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Römisches-Spracherbe-und-Caesars-Rheinübergang-im-Neuwieder-Becken

Römisches-Spracherbe-und-Caesars-Rheinübergang-im-Neuwieder-Becken

Römisches Spracherbe und Cäsars Rheinübergang im Neuwieder Becken

von     Michael P. Schmude

[Vortrag auf den Römerabenden in Neuwied-Engers, Landesmusik-Akademie 17.09. und 21.10.2020]

 

Mit Caesar bricht über  Gallien die Zivilisation herein – ist das so? Immerhin gibt es in Asterix‘ Kampf der Häuptlinge eine klare Antwort darauf – ja, die Aquädukte … (und wer Asterix nicht kennen sollte, der kennt doch den Pont du Gard in Nîmes). Aber wenn – was wollte er dann in Germanien, zumal dazwischen auch noch der Rhein lag, in dieser Ecke (Neuwied-Engers) immerhin 400 Meter breit … [→ steht Alles in seinen Commentarii De bello Gallico IV 16-19, aber dazu später]. Und was ist von seiner Idee, den Rhein zu überschreiten, mitsamt ihrer Umsetzung geblieben? Da gibt es zum Einen bis heute viel Sprachliches, was nun nicht allein für diese Gegend spezifisch ist, sondern eher in einem allgemeineren Sinne. Und zum Anderen natürlich reiche Hinterlassenschaften für die Archäologen, soweit sie jedenfalls an die Anlagen und Baulichkeiten jener ersten Expeditionen herankommen und diese nicht ihrerseits wieder unter den architektonischen Aktivitäten folgender Jahrhunderte bis heute verbaut und versiegelt sind.

I. Mein Part wird heute Abend das sprachliche Erbe der Römerzeit sein, wie es sich in diesem Kerngebiet breitgemacht und zugleich sternförmig mit den imperialen Expeditionen in den gesamten mitteleuropäischen Kulturraum bis in die Jetztzeit hinein strahlt – und damit habe ich mir die ersten Stichworte bereits selbst an die Hand gegeben … zuvor allerdings ein paar allgemeinere Bemerkungen zu Latein als Muttersprache Mitteleuropas:

Es ist beliebt und gilt als ‚modern‘ – vielleicht besser: ‚modisch‘?? – Latein als ‚tote‘ Sprache in die Rumpelkammer des Sprachenlernens zu entsorgen. Aber wie steht es um die überaus lebendige Wiedergeburt, die das Lateinische erlebt, sobald man in eine andere europäische Fremdsprache hinein hört? Bekanntlich haben sich die heute gesprochenen, Neuen Sprachen Mittel-und Südeuropas aus dem umgangssprachlichen Alltagslatein des 5. und 6. Jahrhunderts herausgebildet, sind im eigentlichen Sinne regionale, später nationale Dialekte des spätantiken Vulgärlateins. Neben dem Vokabular, welches in den romanischen Sprachen Italienisch, Spanisch, Portugiesisch, Französisch, Rumänisch zu über achtzig Prozent, im Englischen zu zwei Dritteln aus dem Lateinischen stammt, sind auch die einzelnen Grammatiken Lateinische geblieben; nicht zuletzt unsere eigene, deutsche Grammatik lässt sich von der lateinischen her erst recht erschließen. Der umfangreiche Bestand an Fremd- und Lehnwörtern im Deutschen allgemein, in den einzelnen Fachsprachen insbesondere, sowie an naturwissenschaftlich-medizinisch-technischem Vokabular (Computer – Informatik – Processor u.a.m.) ist direkt oder indirekt ein Lateinischer.

Das Impeachment-Verfahren zur Amtsenthebung des amerikanischen Präsidenten kommt vom lateinischen im-pedica-re – verstricken, fangen (pes – der Fuß) und wird im Französischen zu empêcher und im Englischen zu impeach (hindern, aufhalten). Ius, iurare, iustus, iudex, iudicare – die Wortfamilie Recht und Rechtswesen liegt auf der Hand (samt Gegenteilen in-). Auch das lateinische Verb cernere, cerno, crevi, critum – entscheiden, unterscheiden, beurteilen eröffnet eine Wortgroßfamilie: Kritik, kritisieren, kritisch; seine Kombinationen de-cernere – der Dezernent, das Dekret; dis-cernereunterscheiden, davon dis-crimen und diskriminieren (= einen Unterschied herstellen); se-cernereabsondern, trennen, davon das Sekret, aber auch englisch secret (= geheim, service – servire = dienen). Ebenso tenēre, teneo, tenui, tentumhaben, halten – Abs-tinenz, Kon-tinent (= con-tinens terra – die zusammenhängende Erde, Erdteil [Gegenbegriff: insula]), englisch Content = Gehalt, Inhalt, aber auch die In-kon-tinenz und die Re-tinenz, und tendere(an)spannen, davon englisch und französisch Attention, Tension, die Intention; sternere, sterno, stravi, stratum – hinbreiten, -strecken, davon englisch the street, italienisch la strada, deutsch die Straße; trahere, traho traxi, tractum ziehen, schleppen – Traktor, sub-trahieren, abs-trahieren, der Kon-trakt, Kon-trahent und die Kontraktion, at-traktiv und die Attraktivität … um nur wenige, markante Beispiele zu nennen, in alle Richtungen und jederzeit erweiterbar.

Man kann das lateinische System als klarstes Modell dafür nutzen, aus welchen Elementen Sprache überhaupt besteht, wie sie aufgebaut ist und funktioniert, als sprachlichen Setzkasten, in dessen einzelne Kammern man neben die lateinischen Ausgangsfiguren die jeweiligen deutschen Entsprechungen einordnen wird, sodann diejenigen im Englischen, Französischen, Spanischen … usw. Auf diesem Wege erzieht Latein von Beginn an zu aufmerksamem Hinsehen und genauer Einordnung des Beobachteten. Die französische und italienische, nicht zuletzt die deutsche Grammatik oder besser: Sprachlehre sind – wie bereits gesagt – lateinische Sprachlehren. Latein als Denkschule, als ‚Trimm-Dich-Pfad‘ für die ‚kleinen grauen Zellen‘, als Ausweis von Genauigkeit und Unterscheidungsfähigkeit – Alltags-Kompetenzen, die man*frau in allen Lebensbereichen benötigt und gerne anwendet (, und es ist nicht unbedingt notwendig, bei jeder Gelegenheit darauf hinzuweisen, wo diese Kompetenzen eigentlich her stammen).

Aber zurück zu Stichworten des lateinischen Spracherbes im einstmals gallisch-germanischen Grenzgebiet:

Das imperium schlägt nicht nur zurück, es rückt auch vor: ‘Caesar in progress‘ – in diesem Falle aus dem Innern Galliens Richtung Rheingrenze und rechtsrheinisches Germanien, Germania libera = das freie Germanien (im Unterschied zur Gallia Romana), und Caesar gibt es auch nicht aus der Hand, die Konditionen = Bedingungen seines Hier- und Hinüber-Seins zu moderieren, er gibt den Konflikten mit den germanischen Stämmen, also den Zusammentreffen oder Zusammenstößen die Art und Weise = den Modus, welchen er im Sinne hat – wie eben der moderator oder die moderatrix einer Sendung etwa im Fernsehen.

Weitere, caesar-taugliche Kostproben:

ex-ped-ire (eigtl. aus dem Fuß gehen)                (freie) Unternehmung nach draußen (Expeditionen ins Tierreich)

cultus, cultura          Pflege, Wartung, Besorgung; Bebauung, Bearbeitung; Lebensweise, -einrichtung, -gewohnheit; Bildung, Erziehung; Verehrung, Anbetung. (Agri-cultura; Kultusminister, Kulturdezernent [de-cernere: entscheiden]; Jugendkult)

pro-gredi (gradi – gradus: Schritt, Stufe, Grad)            vor-rücken, voran-schreiten

libera-re, liberal-is   befreien, freiheitlich (libertas, liberté, liberty, Liberalität)

condicio, -oni-is       Bedingung, Voraussetzung (Vertrags-Konditionen; Konditionstraining im Sport)

conflige-re, conflict-us        Zusammenstoß, Aufeinanderprallen (Alltags-Konflikte)

modera-re     gestalten = einer Sache eine Art und Weise (modus) geben (Vertrags-Modalitäten, Modalitäten eines Ablaufs)

gusta-re         kosten (goûter, goutieren; köst-lich)

proba-re        prüfen (brave – brav, tapfer)

lingua                        Zunge, Sprache (langue, language, Linguistik)

relinque-re    zurücklassen, verlassen (→ Reliquie, Relikte)

Soweit ein paar eher zufällige Kostproben = gustamenta probanda aus dem reichhaltigen Schatz sprachlicher Hinterlassenschaften = linguistischer Relikte des Alten Rom nicht nur im Neuwieder Becken.

Als termini technici kommen aus den unterschiedlichsten Stellen der Commentarii Caesars:

imperium                 Herrschaft, Herrschaftsgebiet

imperare                   befehlen         Imperativ, imperatives Mandat

mandatum – der Auftrag, welcher Jemand*in in die Hand = manus gegeben = dare, datum worden ist.

limes                          Grenzsteig, -gemarkung, die (befestigte, markierte) Grenzlinie,

limit, limitieren – jede Art von Grenzziehung auch in unserem Lebensalltag.

Soldat                        solidum – Gesamtsumme oder Saldo – mit welchem der Söldner,

der Soldat entlohnt wurde: diese milites in ihrer Gesamtheit bildeten dann das Militär.

castellum                  Verkleinerungsform von castra – das Legionslager = der zweite Teil all unserer Ortsnamen mit –kastel.

 

II. Aber was erzählt uns eigentlich Caesar höchstpersönlich zu Ereignissen, Beweg- und Hintergründen seines Rheinübertritts im Jahre 55 v. Chr. an dieser Stelle?

[16] 1 Germanico bello confecto multis de causis Caesar statuit sibi Rhenum esse transeundum; quarum illa fuit iustissima quod, cum videret Germanos tam facile impelli ut in Galliam venirent, suis quoque rebus eos timere voluit, cum intellegerent et posse et audere populi Romani exercitum Rhenum transire. 2 Accessit etiam quod illa pars equitatus Usipetum et Tencterorum, quam supra commemoravi, praedandi frumentandi causa Mosam transisse neque proelio interfuisse, post fugam suorum se trans Rhenum in fines Sugambrorum receperat seque cum his coniunxerat. 3 Ad quos cum Caesar nuntios misisset, qui postularent eos qui sibi Galliaeque bellum intulissent sibi dederent, responderunt: 4 populi Romani imperium Rhenum finire; si se invito Germanos in Galliam transire non aequum existimaret, cur sui quicquam esse imperii aut potestatis trans Rhenum postularet? 5 Ubii autem, qui uni ex Transrhenanis ad Caesarem legatos miserant, amicitiam fecerant, obsides dederant, magnopere orabant ut sibi auxilium ferret, quod graviter ab Suebis premerentur; 6 vel, si id facere occupationibus rei publicae prohiberetur, exercitum modo Rhenum transportaret: id sibi ad auxilium spemque reliqui temporis satis futurum. 7 Tantum esse nomen atque opinionem eius exercitūs Ariovisto pulso et hoc novissimo proelio facto etiam ad ultimas Germanorum nationes, uti opinione et amicitia populi Romani tuti esse possint. 8 Navium magnam copiam ad transportandum exercitum pollicebantur.

[17] 1 Caesar his de causis quas commemoravi Rhenum transire decreverat; sed navibus transire neque satis tutum esse arbitrabatur neque suae neque populi Romani dignitatis esse statuebat. 2 Itaque, etsi summa difficultas faciendi pontis proponebatur propter latitudinem, rapiditatem altitudinemque fluminis, tamen id sibi contendendum aut aliter non traducendum exercitum existimabat. 3 Rationem pontis hanc instituit.

[Eine detailgenaue Zusammenstellung der Arbeitsschritte zur Rekonstruktion der Rheinbrücke  auf Grundlage einer kommentierten Auswertung des Textes von bG IV 16-19 und unter Einbezug des (späteren) römischen Architekten und Teilnehmers am Gallien-Feldzug Vitruv(ius Pollio) unternimmt Daniel Hinz: Caesars Rheinübergang (B.G. 4, 16 ff.), Universität Köln, Historisches Institut, Alte Geschichte, SS 2017 (Bachelor-Arbeit).

Vgl. auch Bernd Nebel – Julius Cäsars Brücke über den Rhein, auf www.bernd-nebel.de: BRÜCKEN – Architektur, Technik, Geschichte.]

Tigna bina sesquipedalia paulum ab imo praeacuta dimensa ad altitudinem fluminis intervallo pedum duorum inter se iungebat. 4 Haec cum machinationibus immissa in flumen defixerat fistucisque (Pfahlrammen → Ehrenbreitstein 2008) adegerat, non sublicae modo derecte ad perpendiculum, sed prone ac fastigate, ut secundum naturam fluminis procumberent, 5 iis item contraria duo ad eundem modum iuncta intervallo pedum quadragenum ab inferiore parte contra vim atque impetum fluminis conversa statuebat. 6 Haec utraque insuper bipedalibus trabibus immissis, quantum eorum tignorum iunctura distabat, binis utrimque fibulis ab extrema parte distinebantur; 7 quibus disclusis atque in contrariam partem revinctis, tanta erat operis firmitudo atque ea rerum natura ut, quo maior vis aquae se incitavisset, hoc artius inligata tenerentur. 8 Haec derecta materia iniecta contexebantur ac longuriis cratibusque consternebantur; 9 ac nihilo setius sublicae et ad inferiorem partem fluminis oblique agebantur, quae pro ariete subiectae et cum omni opere coniunctae vim fluminis exciperent, 10 et aliae item supra pontem mediocri spatio, ut, si arborum trunci sive naves deiciendi operis causa essent a barbaris missae, his defensoribus earum rerum vis minueretur neu ponti nocerent.

[Kleines Glossar:

trabs, -is – Holm = Längsbalken (einer flussaufwärts, einer flussabwärts)

tigna bina – (paarweise) schrägstehende Bockbeine

trabes bi-pedales – zwei-Fuß-dicke Querbalken (verbinden die Bockbeine wie o. bzw. werden zwischen die Doppelstämme eingelegt) = [30-35] Jochbalken im Abstand von je 40 Fuß = 12 m voneinander

fibulae – je (zwei) verbundene Rundhölzer (halten die Querbalken in den Bockbeinen)

longurii – (dünne) Stangen – quergelegt – zu den

derecta materia = Streckbalken (parallel zu und zwischen den beiden Holmen), ‘Belaghölzer‘

crates – Flechtwerk (Faschinen) aus Reisig und Ästen (der gefällten Bäume)

darüber dann Erde gestreut.

sublicae – (normalerweise) senkrechte Brückenpfähle, so in den Flussboden hinein gerammt, dass sie schräg stehen.

defensores – je drei sublicae, zu einem Dreieck geordnet zusammengestellt und miteinander verbunden, als Wellenbrecher (und Abwehr von Treibgut oder Booten der Germanen).]

 

[18] 1 Diebus decem, quibus materia coepta erat comportari, omni opere effecto exercitus traducitur. 2 Caesar ad utramque partem pontis firmo praesidio relicto in fines Sugambrorum contendit. 3 Interim a compluribus civitatibus ad eum legati veniunt; quibus pacem atque amicitiam petentibus liberaliter respondet obsidesque ad se adduci iubet. 4 At Sugambri, ex eo tempore quo pons institui coeptus est fuga comparata, hortantibus iis quos ex Tencteris atque Usipetibus apud se habebant, finibus suis excesserant suaque omnia exportaverant seque in solitudinem ac silvas abdiderant.

[19] 1 Caesar paucos dies in eorum finibus moratus, omnibus vicis aedificiisque incensis frumentisque succisis, se in fines Ubiorum recepit atque his auxilium suum pollicitus, si a Suebis premerentur (s.o. 16, 5), haec ab iis cognovit: 2 Suebos, postea quam per exploratores pontem fieri comperissent, more suo concilio habito nuntios in omnes partes dimisisse, uti de oppidis demigrarent, liberos, uxores suaque omnia in silvis deponerent atque omnes qui arma ferre possent unum in locum convenirent. 3 Hunc esse delectum medium fere regionum earum quas Suebi obtinerent; hic Romanorum adventum expectare atque ibi decertare constituisse. 4 Quod ubi Caesar comperit, omnibus iis rebus confectis, quarum rerum causa exercitum traducere constituerat, ut Germanis metum iniceret, ut Sugambros ulcisceretur, ut Ubios obsidione liberaret, diebus omnino decem et octo trans Rhenum consumptis, satis et ad laudem et ad utilitatem profectum arbitratus se in Galliam recepit pontemque rescidit.

In IV 20 ff. geht Cäsar seinen nächsten großen Grenzübertritt an – die (erste) Expedition nach Britannien …

Aber – Caesar hat‘s gegeben – Caesar hat‘s genommen: Nach zehn Tagen Bauzeit und achtzehn Tagen Aufenthalt jenseits des Rheins hat er gezeigt, a) wozu und was ein römisches Heer zu bauen in der Lage ist, und b) wie leichthin es dieses aber auch wieder zu tilgen bereit ist.

Die neue Grenze des imperium Romanum ist demonstriert und gesetzt: in Engers – Neuwied und am Rhein.

 

P.S.: Worin bestand überhaupt der Antrieb für einen römischen Pro-Magistraten wie Caesar, Provinzen zu ‚betreiben‘ und auch zu erweitern?

War es die bloße Dienstpflicht für den Staat, nach der einjährigen Amtszeit in Urbe das gleiche Amt für ein weiteres Jahr auch in einer der römischen Provinzen fortzuführen (und sei es nur, um den Verdienstausfall während der Tätigkeit in Rom durch Steuereinnahmen in der Provinz dann wieder ‚reinzuholen‘)?

Waren es politische Überlegungen – löblicher Einsatz zum Schutz für mit Rom befreundete Völker? Einfach: (auch persönliche) Machterweiterung, Veteranen-Versorgung? Oder standen am Ende nicht vielmehr längerfristig wirtschaftliche Interessen? Ackerbau, Viehzucht und Handel waren natürlich überall gegeben und bildeten die wirtschaftliche Grundlage, aber:

in Hispanien waren es die Gold-, Silber- und Zinn-Bergwerke, Britannien (Irland war in der Antike nahezu unbekannt) wird (→ Game of Thrones) mit den Eisen-Inseln in Verbindung gebracht (Zinn im SW, silberführende Bleiminen, Kohle in Mittelengland), Gallien bot wichtige Wasserstraßen und Knotenpunkte für den Handelsverkehr (Rhône, Lyon), Germanien Landwirtschaft und Handwerk (bekannt beispielsweise das Kölner Diatret-Glas): in Exkursen der Commentarii beschreibt Caesar aus seiner Sicht Gallier (VI 11-20), Germanen (21-28) und Briten (V 12-14) – auch hinsichtlich ihrer sozialen und Wirtschaftsstruktur.

Bereits in der Antike gab es die Bleivorkommen in der Gegend des heutigen Braubach oder das Römerbergwerk in Meurin (Tuffstein aus der Explosion des Laacher-See-Vulkans) als überregionalen Baustofflieferanten, und das Neuwieder Becken ist nicht erst seit heute ein Obst und Gemüsegarten.

Latein-fuer-das-21-Jahrhundert

Latein-für-das-21-Jahrhundert

Latein für das 21. Jahrhundert –

Grundlagenfach eines europäischen Gymnasiums

 

Unter zwei Vorzeichen mag man sich die Frage stellen, warum Latein als erste Fremdsprache gewählt wird: Latein ist zum einen (unbestritten) die Basissprache Europas – dazu später –, gleichwohl begegnet man zum anderen immer wieder dem Einwand, was man denn damit anfange, was man davon habe, wofür man das gebrauchen könne, was es Einem denn nütze, eine – angeblich – ‚tote‘ Sprache zu lernen.

Einmal abgesehen von der überaus lebendigen Wiedergeburt, die das Lateinische erlebt, sobald man in eine andere europäische Fremdsprache hineinhört, wird hier zunächst ein Blick in Nachbarfächer helfen: Differentialrechnung, Kurvendiskussion oder Vektoren – welche berufliche Nutzanwendung beschert beispielsweise die Mathematik, welchen konkreten, zählbaren Gewinn bringt das – unverzichtbare – Abiturwissen in diesem Fach ? Und stellt sich für viele Themen in weiteren Schulfächern wie Erdkunde, Biologie oder Geschichte, ohne die eine Allgemeine Bildung eben keine mehr wäre, die gleiche Frage nicht ebenso ? Was ‚bringt es‘, die klimatischen Verhältnisse am Äquator, Fauna und Flora der westsibirischen Taiga oder aber die Revolution in Deutschland von 1848 kennengelernt zu haben ?

Geht es nicht vielmehr darum, welche sehr wohl erwünschten Auswirkungen und Veränderungen die Beschäftigung mit einem Schulfach in unseren Köpfen, unserer Gedankenwelt erzielt, ‚angerichtet‘ hat, in welcher Weise sie uns geformt, geschult – gebildet hat ? Greifen wir nicht in späteren Jahren wie selbstverständlich auf Denkanlagen und -modelle zurück, für die wir sehr dankbar sind, daß wir über sie verfügen, ohne uns noch bewusst zu sein, wo wir sie vermittelt bekamen – logisches Denken und systematisches Strukturieren – notwendig und wertvoll für jede berufliche Tätigkeit, über-fachliche Fähigkeiten (nicht nur, aber doch in erheblichem Maße) aus dem Latein- und dem Mathematikunterricht am Gymnasium.

Ganz anders als bei den Neuen Sprachen, deren Gebrauchswert man mühelos, in wenigen Sätzen auf jedem Plakat griffig propagieren kann (und doch gar nicht muss, da er außerhalb jeder Frage steht), liegt der ‚Nutzen‘ des Lateinischen nicht von vornherein und so vordergründig auf der Hand: er tut sich erst demjenigen auf, welche/r sich (und immer auch erst, nachdem sie/er sich) darauf eingelassen hat.

Daß Latein freilich ’schwerer‘ sei als andere Sprachen, gehört in den Bereich der Sage: jede Spracherlernung stellt auf ihre Weise Anforderungen, Vokabeln und unregelmäßige Verben gehören nun einmal dazu wie mathematische Regeln oder Formeln in Physik und Chemie (– vor einer Schwierigkeit nicht gleich davonzulaufen, sondern sich einer Anforderung auch einmal zu stellen und ‚durchzubeißen‘, ist im Übrigen nicht das schlechteste Erziehungsziel). Der Unterschied liegt vielmehr darin, daß der klare, durchstrukturierte Aufbau der lateinischen Sprache ein stufenweises und systematisch-analytisches Erlernen möglich macht mit dem Ziel darauffolgenden Literaturunterrichtes, während in den Neuen Sprachen ein unmittelbarer, unreflektierter Zugriff auf die Kommunikationsfähigkeit, ein ‚Parlieren‘ angestrebt wird – dabei ist es eigentlich müßig, darauf hinzuweisen, daß in allen Unterrichtsfächern die gesetzten Ziele in durchaus unterschiedlichem Maße auch erreicht werden.

 

I . Latein als Muttersprache Europas – Basisvokabular und Modellgrammatik

 

Bekanntlich haben sich die heute gesprochenen, Neuen Sprachen Mittel-und Südeuropas aus dem umgangssprachlichen Alltagslatein des 5. und 6. Jahrhunderts herausgebildet, sind im eigentlichen Sinne regionale, später nationale Dialekte des spätantiken Vulgärlateins. Neben dem Vokabular, welches in den romanischen Sprachen Italienisch, Spanisch, Portugiesisch, Französisch, Rumänisch zu über achtzig Prozent, im Englischen zu zwei Dritteln aus dem Lateinischen stammt, sind auch die einzelnen Grammatiken Lateinische geblieben; nicht zuletzt unsere eigene, deutsche Grammatik lässt sich von der lateinischen her erst recht erschließen. Der umfangreiche Bestand an Fremd- und Lehnwörtern im Deutschen allgemein, in den einzelnen Fachsprachen insbesondere, sowie an naturwissenschaftlich-medizinisch-technischem Vokabular (Computer – Informatik – Processor u.a.m.) ist direkt oder indirekt ein Lateinischer.

Man kann das lateinische System als klarstes Modell dafür nutzen, aus welchen Elementen Sprache überhaupt besteht, wie sie aufgebaut ist und funktioniert, als sprachlichen Setzkasten, in dessen einzelne Kammern man neben die lateinischen Ausgangsfiguren die jeweiligen deutschen Entsprechungen einordnen wird, sodann diejenigen im Englischen, Französischen, Spanischen … usw. Diese Form grammatikalischer Behandlung eines sprachlichen Systems als Fundament und Ausgangspunkt, als Schlüssel für das Erlernen weiterer, hiervon abgeleiteter Sprachen wird allein im Fach Latein betrieben, während sie im neusprachlichen Unterricht bewusst in den Hintergrund gerückt ist. Man hört häufiger, daß Latein als Sprache stehengeblieben sei, daß hier nichts Neues mehr komme – genau dies macht Latein als allgemeinverbindliches, sprachliches Grundlagenmodell umso tauglicher !

 

II. ‚Logisches Denken‘

 

Latein erzieht von Beginn an zu aufmerksamem Hinsehen und genauer Einordnung des Beobachteten, Grundlagen für jeden analytischen Umgang mit zunächst einmal fremden Texten. Diese Art sorgfältiger Sprachreflexion schult ein Verwenden gesprochener wie geschriebener sprachlicher ‚Bausteine‘, deren einzelne Elemente nach festgelegten Kategorien geordnet und systematisch aufeinander bezogen sind – Grammatik im besten Sinne als Grundlage einer Sprachbetrachtung auch in den Tochtersprachen Europas.

Daß gerade bei der Übersetzung ins Deutsche, die niemals eine wortwörtliche sein kann (und will), stets um den bestmöglichen Ausdruck, eine treffende, den Sinn präzise wiedergebende Wendung ‚gerungen‘ werden muss, führt zu einem deutlichen Mehr an muttersprachlicher Kompetenz, Ausdrucksvielfalt und Sprachgefühl. Eine angemessene Wiedergabe lateinischer Satzbauteile und -konstruktionen, die im Deutschen keine deckungsgleiche Entsprechung haben, trainiert ein hohes Maß an Abstraktions- und Übertragungsfähigkeit (Transfer) beim Auffinden des sinngemäßen Pendants im Deutschen.

Die regelmäßige interpretatorische Arbeit im Lateinunterricht bildet methodisch die Fähigkeit aus zur systematischen Analyse, zu gedanklicher Gliederung, Schlußfolgerung und Darstellung von Texten auch der eigenen, deutschen Literatur. Und damit ist zugleich das Stichwort gegeben, welches zum entscheidenden, freilich erst längerfristig und oftmals indirekt wirksamen ‚Nutzen‘ des Lateinunterrichtes führt – zum Methodenwissen, welches fachunabhängig für einen späteren Hochschulgang zu einer weitaus höheren, allgemeinen Studierfähigkeit führt als jede fachspezifisch erworbene Detailkenntnis in einem naturwissenschaftlichen Leistungskurs.

Latein als Denkschule, als ‚Trimm-Dich-Pfad‘ für die ‚kleinen grauen Zellen‘, als Ausweis von Genauigkeit und Unterscheidungsfähigkeit, von geistiger Beweglichkeit und Durchhaltevermögen ist nicht das schlechteste Zeugnis persönlicher Leistungsbereitschaft für Vorstellungsgespräche gerade bei Unternehmen der freien Wirtschaft: Spezialist wird man in jedem Beruf von allein – und das wissen dort auch die Personalchefs.

 

III. Grundlagenliteratur und -kultur Europas

 

Nicht zuletzt aber ist die lateinische Literatur , zu welcher die lateinische Sprache über das vorher Gesagte hinaus gleichfalls führt, für unsere europäische Literatur stets und nach wie vor prägend geblieben – Horaz für die lyrische, Vergils Aeneis für die epische, Plautus, Terenz und Seneca für die dramatische Dichtung (alle in der Nachfolge und als Vermittler griechischer Originale), in mehreren Prosadisziplinen Cicero: das von den Griechen herkommende System der antiken Rhetorik (in der schriftstellerischen Theorie wie in der politischen Praxis seiner Gerichts- und Staatsreden), die Staatsentwürfe (mit ihren vielfältigen Fragen nach dem Zusammenspiel der gesellschaftlichen Kräfte, nach dem Kreislauf der Verfassungsformen [Monarchie, Aristokratie, Demokratie sowie ihren Entartungen], nach dem Verhältnis von Macht und Recht, dem Konflikt von Ethos und Nutzen, der Verantwortung des Einzelnen gegenüber den Belangen der Allgemeinheit), der Kanon römischer Jurisprudenz, die philosophischen Systeme Epikurs, der Akademie Platons, des aristotelischen Peripatos und der Stoa sollten in einem ersten Schritt in lateinischem Gewand seinen römischen Landsleuten vermittelt werden, stehen durch diese lehr- und schulmeisterliche Großtat aber auch heutiger Betrachtung und kritischer Weiterentwicklung zur Verfügung.

Die Haltung des Stoikers Seneca unter einem tyrannischen Regime, seine Bewertung der Lebenszeit wie seine Haltung zum Tod, Glück und Freiheit des Menschen gegenüber Göttern und Schicksal, die gelassene Souveränität der Individualseele: formuliert werden hier grundlegende Daseinsfragen, welche zeitlos geblieben sind – im Kontrast zu ihrer Zeit und Lebenswelt sehen wir die eigene klarer, in der Auseinandersetzung mit ihren zeitbedingten Antworten finden wir Orientierung auf dem Weg zu eigenen. Im ständigen ‚Sich-Reiben‘ an den Lebensmodellen der 2000 Jahre entfernten und doch so nahegebliebenen Antike erschließen wir uns unabhängig von modischen Trends und Mainstreams und eigenständig gegenüber Parolen und Einflüsterungen eines beliebigen Zeitgeistes das uns je Zuträgliche (– diese kritische Individualität und geistige Souveränität hat die Vertreter der Alten Sprachen und ihrer Literaturen besonders totalitären Menschheitsbeglückern von links bis rechts stets suspekt gemacht).

Die mythologische Welt der Metamorphosen Ovids ist allen Gattungen der Bildenden Kunst ein motivischer Steinbruch gewesen, Geschichtsschreibung (Sallust, Livius, Tacitus) findet bis in die (frühe) Neuzeit in lateinischer Sprache statt, die kaiserzeitliche Architektur Vitruvs bleibt Grundlage für die moderne Baukunst ebenso wie Quintilians Ausbildung des Redners für die Entwicklung der Rhetorik oder der spätantike Codex Iustinianus für das europäische Rechtswesen. Römische Alltagskultur und Öffentlichkeit, privates wie staatliches Leben, in der Antike in alle Teile des Imperium Romanum getragen, geben das Muster für die spätere, gemeinsame europäische Entwicklung vor; diese Linien werden im Lateinunterricht aller Klassenstufen anschaulich gemacht, und entsprechende Sachkapitel begleiten von Beginn an bereits die Spracherlernung.

Nehmen die angesprochenen Themen aus Philosophie, Staatslehre, Wirtschaft, Kultur u.a. in Latein auch breiten Raum ein, so sind sie gleichwohl auf dieses Fach gar nicht zu beschränken: die ganze Vielfalt abendländischen Geisteslebens, dessen antike Grundlagen den Untergang des Römischen Reiches überlebt haben, in der karolingischen Renaissance wie in der des Quattrocento und im Humanismus wiederaufgenommen wurden, wird mit lateinischem Schlüssel fächerverbindend erst wirklich eröffnet.

Dabei ist das Lateinische über das gesamte Mittelalter bis tief in die Neuzeit die Lingua franca der Historiker, der politischen wie philosophischen Literaten, des gesamten grenzüberschreitenden intellektuellen Lebens Europas gewesen (nicht zuletzt der Geschichtswissenschaftler findet seine Originalquellen in dieser Sprache vor, und neusprachliche Übersetzungen – wenn es denn überhaupt solche gibt – können nie mehr als nur ein Notbehelf sein). Dem entspricht, daß zu einem modernen Unterricht auch Texte des lateinischen Mittelalters und darauffolgender Jahrhunderte gehören. Als besonderes ‚Krönchen‘ für Latein als ‚Roten Faden‘ Europas sei schließlich darauf hingewiesen, daß diese – wirklich tote ? – Sprache noch bis tief in unser 2o. Jahrhundert das alle nationalen Sprachbarrieren überwindende Medium an den Universitäten geblieben ist und in der Bewegung der modernen Latinitas viva auf (nur für manch einen) verblüffende Weise den Nachweis erbringt, diese Rolle noch in unseren Tagen mit ungebrochener Vitalität und ciceronischer Eleganz spielen zu können … – kurz:

 

IV. Formale und materiale Bildung

 

Die Frage nach Latein ist letztlich die Frage nach dem Stellenwert, den man einer Allgemeinen Bildung einzuräumen bereit ist vor einer kurzfristig angelegten, sicher nützlichen, aber auch auf anderen als den schulisch-gymnasialen Wegen angebotenen Aus-bildung, welche Gegenstand des berufs- oder auch realschulischen bzw. nach-gymnasialen Bereiches ist und auch bleiben sollte. Dabei habe ich hier die Frage des Latinums für alle sprachlichen wie historischen und philosophischen Studienfächer bis zur Medizin einmal bewusst ausgeklammert.

Wer die Zukunft seiner Lebenswelt angehen möchte, sollte sich über ihre Herkunft und deren Gesetzmäßigkeiten im Klaren sein, um hieraus wiederum Maßstäbe für eigenes Handeln zu gewinnen. Und im Blick auf das – zu Recht, aber oftmals oberflächlich – vielzitierte Europa lässt sich kaum ein Schulfach europäischer anwenden und verstehen als das allgemeinbildende, abendländische Grundlagenfach Latein.

 

Michael P. Schmude

 

aus: Forum Classicum 40 (1997), S. 8-11.

Vgl. auch → www.Ulisseweb.eu – Official Documents of the Perugia Convention 06.26.2006.

auch in: Die Weiterbildungslehrgänge Latein (2005-2011), hg. von K. Sundermann. Mainz 2013 [Impulse 15], S. 17-20.