diesem kleinen, eher willkürlich zusammengestellten Panoptikum ganz unterschiedlicher Auffassungen an keiner Stelle beabsichtigt. Vorgeführt werden sollte, wie die Frage nach Wesen und Bestimmung des Menschen aufgeworfen und zeitlos formuliert, kontrovers und zeitbedingt diskutiert, uns Späteren aller Zeiten als Hausaufgabe mit auf den Weg gegeben wurde. In der Auseinandersetzung mit, in Annahme wie Zurückweisung bereits gegebener Antworten, liegen Möglichkeiten, in der Erkenntnis unserer Grenzen wie unserer Verantwortung gegenüber dem Ganzen, in dem von uns geforderten, wohlverstandenen Respekt vor der Schöpfung und ihrer Wohlgeordnetheit, ihrer Eu-kosmía, ein Stück weiter aus dem Neandertal herauszutreten.

Lahnstein, 28. Juni 1996                                                Michael P. Schmude

 

*Erstfassung in: Anregung – Zeitschrift für Gymnasialpädagogik (s.o.); fortlaufend überarbeitet und erweitert in: www.ulisseweb.eu: Official documents – Papers of Malta Convention 09.04-05.2006 sowie Der Mensch – von Prometheus bis Sartre: ein philosophischer Par-Cours, in: Lingue Antiche e Moderne 2 (2013), 79-104.

 

 

Noch-ist-Griechisch-nicht-verboten

Noch-ist-Griechisch-nicht-verboten

„Noch ist Griechisch nicht verboten“

Europäische Identität auf dem gemeinsamen Fundament lebendiger Inhalte einer <alten> Sprache

 

meine junge tochter fragt mich

griechisch lernen wozu

sym-pathein sage ich

eine menschliche Fähigkeit

die tieren und maschinen abgeht

lerne konjugieren

noch ist griechisch nicht verboten.

(Dorothee Soelle)

 

Am Humanistisch-Altsprachlichen Gymnasium wird als in Klasse 8 neueinsetzende (obligatorische) dritte Fremdsprache zwischen Griechisch und Französisch gewählt, also zwischen einer weiteren Alten oder einer weiteren Neuen Fremdsprache.

Wenn nun anläßlich dieser Wahl die Alte Sprache Griechisch ‚zur Debatte‘ steht, muß man als Erstes vielleicht eine grundsätzliche Unterscheidung vornehmen: Griechisch ist für den modernen Schulunterricht ein Literaturfach, während das Französische vorwiegend auf Kommunikation ausgerichtet ist, und hieraus ergeben sich völlig andersartige unterrichtliche Inhalte und Ziele dieser beiden Sprachenfächer.

Zunächst aber möchte ich gleich vorweg die beiden Haupteinwände ansprechen, die mir immer wieder entgegengehalten werden, sobald ich über Sinn und Zweck des Griechischen am Gymnasium rede:

1.) Eine alte Sprache (Latein) ist genug; keine zweite „tote“ Sprache …

2.) Was kann man überhaupt damit anfangen, was habe ich davon, wenn ich Griechisch lerne …?

Ich möchte mit dem Zweiten beginnen:

Wie jeder mehr oder minder wackere Pennäler habe auch ich mich während meiner Schulzeit in der Mathematik beispielsweise mit Kurvendiskussion, Vektorrechnung, geometrischen Konstruktionen, in der Biologie mit dem faszinierenden Phänomen der Photosynthese, in der Erkunde mit den klimatischen Bedingungen am Äquator oder im Innern Australiens befaßt – ohne Ausnahme sinnvolle und wichtige Wissensgebiete, welche mich geschult und meinen Horizont erweitert haben, Bereiche, die Bildung ausmachen; doch wenn ich beantworten müßte, was ich nun konkret davon gehabt hätte, daß ich dieses betrieben habe, oder was ich vielleicht beruflich damit habe anfangen können, so käme ich vermutlich in Verlegenheit.

Auf der anderen Seite und damit zum ersten Einwand:

wenn es bei der Beschäftigung mit dem Griechischen alleine darum ginge, die altgriechische Sprache zu lernen, Altgriechisch parlieren zu können, dann gälte das Argument in der Tat: eine heute nicht mehr gesprochene Sprache ist genug – hingegen: darin besteht eben nicht das Anliegen des Faches; es handelt sich hier nicht um das bloße Erlernen einer zweiten Alten Sprache, die Spracherlernung ist im Griechischen nur Mittel zum Zweck auf dem Wege zur griechischen Literatur (und Kultur überhaupt).

Und ein dementsprechend gestraffter Durchgang durch die Spracherlernung wird praktiziert durch ständiges Heranziehen dessen, was man in der ersten Alten Sprache Latein (welche geschichtlich gesehen eine Tochter der zweiten, griechischen ist) bereits behandelt hat: sowohl im Vokabular als auch in der Grammatik, in allen wichtigen syntaktischen Erscheinungen, in Infinitiv- wie Partizipialkonstruktionen, Kasusfunktionen wie Nebensatzarten läßt sich das im Lateinischen Gelernte unmittelbar im Griechischen wiedererkennen und anwenden; ein nicht zu verachtender Aspekt ist dabei, mögliche Unsicherheiten oder Lücken aus dem Lateinunterricht durch diese Form der Wiederholung im Griechischen zu festigen bzw. zu schliessen. Die positiven Wirkungen für das Beherrschen von Grammatik schlechthin, für das Wissen darum, wie Sprache überhaupt ‚funktioniert‘, also nicht zuletzt für die eigene Muttersprache Deutsch, kommen hinzu.

Auch das vermeintlich so fremde griechische Alphabet zeigt sich bei näherem Hinsehen als Mutter unseres lateinischen (die Griechen hatten bereits im 8. Jh. v. Chr. Sizilien und Unteritalien kolonisiert und dabei ihre westgriechische Schrift an die Stämme Italiens, namentlich die Römer in Latium weitergegeben): besonders deutlich im Bereich der Großbuchstaben, lassen sich auch die meisten Kleinbuchstaben des griechischen Alphabets ohne große Mühe den entsprechenden unseres lateinischen zuordnen; und nimmt man die aus der Mathematik bekannten Zeichen für die Winkel sowie die festen Zahlen Pi und Rho hinzu, so reduziert sich der tatsächliche Bestand der neu zu erlernenden Zeichen sehr schnell auf eine Handvoll. Zum Ausgleich dafür wird im Griechischen aber auch Alles genauso geschrieben wie es ausgesprochen wird.

Aufgrund dieser zügigen Hinführung durch die Spracherlernungsphase zur griechischen Literatur läßt sich der zweite, bereits angeführte Einwand gegen die erneut Alte, „tote“ Sprache Griechisch („was hab‘ ich davon ...“) zuspitzen auf die Frage „… was hat man von der Beschäftigung mit Literatur ?“ überhaupt – zumal mit derjenigen, welche nicht weniger als das Fundament unserer abendländischen Literatur im Ganzen darstellt.

In den o.g. (und durchaus willkürlich gewählten) Beispielen aus Mathematik, Biologie oder Erdkunde war von dem Wert dieser Gegenstände gesprochen aufgrund dessen, was sie im Menschen / in uns schulen, in welcher Weise sie uns bilden und formen, welche erwünschten Veränderungen sie in unserem Denken bewirken. Nun ist Bildung und Formung natürlich nicht allein per se, sondern vordringlich in dem Maße wünschenswert, wie auch Inhalt und Richtung dieser Bildung und Formung als wünschenswert angesehen werden. Und hier hält das Fach Griechisch ein reiches und vielfältiges Angebot bereit:

  • Wir haben mit Homer die erste faßbare Figur, mit Ilias und Odyssee nicht nur den Anfang, sondern zugleich bereits Höhepunkte der europäischen Literaturgeschichte. Handlungsmotive wie Persönlichkeiten des griechischen Epos bleiben grundlegend für künftige Formen von Dichtung.
  • Der griechische Mythos ist nicht allein erstes Erklärungsmodell einer Geschichte der Völker, er stellt – als ursprünglichste Form philosophischen Fragens – auf bildhafte Weise Grundprobleme der menschlichen Existenz an exemplarischen Gestalten dar, zeigt ihr Ringen, Bewährung wie Scheitern, um Fragen wie die der Willensfreiheit und Selbstverantwortlichkeit des Menschen, seiner Einbettung und Funktion innerhalb eines gesellschaftlichen Gefüges, seines Verhältnisses zum Göttlichen und zum Schicksal, den Konflikten zwischen Macht und Recht, zwischen Ethos und Nutzen u.a.m.: der literarische Ort, an welchem die griechische Literatur zur Auseinandersetzung mit solchen Fragen aufruft, ist die Attische Tragödie des Aischylos, Sophokles und Euripides.
  • Neben der attischen Tragödie bildet die griechische Komödie das zweite Standbein der europäischen Theatertradition: politische Satire, vergleichbar unserem Kabarett, in der Alten Komödie des Aristophanes, bürgerliches Lustspiel im Stile etwa eines Ohnesorg-Theaters in der hellenistischen Komödie des Menander: über Molière, Shakespeare und Lessing wie die Tragödie auf den Spielplänen auch heutiger Theaterhäuser weiterlebend.
  • Mit Herodot und Thukydides beginnt eine Form der Geschichtsschreibung, welche in Quellenanalyse und selbstständigem Forschen (Aut-opsie) eine Methode entwickelt, die sich selbstbewußt von der Fabulierkunst der vorangegangenen Geschichtenerzähler absetzt und als die historisch-kritische auch moderner Geschichtswissenschaft zugrundeliegt.
  • Die Naturphilosophie der Vorsokratiker hatte eine rationale Erklärung des Aufbaus der physikalischen Welt und eine ebensolche Deutung der in dieser wirkenden Kräfte unternommen, hatte bereits nach dem Urgrund der Materie gefragt und dabei u.a. die Elementenlehre sowie die Vorstellung vom Atom entwickelt. Sokrates und Platon holen die Philosophie zum Menschen zurück, lenken diesen durch unablässiges Fragen zu einem Handeln hin, welches an ethisch-sittlichen Maßstäben orientiert ist, stellen zusammen mit Aristoteles die Grundformen menschlichen Zusammenlebens vor und suchen nach dem idealen Staat. Die von Platon und Aristoteles in ihren uns überlieferten Schriften aufgeworfenen Fragen nach den Bedingungen des menschlichen Daseins sind die Fragen, die auch heute gestellt werden – in der griechischen Antike vorweg formuliert, thematisiert, problematisiert: in der Auseinandersetzung mit ihren (zeitbedingten) Antworten, in Annahme wie Zurückweisung, können wir unsere eigenen Lösungen finden. Dieses Angebot ist über-zeitlich.
  • Die wissenschaftliche Medizin beginnt mit dem Namen des Hippokrates und seiner Schule, Aristoteles unterscheidet und begründet erstmals naturwissenschaftliche Disziplinen in einem auch modernen Sinne.
  • Das theoretische ‚System der Rhetorik‘, angewandt und überprüft in der Praxis der attischen Beredsamkeit von Rednern wie Isokrates oder Demosthenes, hat die Maßstäbe zur Beurteilung jeglicher politischer Rede, ihrer (argumentativen) Struktur, ihrer äußeren Form sowie ihrer Wirkabsichten, grundgelegt und schult uns heute in Blick auf ein ‚Anschauungsmaterial‘, welches unsere Parlamente in Fülle bieten. Gesellschaftstheorie und politische Praxis nehmen ihren Ausgang in Griechenland, und die Geburtsstunde demokratischer Verfahren findet statt auf dem Areopag in Athen.

 

Wir sind (mittlerweile) weit davon entfernt, die geistige und reale Welt der griechischen Antike als eine ideale, ewig und unumstößlich gültige zu betrachten, die „stille Einfalt und edle Größe„, welche Winckelmann anfangs des 19. Jh. noch zu erkennen glaubte, taugt nicht als Lebensmodell für das neue Jahrtausend – das tat (und wollte) sie, wohlverstanden, freilich zu keiner Zeit: die griechische Psyche nimmt die Frage nach dem Menschsein vorweg, nach dem Rätsel, das die Sphinx dem Oedipus aufgab, sie zeigt die Höhepunkte wie die Abgründe der menschlichen Seele aller Zeiten, aber sie fragt auf eine grundlegende wie einzigartige Weise nach diesen so eindringlich und kompromißlos, daß sich die Literaturen der folgenden Jahrhunderte bis in das unsere mit diesen zeitlos aktuellen Fragen auseinandersetzen und im Sich-Reiben an den – durchaus nicht immer einmaligen und exemplarischen – Antworten der Griechen ihre je eigenen Standpunkte finden und schärfen. Der ‚Fall Antigone‘ findet Interesse nicht wegen der Art seiner Lösung, die natürlich eine des 5. vorchristlichen Jahrhunderts ist, sondern wegen der von Antigone aufgeworfenen und durchgeführten Frage nach der Rangordnung von Gesetzen der Menschlichkeit vor abstrakter Staatsraison; er bleibt als Problemstellung Vorgabe und Modell literarischer Behandlung noch bei Anouilh in den fünfziger Jahren unserer Zeit – abschließend beantwortet ist er bis heute nicht. Und natürlich haben alle Nationalsprachen Europas auch ihre je eigenen, lesenswerten Literaturen entwickelt – aber sie stehen auf den Schultern der griechischen, und man wird jene besser verstehen, wenn man diese zuerst einmal kennengelernt hat.

 

Doch nicht nur die literarische Fülle, sondern auch weitere Aspekte der Kulturgeschichte sind im Griechischunterricht präsent und werden in unseren modernen Lehrwerken von Beginn an mit einbezogen: kein Sprachenlehrgang ohne griechische Kunst, Archäologie und Architektur, kein Sprachenlehrgang ohne das antike Staatswesen oder politische Theorie, kein Sprachenlehrgang ohne Philosophie, Mythologie oder Religion. Die ganze Vielfalt der griechischen Literatur ist in den Lesestücken der Lektionen vertreten, die verschiedenen Bereiche der griechischen Kultur werden in Sachtexten den Lektionen beigegeben (Die attische Demokratie, der griechische Tempel, Spiel und Sport in der Antike, Delphi, Wirtschaft und Gesellschaft, Theater und Schulwesen u.a.m.) sowie mittels Foto- und Filmmaterial im laufenden Unterricht anschaulich gemacht.  Zwei Beispiele indes mögen den direkten Bezug antiker, hier historisch-politischer auf entsprechende heutige, aktuelle Konstellationen im Einzelfall verdeutlichen:

  • Der obengenannte Historiker Thukydides berichtet in seiner Darstellung des Peloponnesischen Krieges zwischen Athen und Sparta vom Auftritt einer attischen Gesandtschaft vor dem Stadtrat von Melos, um die kleine, neutral gebliebene Kykladeninsel in den Attischen Seebund zu zwingen. Die unverhohlene imperialistische Ideologie, welche in den Reden der Athener herausbricht, ebenso wie die dagegen angekündigten Gegenkräfte, welche jede Überspannung von Macht notwendig heraufführe, bilden das Spiel rivalisierender Großmächte jüngster Zeiten und deren Umgang mit Kleineren innerhalb ihrer Interessensspähren zeitlos ab – wer sich mit diesen gedanklichen Zeugnissen vom Treiben antiker Großmächte befaßt hat, sieht dasjenige der modernen differenzierter und bewußter.
  • Der gleiche Autor führt dem Leser die politische Debatte um die sogenannte ‚Sizilische Expedition‘ vor, ein Paradebeispiel politischer Manipulation der Massen: ein Angriff auf die mit Sparta verbündeten, mächtigen Städte Siziliens mußte in seinem Ausmaß die Kräfte Athens entscheidend überfordern, doch im Rededuell vor der Volksversammlung setzen sich die warnenden Argumente des besonnenen Feldherrn Nikias nicht durch; vielmehr gelingt es der brillanten, aber skrupellosen Rhetorik des Alkibiades, seine Zuhörer für dieses später so verhängnisvolle Unternehmen zu begeistern – wer diesen Demagogen vor seinem geistigen Auge erlebt hat, hört im Zeitalter der Mediendemokratie das politische Wort in Parlamenten, bei Kundgebungen, auf Versammlungen klarer und bewußter, ist geschult, dessen Lockungen nach hier wie da mit der gebotenen, kritischen Distanz zu begegnen, ist frei gegenüber ideologisch-bornierten – und damit recht eigentlich antiquierten – Festlegungen, ist frei letztlich gegenüber jeder Art von Bildern , welche uns zu schnellem, eilfertigem Konsum von Meinungsmachern vorgefertigt überfluten. In diesem Sinne ist Humanistische Bildung Emanzipation, „Freisetzung eines [kritischen und souveränen] Menschen in seine Wirklichkeit“ (H.J. Heydorn, Physiker).

Kaum wird man aus den Lehren, welche diese (und weitere) Fallbeispiele vermitteln, gleich einen Beruf machen wollen – doch hat man wirklich nichts davon, die gesellschaftlichen, die politisch-historischen Vorgänge um Sich selbst herum mit an solchen Stoffen geschärfter Aufmerksamkeit und vor einem solchermaßen verbreiterten Horizont wahrzunehmen ??

 

Nun wird von Seiten derer, die diese geistesgeschichtliche Grundlagenfunktion des Griechischen für unser modernes Denken durchaus anerkennen, aber immer wieder vorgebracht, man könne die literarischen Zeugnisse der Griechen doch auch in Übersetzungen lesen und brauche sich darum nicht erst mit der griechischen Sprache zu befassen. Dem ist folgende Überlegung entgegenzuhalten:

Eine Übersetzung ist stets nur die erste Form von Interpretation: man braucht bloß fünf verschiedene (gedruckte) Übersetzungen eines Abschnittes beispielsweise aus Platon oder Homer nebeneinanderzulegen und wird bald feststellen, daß man fünf verschiedene Versionen desselben Textes vor sich hat – und mit dem griechischen Original dann noch die sechste. Eine Übersetzung kann (und will) niemals Ersatz für das Original sein.

 

Letzter, auch im plakativen Sinne „nützlicher“ Aspekt des Griechischunterrichtes: das heutige, moderne Neu-Griechisch ist in seiner Schriftsprache dem Altgriechischen weitgehend gleichgeblieben, die Aussprache (besonders einiger ziemlich häufiger Vokale) hat sich geändert, hinzu kommen Wortkontraktionen und südländisches Sprechtempo. Wenngleich man also heute am Omonia-Platz in Athen ein Gespräch zwischen zwei Griechen als etwas eher Fremdartiges empfinden wird, braucht man als „Altgrieche“ nur eine Tageszeitung aufzuschlagen und zu lesen beginnen, um sogleich zu wissen, wo man ist. Nicht zu verachten ist schließlich die Hilfe, welche die griechische Sprache zum Verständnis des technischen Vokabulars bzw. der Fachsprache in den Naturwissenschaften, der Medizin, Pharmazie und Psychologie bereitstellt, bei deren Termini es sich weitestgehend um (vielfach noch anglisierte) Graezismen handelt (ohne daß man sich dessen heute bewußt ist – telekinetisch oder autogen, psychosomatisch oder schizophren ?).

 

Man hört auch häufig, Griechisch könne man noch an der Universität lernen, doch ist dies gleichfalls ein Fehlglaube: was in den entsprechenden Universitätskursen angeboten wird, ist ein Schnelldurchlauf in kürzester Zeit durch den Sprachenlehrgang, in welchem man darauf getrimmt wird, zu einem bestimmten Zeitpunkt einmal einen (mittelschweren) Platon-Text wenigstens ausreichend übersetzen zu können; für Literatur-, geschweige denn Kulturunterricht, welcher zudem eine ideale, weil von den Fundamenten ausgehende Vorbereitung für das Studium einer jeden neueren europäischen Literatur darstellt, bleibt da kein Raum. Man hat ‚den Schein‘; man hat Graecum (und für ein paar Studienfächer muß man ein solches auch nachweisen), aber mit Griechischunterricht im oben skizzierten Sinne hat dies wenig zu tun.

 

Ein Problem bleibt freilich: man wählt das Eine, um das Andere zu lassen, und auch das Andere, Französisch, ist ohne jeden Zweifel sinnvoll und wichtig – am besten wäre es, man könnte Beides haben !

Die Entscheidung sollte unter dem Aspekt fallen: was kann ich in dieser Form nur am Gymnasium bekommen, und was wird mir auch noch anderswo angeboten. Möglichkeiten, Französisch oder jedwede andere moderne Fremdsprache zu erlernen, bieten VHS, inlingua, Dolmetscherinstitute u.a., und die sprachliche Schulung, welche man durch den Latein- und Griechischunterricht bereits erhalten hat, ermöglicht ein relativ problemloses Aneignen jeder weiteren modernen Fremdsprache (zumal man noch gar nicht weiß, ob man später nicht anstatt Französisch vielmehr Spanisch, Portugiesisch, Italienisch, Holländisch o.a. beruflich benötigt).

 

Könnte man nun Griechisch nicht auch in Form einer AG neben Französisch (als regulärer Fremdsprache) oder aber als vierte Fremdsprache nach Französisch als Dritter betreiben ?

Eine AG oder ein nur noch vierjähriger Unterricht etwa ab Klasse 10 kommt über die Vermittlung von – durchaus ordentlichen – Sprachkenntnissen selten hinaus. Griechisch in einer AG (mit entsprechend wenigen Stunden) oder als vierte Fremdsprache kann darum sein zweites, sein Hauptanliegen, nämlich zur Literatur hinzuführen, kaum verwirklichen. Französisch hat dieses doppelte Anliegen, Sprache und Literatur, nicht in gleicher Weise, so daß Sprachkenntnisse durch eine AG oder Französisch als 4. FS das wichtigste Ziel des Französischunterrichtes, Kommuni-kationsfähigkeit in allen wesentlichen Bereichen des Alltags, bereits erreichen. Diese kann durch eine der o.g. Formen (VHS, inlingua, Dolmetscherinstitute) ohne weiteres fortgeführt, vertieft und erweitert werden.

In diesem Sinne besteht an mancher Schule die Möglichkeit, ab der Klasse 10 zwischen Französisch und Spanisch noch einmal eine vierte Fremdsprache hinzuzuwählen, gerade auch um die unselige und sachfremde Konkurrenz zwischen Alter und Neuer Sprache mit ihren ganz unterschiedlichen, jeder für sich aber bereichernden Zielsetzungen auszuräumen, eben um das Eine wählen zu können, ohne das Andere lassen zu müssen.

 

Im Zeichen des Zusammenrückens der Völker Europas, des Suchens (und Findens) einer gemeinsamen europäischen Eigenart bleibt die griechisch–römisch–christliche Herkunft und Gegenwart das einheits- und identitätsstiftende Band. Und wer darum an den Grundlagen unseres abendländischen Kulturraumes, an den Anfängen der Geschichte Mitteleuropas und ihren Entwicklungslinien bis in die heutige Zeit Interesse findet, wer sich den Gedanken zu eigen machen kann, daß „… wer nicht weiß, wo er herkommt, nicht weiß, wer er ist …“ (G.), wer Freude an Dichtung, Zugang zu den Grundfragen der Philosophie hat, wer einen Wert ‚an sich‘, einen Sinn in der Beschäftigung mit Literatur sieht, welcher ihm etwas bringt, von welchem er etwas hat (s.o. !), dem macht das allgemeinbildende Grundlagenfach Griechisch ein reiches und bereicherndes Angebot auch und gerade für das neue, noch junge Jahrtausend, und noch ist es – wie gehört – nicht verboten …

 

Michael P. Schmude

 

aus: Festschrift 80 Jahre Johannes-Gymnasium Lahnstein, hrsg. v. A. Bell, K.W. Müller, M.P. Schmude (2001), S. 182-190.

Vgl. auch → www.Ulisseweb.eu – Official Documents of the Perugia Convention 06.26.2006.

Latein-fuer-das-21-Jahrhundert

Latein-für-das-21-Jahrhundert

Latein für das 21. Jahrhundert –

Grundlagenfach eines europäischen Gymnasiums

 

Unter zwei Vorzeichen mag man sich die Frage stellen, warum Latein als erste Fremdsprache gewählt wird: Latein ist zum einen (unbestritten) die Basissprache Europas – dazu später –, gleichwohl begegnet man zum anderen immer wieder dem Einwand, was man denn damit anfange, was man davon habe, wofür man das gebrauchen könne, was es Einem denn nütze, eine – angeblich – ‚tote‘ Sprache zu lernen.

Einmal abgesehen von der überaus lebendigen Wiedergeburt, die das Lateinische erlebt, sobald man in eine andere europäische Fremdsprache hineinhört, wird hier zunächst ein Blick in Nachbarfächer helfen: Differentialrechnung, Kurvendiskussion oder Vektoren – welche berufliche Nutzanwendung beschert beispielsweise die Mathematik, welchen konkreten, zählbaren Gewinn bringt das – unverzichtbare – Abiturwissen in diesem Fach ? Und stellt sich für viele Themen in weiteren Schulfächern wie Erdkunde, Biologie oder Geschichte, ohne die eine Allgemeine Bildung eben keine mehr wäre, die gleiche Frage nicht ebenso ? Was ‚bringt es‘, die klimatischen Verhältnisse am Äquator, Fauna und Flora der westsibirischen Taiga oder aber die Revolution in Deutschland von 1848 kennengelernt zu haben ?

Geht es nicht vielmehr darum, welche sehr wohl erwünschten Auswirkungen und Veränderungen die Beschäftigung mit einem Schulfach in unseren Köpfen, unserer Gedankenwelt erzielt, ‚angerichtet‘ hat, in welcher Weise sie uns geformt, geschult – gebildet hat ? Greifen wir nicht in späteren Jahren wie selbstverständlich auf Denkanlagen und -modelle zurück, für die wir sehr dankbar sind, daß wir über sie verfügen, ohne uns noch bewusst zu sein, wo wir sie vermittelt bekamen – logisches Denken und systematisches Strukturieren – notwendig und wertvoll für jede berufliche Tätigkeit, über-fachliche Fähigkeiten (nicht nur, aber doch in erheblichem Maße) aus dem Latein- und dem Mathematikunterricht am Gymnasium.

Ganz anders als bei den Neuen Sprachen, deren Gebrauchswert man mühelos, in wenigen Sätzen auf jedem Plakat griffig propagieren kann (und doch gar nicht muss, da er außerhalb jeder Frage steht), liegt der ‚Nutzen‘ des Lateinischen nicht von vornherein und so vordergründig auf der Hand: er tut sich erst demjenigen auf, welche/r sich (und immer auch erst, nachdem sie/er sich) darauf eingelassen hat.

Daß Latein freilich ’schwerer‘ sei als andere Sprachen, gehört in den Bereich der Sage: jede Spracherlernung stellt auf ihre Weise Anforderungen, Vokabeln und unregelmäßige Verben gehören nun einmal dazu wie mathematische Regeln oder Formeln in Physik und Chemie (– vor einer Schwierigkeit nicht gleich davonzulaufen, sondern sich einer Anforderung auch einmal zu stellen und ‚durchzubeißen‘, ist im Übrigen nicht das schlechteste Erziehungsziel). Der Unterschied liegt vielmehr darin, daß der klare, durchstrukturierte Aufbau der lateinischen Sprache ein stufenweises und systematisch-analytisches Erlernen möglich macht mit dem Ziel darauffolgenden Literaturunterrichtes, während in den Neuen Sprachen ein unmittelbarer, unreflektierter Zugriff auf die Kommunikationsfähigkeit, ein ‚Parlieren‘ angestrebt wird – dabei ist es eigentlich müßig, darauf hinzuweisen, daß in allen Unterrichtsfächern die gesetzten Ziele in durchaus unterschiedlichem Maße auch erreicht werden.

 

I . Latein als Muttersprache Europas – Basisvokabular und Modellgrammatik

 

Bekanntlich haben sich die heute gesprochenen, Neuen Sprachen Mittel-und Südeuropas aus dem umgangssprachlichen Alltagslatein des 5. und 6. Jahrhunderts herausgebildet, sind im eigentlichen Sinne regionale, später nationale Dialekte des spätantiken Vulgärlateins. Neben dem Vokabular, welches in den romanischen Sprachen Italienisch, Spanisch, Portugiesisch, Französisch, Rumänisch zu über achtzig Prozent, im Englischen zu zwei Dritteln aus dem Lateinischen stammt, sind auch die einzelnen Grammatiken Lateinische geblieben; nicht zuletzt unsere eigene, deutsche Grammatik lässt sich von der lateinischen her erst recht erschließen. Der umfangreiche Bestand an Fremd- und Lehnwörtern im Deutschen allgemein, in den einzelnen Fachsprachen insbesondere, sowie an naturwissenschaftlich-medizinisch-technischem Vokabular (Computer – Informatik – Processor u.a.m.) ist direkt oder indirekt ein Lateinischer.

Man kann das lateinische System als klarstes Modell dafür nutzen, aus welchen Elementen Sprache überhaupt besteht, wie sie aufgebaut ist und funktioniert, als sprachlichen Setzkasten, in dessen einzelne Kammern man neben die lateinischen Ausgangsfiguren die jeweiligen deutschen Entsprechungen einordnen wird, sodann diejenigen im Englischen, Französischen, Spanischen … usw. Diese Form grammatikalischer Behandlung eines sprachlichen Systems als Fundament und Ausgangspunkt, als Schlüssel für das Erlernen weiterer, hiervon abgeleiteter Sprachen wird allein im Fach Latein betrieben, während sie im neusprachlichen Unterricht bewusst in den Hintergrund gerückt ist. Man hört häufiger, daß Latein als Sprache stehengeblieben sei, daß hier nichts Neues mehr komme – genau dies macht Latein als allgemeinverbindliches, sprachliches Grundlagenmodell umso tauglicher !

 

II. ‚Logisches Denken‘

 

Latein erzieht von Beginn an zu aufmerksamem Hinsehen und genauer Einordnung des Beobachteten, Grundlagen für jeden analytischen Umgang mit zunächst einmal fremden Texten. Diese Art sorgfältiger Sprachreflexion schult ein Verwenden gesprochener wie geschriebener sprachlicher ‚Bausteine‘, deren einzelne Elemente nach festgelegten Kategorien geordnet und systematisch aufeinander bezogen sind – Grammatik im besten Sinne als Grundlage einer Sprachbetrachtung auch in den Tochtersprachen Europas.

Daß gerade bei der Übersetzung ins Deutsche, die niemals eine wortwörtliche sein kann (und will), stets um den bestmöglichen Ausdruck, eine treffende, den Sinn präzise wiedergebende Wendung ‚gerungen‘ werden muss, führt zu einem deutlichen Mehr an muttersprachlicher Kompetenz, Ausdrucksvielfalt und Sprachgefühl. Eine angemessene Wiedergabe lateinischer Satzbauteile und -konstruktionen, die im Deutschen keine deckungsgleiche Entsprechung haben, trainiert ein hohes Maß an Abstraktions- und Übertragungsfähigkeit (Transfer) beim Auffinden des sinngemäßen Pendants im Deutschen.

Die regelmäßige interpretatorische Arbeit im Lateinunterricht bildet methodisch die Fähigkeit aus zur systematischen Analyse, zu gedanklicher Gliederung, Schlußfolgerung und Darstellung von Texten auch der eigenen, deutschen Literatur. Und damit ist zugleich das Stichwort gegeben, welches zum entscheidenden, freilich erst längerfristig und oftmals indirekt wirksamen ‚Nutzen‘ des Lateinunterrichtes führt – zum Methodenwissen, welches fachunabhängig für einen späteren Hochschulgang zu einer weitaus höheren, allgemeinen Studierfähigkeit führt als jede fachspezifisch erworbene Detailkenntnis in einem naturwissenschaftlichen Leistungskurs.

Latein als Denkschule, als ‚Trimm-Dich-Pfad‘ für die ‚kleinen grauen Zellen‘, als Ausweis von Genauigkeit und Unterscheidungsfähigkeit, von geistiger Beweglichkeit und Durchhaltevermögen ist nicht das schlechteste Zeugnis persönlicher Leistungsbereitschaft für Vorstellungsgespräche gerade bei Unternehmen der freien Wirtschaft: Spezialist wird man in jedem Beruf von allein – und das wissen dort auch die Personalchefs.

 

III. Grundlagenliteratur und -kultur Europas

 

Nicht zuletzt aber ist die lateinische Literatur , zu welcher die lateinische Sprache über das vorher Gesagte hinaus gleichfalls führt, für unsere europäische Literatur stets und nach wie vor prägend geblieben – Horaz für die lyrische, Vergils Aeneis für die epische, Plautus, Terenz und Seneca für die dramatische Dichtung (alle in der Nachfolge und als Vermittler griechischer Originale), in mehreren Prosadisziplinen Cicero: das von den Griechen herkommende System der antiken Rhetorik (in der schriftstellerischen Theorie wie in der politischen Praxis seiner Gerichts- und Staatsreden), die Staatsentwürfe (mit ihren vielfältigen Fragen nach dem Zusammenspiel der gesellschaftlichen Kräfte, nach dem Kreislauf der Verfassungsformen [Monarchie, Aristokratie, Demokratie sowie ihren Entartungen], nach dem Verhältnis von Macht und Recht, dem Konflikt von Ethos und Nutzen, der Verantwortung des Einzelnen gegenüber den Belangen der Allgemeinheit), der Kanon römischer Jurisprudenz, die philosophischen Systeme Epikurs, der Akademie Platons, des aristotelischen Peripatos und der Stoa sollten in einem ersten Schritt in lateinischem Gewand seinen römischen Landsleuten vermittelt werden, stehen durch diese lehr- und schulmeisterliche Großtat aber auch heutiger Betrachtung und kritischer Weiterentwicklung zur Verfügung.

Die Haltung des Stoikers Seneca unter einem tyrannischen Regime, seine Bewertung der Lebenszeit wie seine Haltung zum Tod, Glück und Freiheit des Menschen gegenüber Göttern und Schicksal, die gelassene Souveränität der Individualseele: formuliert werden hier grundlegende Daseinsfragen, welche zeitlos geblieben sind – im Kontrast zu ihrer Zeit und Lebenswelt sehen wir die eigene klarer, in der Auseinandersetzung mit ihren zeitbedingten Antworten finden wir Orientierung auf dem Weg zu eigenen. Im ständigen ‚Sich-Reiben‘ an den Lebensmodellen der 2000 Jahre entfernten und doch so nahegebliebenen Antike erschließen wir uns unabhängig von modischen Trends und Mainstreams und eigenständig gegenüber Parolen und Einflüsterungen eines beliebigen Zeitgeistes das uns je Zuträgliche (– diese kritische Individualität und geistige Souveränität hat die Vertreter der Alten Sprachen und ihrer Literaturen besonders totalitären Menschheitsbeglückern von links bis rechts stets suspekt gemacht).

Die mythologische Welt der Metamorphosen Ovids ist allen Gattungen der Bildenden Kunst ein motivischer Steinbruch gewesen, Geschichtsschreibung (Sallust, Livius, Tacitus) findet bis in die (frühe) Neuzeit in lateinischer Sprache statt, die kaiserzeitliche Architektur Vitruvs bleibt Grundlage für die moderne Baukunst ebenso wie Quintilians Ausbildung des Redners für die Entwicklung der Rhetorik oder der spätantike Codex Iustinianus für das europäische Rechtswesen. Römische Alltagskultur und Öffentlichkeit, privates wie staatliches Leben, in der Antike in alle Teile des Imperium Romanum getragen, geben das Muster für die spätere, gemeinsame europäische Entwicklung vor; diese Linien werden im Lateinunterricht aller Klassenstufen anschaulich gemacht, und entsprechende Sachkapitel begleiten von Beginn an bereits die Spracherlernung.

Nehmen die angesprochenen Themen aus Philosophie, Staatslehre, Wirtschaft, Kultur u.a. in Latein auch breiten Raum ein, so sind sie gleichwohl auf dieses Fach gar nicht zu beschränken: die ganze Vielfalt abendländischen Geisteslebens, dessen antike Grundlagen den Untergang des Römischen Reiches überlebt haben, in der karolingischen Renaissance wie in der des Quattrocento und im Humanismus wiederaufgenommen wurden, wird mit lateinischem Schlüssel fächerverbindend erst wirklich eröffnet.

Dabei ist das Lateinische über das gesamte Mittelalter bis tief in die Neuzeit die Lingua franca der Historiker, der politischen wie philosophischen Literaten, des gesamten grenzüberschreitenden intellektuellen Lebens Europas gewesen (nicht zuletzt der Geschichtswissenschaftler findet seine Originalquellen in dieser Sprache vor, und neusprachliche Übersetzungen – wenn es denn überhaupt solche gibt – können nie mehr als nur ein Notbehelf sein). Dem entspricht, daß zu einem modernen Unterricht auch Texte des lateinischen Mittelalters und darauffolgender Jahrhunderte gehören. Als besonderes ‚Krönchen‘ für Latein als ‚Roten Faden‘ Europas sei schließlich darauf hingewiesen, daß diese – wirklich tote ? – Sprache noch bis tief in unser 2o. Jahrhundert das alle nationalen Sprachbarrieren überwindende Medium an den Universitäten geblieben ist und in der Bewegung der modernen Latinitas viva auf (nur für manch einen) verblüffende Weise den Nachweis erbringt, diese Rolle noch in unseren Tagen mit ungebrochener Vitalität und ciceronischer Eleganz spielen zu können … – kurz:

 

IV. Formale und materiale Bildung

 

Die Frage nach Latein ist letztlich die Frage nach dem Stellenwert, den man einer Allgemeinen Bildung einzuräumen bereit ist vor einer kurzfristig angelegten, sicher nützlichen, aber auch auf anderen als den schulisch-gymnasialen Wegen angebotenen Aus-bildung, welche Gegenstand des berufs- oder auch realschulischen bzw. nach-gymnasialen Bereiches ist und auch bleiben sollte. Dabei habe ich hier die Frage des Latinums für alle sprachlichen wie historischen und philosophischen Studienfächer bis zur Medizin einmal bewusst ausgeklammert.

Wer die Zukunft seiner Lebenswelt angehen möchte, sollte sich über ihre Herkunft und deren Gesetzmäßigkeiten im Klaren sein, um hieraus wiederum Maßstäbe für eigenes Handeln zu gewinnen. Und im Blick auf das – zu Recht, aber oftmals oberflächlich – vielzitierte Europa lässt sich kaum ein Schulfach europäischer anwenden und verstehen als das allgemeinbildende, abendländische Grundlagenfach Latein.

 

Michael P. Schmude

 

aus: Forum Classicum 40 (1997), S. 8-11.

Vgl. auch → www.Ulisseweb.eu – Official Documents of the Perugia Convention 06.26.2006.

auch in: Die Weiterbildungslehrgänge Latein (2005-2011), hg. von K. Sundermann. Mainz 2013 [Impulse 15], S. 17-20.

Rhetorik-Antikes-System

Rhetorik-Antikes-System-und-moderne Praxis

Rhetorik – Antikes System und moderne Praxis: Aristoteles – Quintilian und das Format Jugend debattiert

von Michael P. Schmude, Boppard

Vortrag auf dem Abschlußsymposion des <Historischen Wörterbuchs der Rhetorik> (Universität Tübingen): „Die Zukunft der Rhetorik als Kulturidee, Wissenschaft und Technik“ vom 17. bis 19. Mai 2012 in Blaubeuren → für den Druck überarbeitete und um den wissenschaftlichen Apparat erweiterte Fassung in: G. Ueding/G. Kalivoda (Hgg.): Wege moderner Rhetorikforschung – Klassische Fundamente und interdisziplinäre Entwicklung (Berlin/Boston [de Gruyter] 2014) [Rhetorik-Forschungen 21], S. 373-388. –

 

A.Rem tene – verba sequentur: behalte die Sache im Auge – die (passenden) Worte werden folgen“ – das bekannte Diktum des Älteren Cato aus dem 2. Jh. v. Chr., als Ratschlag durchaus bestechend, befolgt eher weniger: noch in der zweiten Hälfte des 20. Jh. und nach Ausweis seines damaligen Regierungssprechers liebte es ein ehemaliger Bundeskanzler, welcher noch in unseren Tagen als elder statesman Deutschland und die Welt milde und gelassen belehrt, vor seiner Zuhörerschaft jetzt einmal von dem abzugehen, was ihm seine Referenten vorbereitet hätten – um sodann genau und eben dieses vorzutragen. Und auch in der Bundestagsdebatte sind bekanntlich keine schriftlich vorgefaßten und abgelesenen Reden vorgesehen, sondern es gilt das sich aus der Sache ergebende „gesprochene Wort“. Doch sich auf den oben zitierten kernigen und sperrigen Kauz aus der Hochzeit der Römischen Res publica zu verlassen, war seinen Nachfolgern dann doch wohl zu riskant, und seinen Vorgängern ebenso: mit dem Beginn politischer wie ziviler Prozesse, in welchen zu jedem Streitpunkt beide Seiten zu Wort kommen und ihr Anliegen vortragen sollten, bildete sich auch ein Lehrgebäude aus, in welcher Weise dieses am zielführendsten zu erfolgen habe. Der Schein der Spontaneität wurde dann durch den auswendig memorierten Vortrag gewahrt, denn wie bei einem gelungenen Violinenspiel niemals das dahinterstehende Üben erkennbar werden darf, so sollte eine wirkungsvolle Rede in Gerichtssaal oder Volksversammlung des demokratischen Athen zur Blütezeit der aktiven Beredsamkeit einen Anschein nicht vermitteln – daß sie etwa (und dazu noch unter Mühen) im Vorhinein er- und ausgearbeitet worden sei. Für meinen Teil indes muß ich freimütig gestehen, daß Letzteres für diesen Vortrag zutrifft – tempora mutantur, nos et mutamur in illis (was dem alten Cato im Übrigen nie über die Lippen gekommen wäre) – für ein rhetorisches Format, im geregelten Austausch der Argumente Stellung zu beziehen und Standpunkte auszutragen, gilt hingegen nicht nur das genannte Unmittelbarkeitsgebot des bewährten ‚Systems‘ in zeitloser Aktualität.

Das ‚Antike System der Rhetorik’ – ein weiteres Lehrgebäude neben Philosophenschulen, Dichtungstheorie und grammatischen Programmen … ? „System“ ist griechisch und bedeutet „Zusammenstellung“, und so haben nach aristotelischem Vorlauf der praktizierende Rhetor Cicero, welcher auch Lehrschriften zur Kunst der Rede hinterlassen hat, und der Walter Jens der Antike, also der Inhaber des ersten, von Kaiser Vespasian eingerichteten Lehrstuhls für Rhetorik in Rom, Professor Quintilian Regeln, Anweisungen und Empfehlungen zu Form wie Inhalt einer gelingenden Rede für den tüchtigen Redner zusammengefasst, geordnet und strukturiert; herausgekommen ist dabei in Gestalt der Institutio oratoria, was man bis heute das antike ‚System der Rhetorik’ nennt – so weit, so bekannt.

Sokrates, der Unruhegeist des athenischen Marktplatzes, der Agora im 5. Jh. v. Chr., fordert im Dialog Phaidros 269 d 4 ff. seines Schülers Platon für den vollendeten Redner zunächst einmal Veranlagung, Kenntnis und Übung – aber das sei nur die technische Seite traditioneller Rhetorik, und diese richte sich ohnehin inhaltlich am bloß Wahr-scheinlichen und nur von Volkes Meinung für jeweils wahr Gehaltenen aus (259 e 4 – 260 a 4). Zur Redekunst indes führe nicht der Weg, die Méthodos eines ausgewiesenen Stilisten wie Lysias oder eines Redelehrers wie Thrasymachos, vielmehr verleiht Sokrates den ersten Rang dem Perikles (e 1/2). Wie der Arzt sich über die unterschiedliche Natur des Leibes im Klaren sein müsse, so habe der Redner als Seelenführer (Psychagōgós) die Vielgestaltigkeit der menschlichen Seele darzulegen oder zu beachten, woraus sich kunstgemäß dann wiederum verschiedene Arten von Reden ergäben, von welchen die eine Seele überredet werde (peíthetai), die andere un-überredet bleibe (a-peitheí 271 b 1-5). Die scharfsichtige Beobachtung der Natur des Menschen und Wahrnehmung der (je individuellen) Ursachen, die diese beeinflussen können (oder nicht), im Verein mit den rhetorischen Mitteln zu ihrer Verstärkung und den Regeln ihres Einsatzes machen erst die wahre Redekunst aus (271 c 10 – 272 b 2). Zudem habe diese sich stets am Wahren (262 c 1-3) und Gerechten – und damit sind wir bei Platons Ideen – zu orientieren, im Unterschied zum Postulat des (bloß) Wahrscheinlichen und Glaubhaften seiner sophistischen Gegenspieler (272 d 2 ff.), aber auch zur unphilosophischen Redenschreiberei (Logographía) etwa eines Lysias (257 b 2 – d 8) – ohne Kenntnis des wahrhaft (óntōs) Guten und Gerechten (260 a 1-4). Und mit eben diesem ganzheitlichen Wissen (270 c 1/2) um die Natur des Verstandes (noús) wie Unverstandes (ánoia), erworben im Umgang mit dem Philosophen Anaxagoras, habe Perikles neben seiner guten Veranlagung (s.o.) schließlich seine Beredsamkeit zur Redekunst veredelt (270 a 3-8).

Wir sprechen mithin von nichts weniger als dem hochtalentierten, umfassend ausgebildeten und grundlegenden philosophischen Idealen verpflichteten Rhetor und Staatsmann, wie er sich nachfolgend am Beispiel eines Demetrius von Phaleron, des makedonischen Statthalters von Athen (in den Jahren 317-07 v. Chr.) zeigt und noch einmal im römischen Pendant zum Phaidros, Ciceros De oratore (namentlich in der Figur des Redners Crassus) herausgearbeitet werden wird. In Platons Staatsentwurf, der Politeia (396 e 4 ff.) kennzeichnet den guten Redner ein klares Überwiegen der mit angemessener Distanz erzählenden (dihḗgēsis) gegenüber den darstellerisch nachahmenden Teilen (mímēsis) eines Vortrags; das mimetische Moment berge die Gefahr mangelnder Würde von darzustellender Person oder Sache (396 c 5 – e 2) sowie die Erfordernis, den Darstellungsmodus in Harmonie und Rhythmus zu verändern und wechselnden Stimmungen (metabolaí) anzupassen (397 b 6 – c 6). Eigentlich aufnahmefähig in die zu gründende Stadt ist als Rhḗtōr allein der Nachahmer des beständig Gehörigen und sittlich Guten (mimētḗs toú epieikoús 397 d 4 f.): den künstlerisch filigranen und wandelfähigen Performer von Allem und Jedem würde man bewundern und auszeichnen – und in eine andere Pólis verabschieden; zur Erziehung des eigenen Führungsnachwuchses tauge allein der weniger unterhaltsame, in seiner herben Würde aber nützlichere Erzähler und Stilist des Geziemenden und Schicklichen (hós tḗn toú epieikoús léxin mimoíto 398 a 1 – b 4).

Nicht so sehr an Sokrates-Platon anknüpfend als ihrem ‚Sitz im Leben‘ entsprechend unterscheidet sozusagen eine Wissenschaftlergeneration später Aristoteles in seiner Rhetorik (1358 a 36 ff.) drei Arten der Rede mit unterschiedlicher Thematik und unterschiedlichen Anliegen: das genus iudiciale, die Rede vor Gericht, heute anwaltlichen Plädoyers vergleichbar und Vergangenes behandelnd (Zielsetzung: Gerechtigkeit), das genus deliberativum, die politische, auf den Nutzen in der Zukunft ausgerichtete Rede auf dem Areopag oder im Bundestag, und das genus demonstrativum, die in der Gegenwart verankerte Festrede beispielsweise des Perikles zu Ehren der im ersten Jahr des Peloponnesischen Krieges Gefallenen oder zum fünfzigjährigen Bestehen des Grundgesetzes. Ein modernes Debattenformat, wie es im Einzelnen weiter unten noch vorgestellt werden soll, entspricht hier am ehesten der Art und Erfordernis des genus deliberativum, der geschlossenen Erörterung des Für und Wider anstehender Maßnahmen.

Um – auch für die Situation der Debatte im Ganzen – jeweils zu einer überzeugenden Rede zu kommen, durchläuft der künftig erfolgreiche Rhetor nach Cicero (De or. I 142) und Quintilian (Inst. orat. III 3, 1) mehrere Arbeitsgänge: er findet Argumente und Aspekte für seinen Standpunkt, für sein Thema in der inventio; doch nützt die beste Sammlung von Stoff und Gedanken wenig ohne Ordnung, Kohärenz und den berühmten Roten Faden – darum das zweite Gebot der dispositio, der Anordnung der Argumente. Aber nicht nur der Inhalt, auch die Form soll bestechen – der gewonnene Rote Faden bedarf eines Gewandes, der elocutio, der sprachlich-stilistischen Ausarbeitung. Ein Ablesen dieses nun kunstvollen Gebildes vom Blatt war in der Antike ebenso verpönt wie im Deutschen Bundestag untersagt und praktiziert: die Rede ist jetzt auswendig zu lernen (memoria) und hernach frei vorzutragen (die actio, durchaus auch ein schauspielerischer Akt, wurde den ursprünglich drei aristotelischen Schritten von Theophrast hinzugesellt) – es galt und gilt (wie oben schon gesagt) „das gesprochene Wort“.

 Aristoteles teilt die Bücher seiner Rhetorik nach diesen gewichtigsten Schritten ein: I und II behandeln die Heúresis, das Finden der Überzeugungsmittel, III die Léxis, die sprachliche Form sowie die Táxis, die Anordnung von Redestoff und –teilen.

 Nun treffen in der Gerichts- wie in der politischen Rede gleichermaßen unterschiedliche Standpunkte aufeinander, für und wider welche es gute Begründungen anzuführen gilt. Wie gelangt man also zu treffenden Argumenten und bringt diese auch noch in eine wirksame Abfolge und sprachliche Gestalt ? Cicero widmet dem ersten Arbeitsgang „Gute Argumente finden“ seine Frühschrift De inventione, doch schon Aristoteles (rhet. 1355 b 35 ff.) hatte die grundsätzliche Einteilung der Beweismittel in solche, die innerhalb der rhetorischen Theorie (písteis éntechnoi) und solche, die außerhalb (písteis átechnoi) liegen, geliefert, welche Cicero (De or. II 116 f.) und Quintilian (Inst. orat. V 1, 1) sodann als kanonisch galt: von den Argumenten liegen die Einen auf der Hand, sind durch Situation oder Kontext unmittelbar vorgegeben (probationes in-artificiales) und brauchen von der Kunst der Rhetorik nicht geschaffen, nur gefunden zu werden, wie Zeugenaussagen oder Präzedenzfälle. Andere müssen durch Reflexion oder Schlußverfahren (Cic. inv. I 57: ratiocinatio, namentlich den Syllogismus oder dessen verkürzte Form, das Enthymem – Arist. rhet. 1356 a 35 ff.) erst noch erarbeitet oder aus dem Gegenstand des Streites herausgeholt werden (probationes artificiales), wie Indizien (signa), Folgerungen oder Beispiele (exempla); besonders dankbar auch das dialektische Verfahren der Vorwegnahme eines gegnerischen Argumentes (anticipatio oder praeoccupatio – eigentlich eine Sinnfigur), im Idealfalle des Königsargumentes der Gegenseite, um es dann um so wirkungsvoller zu zerpflücken (rhet. 1418 b 8 f.) …

Auf der sprachlichen Seite unterscheiden die Aristoteles-Schüler Theophrast (Perí léxeōs a‘) und Demetrios von Phaleron (Perí hermēneías = Über den Stil 2, 36 f.) sowie in ihrer Nachfolge Cicero (Orator 20 ff. und 75 ff.) entsprechend den obengenannten drei aristotelischen genera dicendi bestimmte, der Eigenart der Rede wie den Aufgaben der Redeteile dienende Stilebenen: so den schlichten Stil (genus subtile) für die Beweisführung vor Gericht (Vorbild Lysias), den mittleren oder gemischten Stil (genus medium) für die Erörterung im genus deliberativum (Vorbilder Isokrates und Demosthenes), den erhabenen Stil (genus grande) für die gedanklichen Höhepunkte einer Festrede (Vorbild Gorgias). Meßlatten sind hier die Sprachrichtigkeit (Hellēnismós oder Latinitas) und die Deutlichkeit (perspicuitas), die Angemessenheit (aptum) und der Redeschmuck (ornatus) mit seinen Stilmitteln sowie nicht zuletzt die Kürze (brevitas). Eine bis heute gültige Zusammenstellung der Tropen und Figuren gibt Quintilian in Buch VIII (6, 1 ff.) bzw. IX (1, 1 ff.) seiner Institutio oratoria.

Für das anschließende Auswendiglernen bedient man sich einer Reihe von Mnemotechniken, wie sie schon Theodektes (aus dem kleinasiatischen Lykien), ein Schüler des Isokrates und enger ‚Kollege‘ des Aristoteles, bereitgestellt hatte. Der Vortrag wird durch passenden Einsatz von Mimik und Gestik zu einem beeindruckenden – wobei wir in Ciceros De oratore gelesen haben, daß der vollkommene Redner, <qui, quaecumque res inciderit, quae sit dictione explicanda, prudenter et composite et ornate et memoriter dicet cum quadam actionis etiam dignitate> (I 64) „der, welcher Gegenstand auch immer anliegt, den es sprachlich zu entfalten gilt, mit Sachkenntnis, Struktur, Wirkung und genauer Erinnerung sprechen wird mit entsprechender auch Würde des Vortrags“, sich als actor veritatis vom bloßen Schauspieler, dem histrio abhebe, welcher die Wirklichkeit nur nachahme (De or. III 214). Ein für jede Phase der sprachlichen Ausarbeitung wie Darbietung entscheidendes Kriterium ist das aptum/prépon, welches die Rede selbst wie ihren Vortrag nach der jeweiligen Causa, dem Auditorium, der Person und den Zeitumständen des Redenden ausrichtet: <omnique in re posse quod deceat facere artis et naturae est, scire quid quandoque deceat prudentiae> (De or. III 210-12) „In jeder Redesituation das tun zu können, was sich ziemt, ist Sache von Können und Veranlagung, zu wissen, was sich ziemt und wann, von Klugheit“.

Am Ende dieses Schaffensprozesses steht eine stofflich wohlrecherchierte, gedanklich klar strukturierte, sprachlich-stilistisch elaborierte, sicher memorierte und darstellerisch eindrucksvoll performierte Ansprache an eine aufmerksame und gelehrige, zumindest aber wohlwollende Zuhörerschaft – Ciceros und Quintilians (Inst. orat. IV 1, 5) Trias iudicem attentum, docilem, benivolum parare; Cicero hatte im Orator (69) die Aufgabe des Redners auf dem Forum wie vor Gericht mit probare (untersuchen und glaubhaft machen), delectare (unterhalten und fesseln) sowie flectere (umstimmen und anrühren) beschrieben. Gegliedert ist diese Ansprache nach Aristoteles (rhet. 1414 a 31 ff.) wie Cicero (De or. II 80) und Quintilian (Inst. orat. III 9, 1) in ein exordium/prooemium, welches Ort, Zeit und handelnde Personen einführt, eine narratio, welche die Vorgeschichte oder begleitenden Umstände des Falles erzählt, sich sodann zur Vorstellung des eigenen Standpunktes, der propositio, hin verdichtet und präzisiert und diesen in einer argumentatio dafür (probatio) und/oder einer Widerlegung des Gegenstandpunktes (refutatio) vertritt, und abschließend in eine conclusio/peroratio, welche noch einmal die treffendsten Argumente im Gedächtnis der Zuhörerschaft verankert.

Die Wirkung einer Rede wird dabei auf den Ebenen der Argumentation (Logos: begriffliche Präzision und rhetorische Struktur), der Gewinnung von Sympathie (Ethos: Glaubwürdigkeit des Redners) und der Erregung von Affekten (Pathos: Befinden [vorrangig] beim Hörer) erzielt (Arist. rhet. 1356 a 1-20), ihre Überzeugungskraft hängt wesentlich davon ab, ob die Überzeugungsmittel zum passenden Zeitpunkt (Kairós: Plat. Phaidr. 272 a 4-7) und mit dem rechten Maß (Aptum: Cic. Or. 70 f.) eingesetzt werden.

 

B. Geändert hat sich an diesem System im Grundsatz seit der Antike, genauer genommen seit dem Ende des 4. Jh. v. Chr. wenig, Weiterentwicklungen und Differenzierungen betreffen Einzelphänomene (etwa in der Figurenlehre) – auch moderne Handbücher der Beredsamkeit verorten sich insbesondere in ihrem systematischen Teil bei Aristoteles, Cicero und Quintilian. Kennzeichnend ist natürlich die äußerlich rein monologische Anlage (die ein inneres Zwiegespräch durchaus enthalten kann), und die Frage liegt nahe „wie sieht es denn aus mit der Rhetorik im Dialog, in der Diskussion, in der Disputation, in der Debatte ?“ Und so hat ein bereits mehrfach genanntes, modernes Format des agonalen Wortwechsels diese beiden Spielarten verbalen Austauschs miteinander kombiniert und in ein Regelwerk eingebettet, in welchem das antike System freilich überall erkennbar bleibt – die Debatte nach Jugend debattiert, einem Gemeinschaftsprojekt auf Initiative der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung (Frankfurt a. M.) und zusammen mit den Kultusministerien der Bundesländer.

Die Brockhaus-Enzyklopädie (Bd. 5 [191988] 178) leitet die Debatte vom französischen débattre <durchsprechen>, <den Gegner mit Worten schlagen> (auch wir sprechen von einem <durchschlagenden Argument>) aus dem vulgärlateinischen battuere (eigentlich einem keltischen Fremdwort) für <schlagen, stoßen, klopfen> her und beschreibt sie als „offene Diskussion, Erörterung, Aussprache (Gr. Duden-Lexikon: … in geregelter Rede und Gegenrede), bes. bei unterschiedlichen oder gegensätzlichen Auffassungen. Besonders durchgebildet ist das Verfahren der Debatte bei internationalen Konferenzen, politischen Versammlungen und parlamentarischen Verhandlungen“.

Das Historische Wörterbuch der Rhetorik (Bd. 2 [1994] Sp. 413) definiert die Debatte als „eine Form sprachlicher Auseinandersetzung, die auf einem antagonistischen Grundschema beruht. Dabei steht die Auseinandersetzung mit dem Ziel gedanklicher Virtuosität und sprachlicher Vollendung in Konkurrenz mit der Auseinandersetzung um den sachlichen Gehalt“. Der Begriff entsteht in den französischen Kathedralenschulen des 11. und 12. Jh., also im Umfeld theologisch-philosophischer Schuldisputationen; kennzeichnend und Voraussetzung sind für diese Grundform eines gesamteuropäischen Streitgespräches vier Merkmale:

  1. die gesellschaftliche Anerkennung von Redegewandtheit,
  2. die Ebenbürtigkeit bzw. Gleichwertigkeit der Gegner zu Beginn einer Diskussion,
  3. das Interesse an der Gegensätzlichkeit der Standpunkte (auch als Ausdruck für die Interessen sozialer Gruppen oder Typen),
  4. die Erkenntnis und Anerkennung von sprachlichen Ambivalenzen und Meinungsunterschieden je nach Standpunkt und Kontext.

Gleichwohl sieht man an diesen Bestimmungen bereits den Bedarf an klarer Abgrenzung des Formats <Debatte> von anderen Formen der verbalen Auseinandersetzung:

Unterschieden von der Debatte als Gespräch zur Klärung von praktischen Entscheidungsfragen („Soll der Staat zur Verbesserung des Bildungswesens neue Kredite aufnehmen ?“) sind die Diskussion zur Klärung von offen formulierten Sachfragen (W-Fragen „Wer, wo, wie, warum … ?“) sowie die Disputation zur Klärung von Voraussetzungen (theoretische Alternativfragen – „Ist der Mensch eher durch Naturveranlagung oder durch Umweltfaktoren disponiert ?“), wenngleich die rednerische Praxis sich die Mischung zunutze macht (zu Diskussion und Disputation in ihrer historischen Entwicklung → die entsprechenden Artikel des HWRh). Auch das antike ‚System der Rhetorik‘ hatte zwischen abstrakt-theoretischen Fragen (quaestiones infinitae) und konkret-praktischen Fragen (quaestiones finitae) unterschieden und aus letzteren die drei Redegattungen (genera causarum) Gerichts-, politische und Gelegenheitsrede abgeleitet, zu denen wiederum sich auch Jugend debattiert in Beziehung setzt. Vor diesem Hintergrund bleiben zum Einen Anliegen und Eigenart des Jugend debattiert – Formates zu klären, zum Anderen, worin im Besonderen eine Jugend debattiert – Debatte besteht.

Zu Ersterem: es ist praktizierte Rhetorik, Debattierkunst im Für und Wider mit Anderen, in Regeln gefaßt und in unterschiedliche Formen des Vortrags strukturiert. Grundanliegen ist es, der Rhetorik wieder ihren Platz im unterrichtlichen Angebot einzuräumen, welchen sie zu Zeiten der Septem Artes Liberales ganz selbstverständlich einnahm: als Fertigkeit, sich zu einem Thema nach allen Seiten mit Kenntnis in der Sache, angemessenem sprachlichen Ausdruck sowie Gesprächsfähigkeit zum Gegenüber und daraus nicht zuletzt resultierender Überzeugungskraft zu äußern. Im Vergleich mit den antiken genera causarum ordnet Jugend debattiert sich deutlich dem genus deliberativum, der Für und Wider erörternden politischen Rede zu.

Zum Zweiten: eine Debatte nach dem Format Jugend debattiert setzt sich aus drei Teilen zusammen: in einer Eröffnungsrunde gibt jede/r der Debattierenden ein zweiminütiges Eingangsstatement zum gestellten Thema ab. Dabei sprechen sich zwei für die in Frage stehende Maßnahme aus, zwei dagegen; es beginnt, wer eine Änderung des bestehenden Zustandes wünscht.

 Exemplarisch für diese Viererstruktur der Gesamtdebatte sind die Tetralogiai des attischen Redners und Sophisten Antiphon von Rhamnus (5. Jh. v. Chr.).

 Die Freie Aussprache gibt ein offenes Wechselgespräch der stets vier Debattierenden (12 min.), die ihre in der Eröffnungsrunde eingenommenen Standpunkte nunmehr entfalten können: jetzt wird die monologische durch eine dialogische Struktur abgelöst; das Aufeinandertreffen (battuerebattre s.o.) der Argumente erfolgt ohne Moderator, also ungebunden, aber nicht ungeregelt. Das Wort hat, wer es sich nimmt, und so finden sich hier am ehesten Elemente auch der Diskussion. Eine gewisse Strukturierung neben dem Austausch der eigentlichen Argumente kann dabei durch résumierende Einlagen („darüber sind wir uns jetzt einig, strittig bleibt aber weiterhin …“) einzelner Debattenteilnehmer erreicht werden. Eine Schlußrunde ermöglicht jeder/m Debattierenden ein jetzt einminütiges Schlußstatement, wobei nur Argumente vorgebracht werden dürfen, welche in Eröffnungsrunde und Freier Aussprache bereits zum Einsatz gekommen waren – denn auf ein völlig neues Argument könnte man nicht mehr entgegnen. Im gemeinsamen Rückgriff auf die soeben geführte Auseinandersetzung verdichten sich diese Schlußreden ganz im Sinne einer conclusio oder peroratio des antiken ‚Systems‘. Die Reihenfolge ist die Gleiche wie in der Eröffnungsrunde. Als Antworten auf die Frage, um welche sich die – im Ganzen also 24minütige – Debatte dreht, sind nur Ja‘ oder ‚Nein‘, Pro oder Contra möglich.

 Es gibt auch kleinere Versionen wie die Mikrodebatte und die Trainingsdebatte, welche aber alle Elemente des originalen Debattenformats, wenngleich in zeitlich verkürzter und argumentativ vereinfachter Form, enthalten: eine politische Streitfrage als Thema, zwei Redner/innen pro und zwei contra, festgelegte Reihenfolge und Aufbau der Eröffnungs- wie der Schlußreden; die Freie Aussprache bleibt eine freie, und es erfolgt gleichermaßen keine Gesprächsmoderation. In der Mikrodebatte umfaßt die einzelne Eröffnungsrede drei (für die einfache) bzw. sechs Sätze (für die entfaltete Struktur), die Freie Aussprache drei bzw. fünf Minuten, die Schlußrede jeweils wiederum drei bzw. fünf Sätze, woraus sich eine Gesamtdauer von sechs bzw. zehn Minuten ergibt. In der Trainingsdebatte hat die einzelne Eröffnungsrede anderthalb Minuten, die Freie Aussprache acht Minuten, die Schlußrede jeweils eine Minute, woraus sich eine Gesamtdauer von achtzehn Minuten ergibt.

 Kriterien der Debatte sind Sachkenntnis – weiß der/die Redner/in, worum es geht ? – Ausdrucksvermögen – wie hat er, was er meint, gesagt ? – Gesprächsfähigkeit – hat er zugehört und die anderen berücksichtigt, ist er auf ihre Beiträge eingegangen ? – Überzeugungskraft – hat er, was er sagt, auch gut begründet ?

Und ganz analog zu den Vorgaben des antiken ‚Systems der Rhetorik‘ finden sich auch hier die Überzeugungsebenen der Debatte Logos (Verstandesebene bei Sprecher wie Hörer) – Ethos (Betroffenheit auf Sprecherebene) – Pathos (Betroffenheit auf Hörerebene) sowie Kairós (rechter Augenblick oder passende Situation).

Debattiert werden aktuelle Fragen von allgemeinerem gesellschaftlichen Interesse. Das Thema ist so zu formulieren, daß nach einer konkreten Maßnahme gefragt wird und nur mit ‚Ja‘ oder ‚Nein‘ geantwortet werden kann. Die Strukturen von Eröffnungsrede und Schlußrede sind festgelegt (s.u.). Die eingangs eingenommene Position zur Frage darf durchaus – begründet – geändert werden. Die Beratungen der Jury, welche die Debatte als Ganzes wie die einzelnen Debattierenden nach den genannten vier Kriterien bewertet und qualifiziert rückmeldet, sind generell öffentlich.

 Zu unterscheiden ist das Jugend debattiert-Format vor dem Hintergrund von ‚Fraktionszwang‘ und rechtfertigendem gegenüber deliberativem Anliegen vom britischen ‚Westminster debating‘ in Reinform wie in Spielart der seit dem 19. Jh. klassischen ‚Publikumsdebatte‘ und von der in Deutschland derzeit vorherrschenden ‚Offenen Parlamentarischen Debatte‘.

 Die Kriterien der Debatte ergeben sich aus den Arbeitsgängen des Redners des antiken ‚Systems‘ nach Cicero und Quintilian (s.o.):

  • inventio:         Argumente    finden             → Sachkenntnis
  • dispositio:                          ordnen → Sachkenntnis; Überzeugungskraft
  • elocutio:                   sprachlich ausformulieren → Ausdrucksvermögen
  • memoria:  auswendig lernen → die Debattierenden gehen ohne                                                                          Aufzeichnungen in die Debatte
  • actio                          vortragen      → Überzeugungskraft.

 

Für das Bestreiten einer gelingenden Jugend debattiert – Debatte bilden diese Arbeitsgänge – Stichwort: „Gute Argumente finden“ – den mühevollen Kern jeder Vorbereitung, welche unsichtbar die Leichtigkeit der kommenden Rede erst möglich macht (Quint. Inst. orat. X 1, 1 und 5, 1 – dazu treten progymnasmata, diese firma quaedam facilitas / héxis – „sichere Geläufigkeit“ zu erreichen und zu pflegen). In dieser Vorbereitungsphase recherchieren die Debattierenden zur Sache, machen sich kundig und leiten daraus Argumente ab (← inventio); hier kommen unterschiedliche Hilfsmittel zum Einsatz wie der Fragenfächer (zur Klärung von Hintergrund-, sogenannten W-Fragen, die als Unterfragen dem Ziel dienen, das strittige Thema durch Eingrenzung genau abzuklären), der Begriffsbaum zu Abgrenzung, Zuordnung und Hierarchisierung von Begriffsfeldern (Arbor Porphyrii) oder das Suchfenster zu Unterscheidung wie Gewichtung von Pro- und Contra-Argumenten (← dispositio).

Der (Begriffs-)Baum ist ursprünglich eine Metapher des neuplatonischen Philosophen und kaiserlichen Beamten Boëthius (um 480 bis 526) für eine hierarchische Methode der ontologischen Klassifizierung in fünf Grundbegriffen – Gattung (genus), Art (species), artbildender Unterschied (differentia specifica), wesentliches Merkmal (proprium), zufälliges Merkmal (accidens) – die der Schüler Plotins und spätantike Aristoteles-Kommentator Porphyrios von Tyros (232 bis 301) in seiner Einführung (Eisagōgḗ) zu dessen Katēgoríai – und damit dem (nach)aristotelischen Organon, seiner Logik – entwickelt hatte (In Porphyrium commentationum III – Migne: PL 64, 103). Um 1240 formuliert der Scholastiker und Logiker Petrus Hispanus (Summulae logicales, tract. II 11) diesen als epistemologischen Terminus für die mittelalterliche (R. Llull 1305) und neuzeitliche Enzyklopädik (Bacon 1620, E. Pourchot 1730, Diderot 1751).

 Zumindest die Eingangsreden sind nicht nur in diesem Sinne vorbereitet, sondern auch sprachlich ausformuliert (← elocutio) und müssen in freiem Vortrag (← memoria) verständlich und authentisch die Mit-Debattierenden ‚in Stellung bringen‘ und die Jury überzeugen können (← actio).

Den ‚klassischen‘ Teilen der Rede exordium (Einleitung) – narratio (Erzählung des Herganges) – propositio (Präzisierung des Sachverhalts) – probatio (positivem) – refutatio (negativem Beweis im Rahmen der argumentatio) – conclusio (Schluß) nähert sich die Struktur der Eröffnungsrede einer Debatte an – der ‚Rhetorische Fünfsatz‘: eine Einleitung enthält die Klärung des Themas und Präzisierung einer Maßnahme oder eine (kritische/unterstützende) Anknüpfung. Daran schließen das erste (zweitstärkste), zweite (schwächste) und dritte (gewichtigste) Argument an, während der Schluß den ‚Zielsatz‘ enthält: „und darum bin ich dafür/dagegen, daß …“. Die festen Bauteile einer Schlußrede sind das Wiederaufgreifen der Ausgangsfrage, die Gegenüberstellung des Hauptargumentes pro und contra, gipfelnd im persönlich überzeugendsten Beweisgrund für oder gegen die debattierte Maßnahme sowie am Ende die unverändert beibehaltene oder begründet modifizierte Einstellung hierzu.

Zur Eröffnung einer Debatte gibt es vier Positionen mit vorgesehenen Rollen:

Pro 1:  bereitet das Thema für die Debatte auf – präzisiert die Fragestellung und schlägt erste Maßnahmen zur Erreichung der gewünschten Veränderung vor, ‚bringt den Ball ins Spiel‘ (← propositio).

Contra 1:  beleuchtet kritisch die vorgeschlagene Maßnahme.

Pro 2:  unterstützt, ergänzt, vertieft, modifiziert die erste Position.

Contra 2:  unterstützt Contra 1, faßt aber bereits ansatzweise zusammen und leitet zur Freien Aussprache über.

Dabei gehören die monologischen Teile zu Beginn und am Ende zum aristotelischen Rede-Génos symbouleutikón, dem genus deliberativum, der geschlossenen Erörterung des Für und Wider. Aber auch die dialogische Mittelpartie wird nicht erfolgreich bestritten werden ohne Beachtung der vom antiken ‚System‘ bereitgestellten Aspekte.

Geeignete Themen für das Jugend debattiert – Format sind beispielsweise:

„Soll der Bundespräsident vom Volk direkt gewählt werden ?“

„Sollen direktdemokratische Elemente wie Volksbegehren oder Volksentscheide eine stärkere Rolle im politischen Entscheidungsprozess spielen ?“

„Sollen öffentliche Plätze (innerstädtische ‚Brennpunkte‘) videoüberwacht werden ?

„Sollen Haschisch und Marihuana dem Alkohol gesetzlich gleichgestellt werden ?“

„Sollen straffällig gewordene ausländische Jugendliche in ihre Heimatländer abgeschoben werden?“

„Soll Sponsoring an deutschen Schulen offiziell erlaubt werden ?“

„Soll der Religionsunterricht generell nur außerhalb der Schule stattfinden ?“

„Sollen auch Lehrende (durch ihre Schüler/innen) benotet werden?

„Sollen auch Nicht-Pädagogen in der Schule unterrichten ?“

„Sollen am Ende der Klassenstufe 10 Abschlußprüfungen eingeführt werden ?“

„Soll ein bundesweites Zentralabitur eingeführt werden ?“

„Sollen bundesweit zentrale Examensprüfungen stattfinden ?“

Rhetorik ist überall – nicht nur in einschlägigen Situationen des Lehralltags wie Referat vor der Klasse oder Seminargruppe, Rede in der Schülermitverwaltung oder AStA-Debatte, Auftritt im schulischen wie studentischen Debattierklub oder Darstellung eigener Forschungsergebnisse: auf jeder Ebene des mutter- wie fremdsprachlichen Unterrichts begegnen Lernende wie Lehrende Redner/innen und ihrer Kunst, vermitteln in Sachtexten Darstellungen öffentlicher Rede einen Eindruck von Erfordernis und Macht des gesprochenen Wortes. Sprachreflexion, Übersetzungsarbeit und fortschreitende Beobachtungen zur Funktion von Stilmerkmalen schulen den bewussten Umgang mit den eigenen Ausdrucksmöglichkeiten. Die Lectio plurima an Schule wie Universität zeigen Form und Struktur literarischer Sprache in Dichtung und Prosa, ergänzt durch Überlegungen zur Wirkung von Körpersprache.

Aber auch das erste Bewerbungsschreiben hat bereits seine rhetorische Dimension, ein Vorstellungsgespräch ist stets auch ein Darstellungsgespräch, in welchem es für den Probanden oder besser: den orator probandus bzw. die oratrix probanda darum gehen muß, iudicem benivolum facere, den/die Personalchef/in für sich einzunehmen. Und Grundlage einer jeden guten Verhandlungsstrategie wird zum Einen die gedanklich-dialektische, zum Anderen die sprachlich-stilistische ‚Aufrüstung‘ sein.

So wird Lernenden von einer gewissen Sprachkompetenz an bereits bewusst, dass Redekunst sich nicht erschöpft an ihren klassischen Orten – vor Gericht, im Parlament oder vor der Festcorona. Die in diesem Sinne eingeführte und erarbeitete Debatte ist überall da anwendbar, wo sich Lehr- und Unterrichtsinhalte zu Entscheidungsfragen verdichten: Debattieren – die Königsdisziplin der Rhetorik.

Und abschließend sei der Hinweis erlaubt, daß sich zwischen der Projektgruppe der an Jugend debattiert Beteiligten bei der Hertie-Stiftung, Einzelnen der in Projekt wie Wettbewerb mitwirkenden Lehrkräfte sowie Herausgeber, Redaktion wie Mitarbeitenden am Historischen Wörterbuch der Rhetorik im Laufe der Jahre durchaus eine Reihe personaler – sagen wir einmal – ‚Überschneidungen’ ergeben und damit zu einer mutmaßlich fruchtbaren Verzahnung zwischen rhetorischer Theorie und angewandter Beredsamkeit beigetragen haben.

Abiturrede-2010

Abirede-20-03-10

Rhapsodia abiturientum – Gegangen, um zu bleiben …

 

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, eigentlich ist das ja ein Wortungetüm: von einer dritten Person Singular Passiv ab-itur „es wird weggegangen“ / „man geht weg“ wiederum ein Partizip zu bilden – das habt nicht einmal Ihr in all den Klassen- und Kursarbeiten hingelegt, und das dazu noch in der genderkorrekten Form, wie sie vom eigentlich zugehörigen abeuntes gar nicht, bestenfalls noch als Partizip Futur abituri abituraeque abgeleitet werden kann. Also abitur, im Sinne von: „von Euch wird abgegangen“ / „Ihr geht jetzt mal“, und sieht man sich von einer Jahrgangsstufe vor die Herausforderung der lehrerseitigen oder –lastigen Abiturrede gestellt, dann überlegt man sich spätestens bei deren Abfassung, was denn nun im Schuljahresgeläuft so prägende und charakteristische Merkmale derer gewesen sein könnten, mit denen man es seinerzeit zu tun hatte und über die bzw. vor denen man jetzt sprechen soll.

Und wenngleich ich über die Schuljahre hinweg doch mit recht Vielen Eurer Stufe im Unterricht wie außerhalb in dieser oder jener Weise zusammengewerkelt habe, so liegt es in der Natur der Sache, daß es eben nicht Alle waren – aber ich denke, daß meine Schilderungen und Eindrücke durchaus nicht fernab oder bar jeglicher Verallgemeinerungstauglichkeit sind.

Eure verbreitete filigrane Virtuosität im Umgang mit Kasusfunktionen, Satzbauteilen und Verbformen geriet mir schon seit frühen Jahren zum Stairway nicht eben to heaven, aber es reichte doch bis zur Klassenzimmerdecke, die Gewißheit eingeschlossen, daß ich nach Langem Marsch ebenda von ebendort auch wieder herunterkommen würde, um unverdrossen auf ein Neues … aber lassen wir das, tempi passati.

Mundus Novus eröffnete uns neue Sichten auf die ‚Dinge des Lebens‘, welche der antike Roman noch märchenhaft vage hatte ahnen lassen, Cäsar vermittelte eine Idee ihrer Durchsetzbarkeit, die Metamorphosen Ovids die Einsicht in ihre Wandelhaftigkeit; die Epen Homers gaben einen tiefen Einblick in die Fährnisse der condicio humana, der Aufstieg aus Platons Höhle hinauf zur Sonne, zur Freiheit wies auf den Unterschied zwischen Schein und Wesentlichem, Hellas und Rom boten sich in ihrer künstlerisch-architektonischen Wirkmacht – kurz: Freude an Sprache, Literatur und Geschichte, an Dichtung, Philosophie und Kunst jenseits eines bezahlbaren Nutzeffektes zu vermitteln, ist zu allen Zeiten eine Sisyphusarbeit spießiger Schulmeister gewesen – das beklagen bereits Erasmus von Rotterdam (1511) sowie Philipp Melanchthon in einer Wittenberger Universitätsrede „De miseriis paedagogorum“(1533)1, und ich hoffe sehr, daß ich darin bei Euch, sicher in unterschiedlichem Maße, aber doch nicht völlig erfolglos geblieben bin. In einem Kultfilm der 90er Jahre hat der Protagonist, Lehrer für englische Literatur an einer angelsächsischen Privatschule und in seinem didaktischen Reformeifer ebenso intolerant, ideologisch einseitig und begrenzt wie diejenigen, die er abschaffen zu sollen glaubte – nicht den Lateinpauker: der war einer der wenigen ihm freundschaftlich gesonnenen – einen allerdings sehr bedenkenswerten Satz gegenüber einem nutzenorientierten Technokraten zur Wirkung des Theaterspiels geäußert: Architektur, Jura und Medizin seien ja zweifellos ganz wichtig – aber welche Dinge bringen eigentlich Freude in unser Leben ? …

Da ich nun freilich – wie schon gesagt – auch nicht alle von Euch im eigenen Unterricht haben durfte, konnte, sollte, mußte, möchte ich hier nicht im Übermaß die Vergangenheit aufarbeiten, und als Künder von Wahrheiten ohne unmittelbaren Anwendungsnutzen werde ich mich ohnehin hüten, Euch Vorgaben für ein gelingendes Leben (so aus unserem Schulprogramm) zu erteilen – dafür seien aus ganz unterschiedlichen Zeiten an dieser Stelle maßgeblichere Zeugen benannt:

In einer berühmten Rede aus dem Umfeld des Florentiner Renaissance-Humanismus „De hominis dignitate – Über die Würde des Menschen“ (ursprünglich) von 1486 hat für den Philosophen Pico della Mirandola (einem kleinen Ort bei Modena in der heutigen Emilia-Romagna) der optimus opifex, der beste Bildner, den Menschen in den Mittelpunkt der Welt gestellt aufgrund seines freien Willens (arbitrium), sich den Platz, die Form, die Fertigkeiten zu geben, welche auch immer er sich wünscht, während die übrigen Lebewesen in gesetzte, vom Schöpfer vorgegebene Grenzen eingebettet seien2: „Keinen bestimmten Platz habe ich Dir zugewiesen, auch keine bestimmte äußere Erscheinung und auch nicht irgendeine besondere Gabe habe ich Dir verliehen, Adam3, damit Du den Platz, das Aussehen und alle die Gaben, die Du Dir selber wünschst, nach Deinem eigenen Willen und Entschluß erhalten und besitzen kannst. Die fest umrissene Natur der übrigen Geschöpfe entfaltet sich nur innerhalb der von mir vorgeschriebenen Gesetze. Du wirst von allen Einschränkungen frei nach Deinem eigenen freien Willen, dem ich Dich überlassen habe (pro tuo arbitrio, in cuius manu te posui), Dir selbst Deine Natur bestimmen. In die Mitte der Welt habe ich Dich gestellt, damit Du von da aus bequemer Alles ringsum betrachten kannst, was es auf der Welt gibt. Weder als einen Himmlischen noch als einen Irdischen habe ich Dich geschaffen und weder sterblich noch unsterblich Dich gemacht, damit Du wie ein Former und Bildner Deiner selbst nach eigenem Belieben und aus eigener Macht zu der Gestalt Dich ausbilden kannst, die Du bevorzugst. Du kannst nach unten hin ins Tierische entarten, Du kannst aus eigenem Willen wiedergeboren werden nach oben in das Göttliche4“.

Aber auch von der atheistischen Gegenseite her erhält der Mensch wie bei Pico, nur sehr viel später (um 1946), ein Höchstmaß an Würde in subjekthafter Eigenverantwortlichkeit durch den Existentialismus eines Jean-Paul Sartre, mit dem Selbstentwurf seiner individuellen, kommenden <Essenz>: „Der Mensch ist nichts Anderes als wozu er sich macht. Ein Wesen, das existiert, bevor es durch irgendeinen Begriff definiert werden kann […], anfangs überhaupt nichts. Er wird erst in der weiteren Folge sein, und er wird so sein, wie er sich […] will und wie er sich nach der Existenz konzipiert“. Die existentialistische Grammatik ist durchaus nicht welfaristisch geprägt, er ist vielmehr zur Freiheit in Verantwortung verurteilt: „Verurteilt, weil er sich nicht selbst erschaffen hat, anderweit aber dennoch frei, da er, einmal in die Welt geworfen, für Alles verantwortlich ist, was er tut.“ Er ist verlassen, findet „keine Entschuldigungen […], kann nie durch Bezugnahme auf eine gegebene und feststehende menschliche Natur Erklärungen geben; anders gesagt, es gibt keine Vorausbestimmung mehr, der Mensch ist frei, der Mensch ist Freiheit […], ohne irgendeine Stütze und ohne irgendeine Hilfe in jedem Augenblick verurteilt, den Menschen zu erfinden: <Der Mensch ist die Zukunft des Menschen> (Ponge).“5

Schon in Eurem bisherigen, gleichermaßen geregelten wie geschützten Raum Schule und Elternhaus werdet Ihr gespürt haben, daß „Freiheit“ sich ebenso gut anhört wie schwierig zu handhaben ist, und das jetzt für Euch kommende ‚freie Leben‘ wird dies als größte Herausforderung für Jede/n von uns und Euch jeden Tag auf ein Neues erweisen. Oder ist Freiheit nur ein anderes Wort für – „Nichts geblieben, was man verlieren könnte“ (Janis Joplin) ? „Wer im Leben gut auf Erden, wird nach dem Tod ein Engel werden“ – doch: „sie müssen sich an Sterne krallen, damit sie nicht vom Himmel fallen“ (Rammstein) … nun:  wie werden und müssen das hic et nunc nicht abschließend klären – können dafür aber dereinst vielleicht an der Stelle noch mal einsetzen, um uns über eine gründlichere Erörterung dieses komplexen Gedankenganges in das Thema noch mal einzufinden. Für heute wollen wir es uns etwas einfacher machen und beherzigen, was ein – allerdings nur einschlägig – bekannter ‚Kreativer‘ unserer Tage gemäß indirekter Überlieferung (SWR3) zu bedenken gegeben hat: „Baby, ik sak‘ nur eins – morge gibts ein ande Tak – the sun wird shin, geh‘ rraus und mak was aus dein Lebben“.

In diesem Sinne Euch Allen alles erdenklich Gute und stets eine glückliche Hand auf Eurem neuen Weg in freier Wildbahn … – abeatis.

 

Koblenz, 20. März 2010                                                    Michael P. Schmude

1Erasmus: Laus stultitiae 49/51; Melanchthon: De miseriis 1-3; 13.

2De hominis dignitate 4.

3Man denkt sogleich an die bekannte Geschichte von der Zuteilung der Eigenschaften und Fähigkeiten an Tiere und Menschen durch Epimetheus, den Nachher-Denker, und ihre Korrektur am Mängelwesen Mensch durch den Vorher-Denker Prometheus, wie sie der Sophist Protagoras und Platon im 4. Jh. v. Chr. erzählen.

4Der platonische Aufstieg im Kreislauf der Wiedergeburten ist hier unüberhörbar.

5Ist der Existentialismus ein Humanismus ?, in: J.-P.S.: Drei Essays (Zürich 1979), S. 9-12, 16 f.

Abiturrede-2011

Abirede-26-03-11

Liebe Abiturientia, liebe Eltern, Angehörige und Verbundene,

liebe Kolleginnen und Kollegen

 

„Unsere Jugend liebt den Luxus, sie hat schlechte Manieren, mißachtet Autorität und hat keinen Respekt vor dem Alter. Die heutigen Kinder sind Tyrannen, sie stehen nicht auf, wenn ein älterer Mensch das Zimmer betritt, sie widersprechen ihren Eltern, schwätzen beim Essen und tyrannisieren ihre Lehrer …“ – nein, kein Klageruf eines geplagten Studienrats im frühen 21. Jahrhundert, sondern – nach Ausweis seiner Stimme Platon [sinngemäß in Politeia, Buch VIII, 563 a4-b2 – soviel Fußnote muß sein in diesen Zeiten …]* – der eines gewissen Sokrates von Athen, und dieser wurde bekanntlich bereits im Jahre 399 vor Christus angeklagt, zum Tode verurteilt und hingerichtet – nicht von seinen Schülern, allerdings von deren Eltern …

Kaum ein anderes Miteinander oder Zusammenspiel, pädagogisch korrekt „Interaktion“, scheint sorgsamer umhegt von guten Ratschlägen und noch besserem Wissen als dasjenige von Schülern und Lehrern, was und wie der Eine zu handeln, was und wie die Anderen zu erleben haben – aber das sei der geballten Fachkompetenz der Talkshows, Expertenrunden und der theoretischen Journale anheimgestellt. Das Spannungs- und Wechselverhältnis zwischen Beiden hat nachfolgender Altmeister der Beredsamkeit zum Gegenstand einer launigen rhetorischen Fingerübung gemacht: als der Reformator Melanchthon, als Philipp Schwarzert seines Zeichens eigentlich ordentlicher Griechisch-Professor in Heidelberg, um das Jahr 1530 vor Scholaren der Universität Wittenberg De miseriis paedagogorum deklamierte, bemühte er (cap. 1) zu seiner heiter-ironischen, gewiß nicht ganz ernst gemeinten Darstellung von Leben, Arbeit und Erfolg des Standes der Schulmeister eine Fabel des lydisch-griechischen Sklaven Aesop, in welcher (196) der Esel vor Zeus tritt, um diesem sein wie seiner Genossinnen und Genossen hartes Los zu schildern, wie er unter der täglichen Arbeit in der Tretmühle zuammenzubrechen und aufgezehrt zu werden droht – aber welcher Esel habe in welcher Tretmühle jemals solche Mühsal zu ertragen gehabt wie der durchschnittliche paedagogus am Mühlstein der Lehre und Unterweisung.

Was hat das nun mit Eurer Schulzeit zu tun ? – Zunächst einmal … natürlich eher weniger bis rein gar Nichts.

Und da fährt unser praeceptor Germaniae doch tatsächlich und wörtlich fort (cap. 2): “Wenn Jemand gezwungen wird, ein Kamel das Tanzen zu lehren oder einen Esel, auf der Flöte zu spielen, wird man den nicht schon in besonderer Weise ‘arm dran‘ nennen, der sich vergeblich damit größte Mühe gibt ? Und doch ist dies erträglicher, als unsere Jungen zu lehren: denn wie Du keinen Fortschritt erzielst im Unterrichten eines Kameles oder Esels, so vergrößern Dir jene doch wenigstens nicht noch die Plage durch Ungezogenheit. Aber diese schönen Jungen da …“ – von Mädchen war noch keine Rede, und ich breche hier auch mal ab.

In der Unterwelt muß der große Lügner Sisyphus zur Strafe einen Felsen den Abhang hoch wälzen, der ihm dann kurz vor dem Gipfel wieder entgegenkommt und umso schneller zurück ins Feld hinunterrollt (cap. 3) – ein Sinnbild vergeblicher Liebesmüh vieler Sterblicher, und für unseren Lehrmeister eben auch des paedagogus und seines ganz besonderen Felsen: nur unter Zwang nehme der Schüler ein Buch zur Hand, und allein bei seinem Anblick wie beim Vortrag des Lehrers übermanne den Sorglosen der Schlaf der Gerechten, so daß eine ganz neue Kompetenz vonnöten ist – discipuli expergefaciendi – die des Aufweckens des Schülers. Die Abwesenheit jeglicher Gedächtnisleistung komme geradezu der Goldenen Regel bei Gastmahl und Gelage gleich, nach welcher am meisten verhaßt der sich erinnernde Mit-Zecher sei … Auch andeutungsweise Ähnlichkeiten mit real existierenden Elèvinnen und Elèven können hier nur der bare Zufall sein.

Mit der Räumung des Augias-Stalles, welche einem Herkules schon solche Last bereitet habe, vergleicht der Humanist und Professor für Poetik Gregor Bersmann (1537-1611) eine Generation später dann De calamitate et miseria docentium in ludis litterariis die Beschwerlichkeiten der Schullehrer, die rohen Sitten der lieben Jugend mit wacher und stetiger Sorge zu bereinigen: gut wohl die Kunst – doch im Magen der Hunger, selten der Dank – gewiß nur die Plage … Aber nicht, daß wir damit etwa Eurer Schulzeit bereits wirklich nähergekommen wären (Irrealis !):

Für Einige von Euch ist diese verbunden gewesen mit dem gleichfalls mühevollen Aufstieg in Platons Höhle zu den wahren Dingen der Erkenntnis, mit facta notabiliora wie Herodots Novelle vom Meisterdieb oder den Geschichten um Solon und Kroisos, aber auch um die Brüder Kleobis und Biton, welche wir dann auch noch vor Ort in Delphi bestaunen konnten – auf einer Griechenlandfahrt, die Anstrengendes geboten hat wie Akropolis und Nationalmuseum in Athen, Idyllisches wie die Insel Aigina und Sportliches in Olympia. Die Schrecken des modernen Athener Innenstadt-Chaos ließen Euch des Abends in einem Hotelzimmer für Alle zusammenrücken – und durch die geschlossene Zimmertür den Rauchmelder auf dem Flur in Gang qualmen. Was allerdings nicht verhindert hat, daß ich dieses Mal die 1000 Stufen der Feste Palamidi in Nauplia wieder in Begleitung besteigen konnte – wir haben das fotographisch dokumentiert und durften den traumhaften Ausblick von der Burgzinne gemeinsam genießen: es gab auch schon Griechenlandfahrten, da bin ich alleine da hoch, und unsere letzte Tour nach Rom, auf welcher wir die Urbs aeterna nach allen Regeln der Kunst epochen- und flächendeckend durchmessen haben, stand ja noch aus …

Ob man mit Platons Ideenlehre die jüngere Koblenzer Verkehrsführung oder den Bürokratismus der Bachelor- und Masterstudiengänge leichter bewältigt, das sei jetzt mal dahingestellt; das Bewußtsein um unsere europäische kulturelle Identität, die Antwort darauf, „wohin der Stier Europa trug“, ist keine Frage technokratischer Alltagsbewältigung. Aber wenn Ihr nunmehr den behüteten Bezirk ‚Schule‘ mit dem Schutzraum ‚Elternhaus‘ im Hintergrund verlaßt und in die freie Wildbahn ‚Leben‘ hinaustretet, werden Euch die homerischen Charakterbilder dort wieder begegnen, und Ihr werdet gut daran tun, wenn Ihr auf Euren beruflichen und auf Euren privaten, auf Euren ganz persönlichen Wegen die Agamemnons und die Thersites‘, die Hektors und Odysseus, die Achills und Paris wiedererkennt und angemessen einzuordnen wißt – und seien es auch nur ihre Parodien aus dem großen Krieg der Frösche gegen die Mäuse, im Ernst:

Ab sofort sagt Euch – vielleicht – keiner mehr: „mach‘ dies, mach‘ das, laß‘ es sein“, Ihr müßt von nun an alleine laufen. Euch eine Reihe von Wegen aufzuzeigen, diesen Mühlstein haben im Laufe der Jahre Viele und gerne gedreht, und am Ende habt Ihr gezeigt, daß Euch davor auch gar nicht bange zu sein braucht. Ihr habt jetzt alle Freiheit, aber Ihr wißt, daß es nichts Schwierigeres gibt als ebendiese. Neben dem kunstfertigen Daedalus, der seine Fähigkeiten zur Befreiung zu nutzen verstand, steht sein Sohn Ikarus, welcher den richtigen Pfad verpaßt hat. Gebraucht sie also angemessen.

Wie bleibt Ihr in Erinnerung, abgesehen von einem geschlossenen Studio und davon – die Erfahrung lehrt es – daß Ihr in aller Regel, Einige jedenfalls, die „üblichen Verdächtigen“, und das ist auch schön so, gelegentlich wiederkommen werdet ? Nach Allem was man hört, liest, und ich kann das aus eigener Beobachtung und Diskussionen nur bestätigen, seid Ihr eine durch und durch ‚pragmatische‘ Generation, von weltanschaulichem Ballast auf Euren Wegen erfreulich unbeschwert. Der Blick geht dabei stets nach vorn, und die magischen Epochenschwellen 20 – 50 – 80 habt Ihr alle noch vor Euch, also: macht ‘was ‘draus, abituri abituraeque und – abeatis.

 

*Der genaue Wortlaut dieses dem Sokrates zahllose Male von Schülerzeitung bis Bischofsrede in den Mund gelegten Bonmots ist bei Platon selbst freilich nirgendwo belegbar.

 

Koblenz, 26. März 2011                                                   Michael P. Schmude