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Zu-F-Montanari-History-of-Ancient-Greek-Literature

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Franco Montanari: History of Ancient Greek Literature – Vol. 1: The Archaic and Classical Ages; Vol. 2: The Hellenistic Age and the Roman Imperial Period. With the collaboration of Fausto Montana. Transl. from the Italian Original by R. Barritt Costa and Orla Mulholland. Berlin / Boston (de Gruyter) 2022. XXIX & 1174 S., € 290,00 (ISBN 978-3-11-041992-4).

aus: FORUM CLASSICUM 66 (2023), S. 160-163.

Das zweibändige Werk, ursprünglich erschienen Roma 1998 (Laterza), in zweiter, erweiterter Auflage 2017 (Edizioni di Storia e Letteratura) umfasst in einer überaus gehaltvollen und auf das Klarste durchstrukturierten Darstellung die Geschichte der griechischen Literatur in ihren Gattungen, Autoren und Erscheinungsformen von Homer bis Synesios von Kyrene. Biographien und Werke werden ebenso wie deren Sitz im literarischen und gesellschaftlichen Leben nach allen Seiten in ihre Epochen eingebettet und errichten ein minutiöses Gesamtbild der griechischen Antike von der Mykenischen Zeit, den Hellenic Middle Ages und der Dorischen Wanderung (‚Rückkehr der Herakliden‘) bis in die römisch dominierte Spätantike.

Die – ausweislich eines 27seitigen Inhaltsverzeichnisses auf ein Maximum an Detail angelegte – Gliederung folgt in kleinsten Schritten der ‚klassischen‘ Ordnung (welche hier bestenfalls summarisch angedeutet werden kann): eine Introduction zeichnet die Perioden der griechischen Sprache und ihrer Phänomene (Dialekte, Koiné), Text- und Überlieferungsgeschichte nach. The Archaic Age teilt sich in Epik, Lyrische Dichtung, Philosophie und Historiographie sowie Fabel. The Classical Age führt die Vorsokratiker fort und über das frühe Drama (Alte Komödie und Aischylos) zur Sophistik und Sokrates sowie zum klassischen (demokratischen) Theater einerseits, zu Epos und Lyrik des 5. und 4. Jh. v. Chr. andererseits. Von der Medizin der Zeit zeugen die Hippokratische Schule, (nach den Logographen) für die Geschichtsschreibung Herodot als father (seit Cic. leg. I 5) und Thukydides als Begründer der politischen Monographie. Die klassische Rhetorik des 5. Jh. (Lysias), die nachthukydideischen Historiker (Xenophon), Redekunst (Isokrates, Demosthenes) und Nachsokratiker (Alte Akademie und Peripatos) des 4. Jh. leiten über zur folgenden Epoche des Hellenistic Age. Hier stehen zunächst die Neue Komödie (Menander) und Tragödie sowie die Alexandrinische und Pergamenische Philologie, Textkritik und Grammatik. Die Dichtung des Hellenismus repräsentieren als Leuchtturm Kallimachos, daneben Apollonios von Rhodos (Epos), Theokrit (Bukolik) und Herondas (Mimiambus), den philosophischen Sektor bestimmen die Schulen der Skepsis (Akademie), Epikurs und die Frühe wie Mittlere Stoa. Es folgen Wissenschaft (Mathematik und Mechanik, Astronomie und Medizin), Rhetorik (Asianismus vs. Attizismus) und Historiographie (Alexander-Historiker, Polybios, Diodorus Siculus) sowie die jüdisch-alexandrinische Literatur (LXX). In The Roman Imperial Period faltet sich die griechische Literatur – auch in Richtung Fachschriftstellerei – weiter auf: Rede- und Stilkritik, professionell nunmehr in Rom, werden vertreten durch Dionys von Halikarnass, den Autor von Perì Hýpsous, Demetrios und Hermogenes von Tarsos, Geschichtsschreibung (nochmals Dionys sowie Cassius Dio oder dann im Übergang zum MA Prokop von Caesarea) und Geographie (Strabon, Cl. Ptolemaios) um die Peri(h)egetik (‚Reiseführer‘ – Pausanias) ergänzt; ein Solitär bleibt Plutarch aus dem boiotischen Chaironeía. Zugleich treten im 1. Jh. und im Umfeld der NTlichen Schriften jüdisch-christliche Autoren (Philo von Alexandria, Flavius Iosephus) auf, während die philosophisch-wissenschaftliche Literatur die Schulentwicklung aus dem Hellenismus fortführt (Plotin und der Neuplatonismus auf der einen, Galen oder Artemidor von Daldis auf der anderen Seite). Die Zweite Sophistik (im Geiste des Attizismus) verbindet einmal mehr Beredsamkeit und Philosophie (Dion von Prusa ‚Chrysostomos‘, Aelian aus dem latinischen Praeneste), und mit Lukian von Samosata erfolgt der Übergang zur narrativ-fabulierenden Novellistik des griechischen Romans (Longos, Heliodor oder die aisopischen Mythiamben des Babrios). Die kaiserzeitlichen Kompendien, alle Bereiche der kommenden Artes liberales betreffend, reichen von den Grammatikern Apollonios Dyskolos und Aelius Herodian (2. Jh.) bis zum Florilegium des Johannes Stobaios im 5. Jh. Ein nochmaliges Wiederaufblühen erlebt die Rhetorik in der ‚Späten Sophistik‘ des 4. Jh., attizistisch orientiert an den klassischen Vorbildern wie Demosthenes und bereits eingegliedert in die Auseinandersetzung zwischen Heiden- und Christentum nach der Konstantinischen Wende (Libanios von Antiochia). Einen Niedergang hingegen verzeichnet die Dichtung; im Bemühen, überlieferte Muster neu zu beleben, heben sich unter ihren Gattungen Epigramm und Epos hervor, letzteres insbesondere in Form des narrativen (Nonnos, Musaios) und Lehrgedichts, desgleichen orakelnde Hexameter der Sibyllen und spirituelle Hymnen aus dem Umfeld der Mysterienkulte (Orphiká). Zweigeteilt ist das letzte Kapitel über die griechisch-christliche Literatur – in die Phase vor Konstantin: Apostolische Väter, Apologeten, Märtyrerakten, Gnosis und Alexandriner (Clemens, Origenes) sowie in diejenige als Staatsreligion: Arianer, Eusebios von Caesarea, syrisch-palästinische und kappadokische Väter, Antiochener (Johannes Chrysostomos) und das Ende der Schule von Alexandria.

Die Epochenabschnitte im Großen beginnen mit einen historischen Überblick (The Period) und bestimmen die politischen Grundzüge der Zeit: so das Classical Age mit der Definition der namensstiftenden Idee sowie einer Beschreibung Griechenlands nach den Perserkriegen und in der ersten Hälfte des 5. Jh.; es folgen dort eine Behandlung des Perikleischen Zeitalters, des Peloponnesischen Krieges und griechischen Westens, sodann eine Darstellung der Hegemonie Spartas in der ersten und des Zugriffs Makedoniens auf Gesamtgriechenland in der zweiten Hälfte des 4. Jh., bis – wie stets – mit einer Vue d‘ensemble über die literarischen Gattungen der Schritt zum ‚eigentlichen‘ Thema geleistet wird.

Die entsprechenden Kapitel leiten methodisch zunächst in das jeweilige Génos bzw. die maßgebende geistige Strömung ein und verankern diese sodann in ihrem sozialen Umfeld. Es folgen – in zeitlicher Ordnung – die einzelnen Autoren, Leben und Werk(e), ggfs. verbunden mit Bemerkungen zur Textüberlieferung, schriftstellerische Merkmale (regelmäßig wiederkehrende Kapitel zu Komposition und Gehalt, überall zu Language and style; wo neu, auch zur Metrik), Rezeptionsgeschichte. Bei größeren Zusammenhängen, beispielsweise Hellenistische Dichtung (= Kap. IV der betreffenden Epoche), werden strukturähnliche Untergliederungen vorgenommen, hier: (2 ff.) Elegie und Epigramm – Kallimachos – Lehrdichtung – Epos – Bukolik – Tradition und Neuerung – Mimus, und innerhalb deren wiederum ein vergleichbarer Aufbau. Die engmaschige Führung in allen Abschnitten, gestützt durch Kopfzeilen: links Kapitel (Archaic Greek Epic), rechts Untergliederung (Epic cycles and post-Homeric epic), sorgt in der fortlaufenden Lektüre für kontinuierliche Orientierung; der Verzicht auf jegliche Fußnoten bzw. Anmerkungsapparat sowie eine klare und jederzeit wohlverständliche Sprachgestalt geben das Ihre hinzu.

Auch die Werkbeschreibungen im Einzelnen fügen die opera wiederum in ihren historisch-politischen Kontext (Paradebeispiel: Aristophanes) ein. Forschungsprobleme erfahren angemessene Diskussion: die Homerische Frage – Autorschaft und Genese aus der Oral poetry (Homer und die Homeriden von Chios), Weitergabe (Rhapsoden) und verbindliche Sammlung (Peisistratiden) der Gesänge wird (S. 108-126) von den antiken Quellen an (literarischen Zeugnissen; dazu Kommentaren und Scholien, insbesondere der Alexandriner) in allen wesentlichen Stationen der Debatte über Humanismus und Renaissance bis in die Philologie der Moderne (vom Unitarismus Aristarchs von Samothrake [→ S. 779 vs. Chōrizóntes] zum Analytical criticism des Abbé d‘ Aubignac) und Gegenwart bündig zusammengefasst. Die Theognideische stellt (S. 204 f.) die Frage nach Herkunft und Zusammensetzung des – im Vergleich zur Überlieferung anderer frühgriechischer Lyriker (von Pindar einmal abgesehen) – umfangreichen Corpus an (politischen – moralischen – Liebes-) Elegien aus unterschiedlichen Zeiten und dichterischen Anlässen, die Herodoteische (unitary vs. evolutionary criticism, S. 563-566) wie die Thukydideische (S. 580-583) – besonders im 20. Jh. – nach Einheit oder Komposition des Werks und Kontinuität seines Geschichtsbildes. Die Figur des historischen (→ Aristoph. Wolken) wie des literarischen (Platon, Xenophon) Sokrates hat von jeher Fragen aufgeworfen; M. sichtet (S. 418-421) akribisch und kritisch die Quellen zu Beiden – Parallelen zu Jesus von Nazareth in seiner Zeit und im Kontext der Schriften des Neuen Testaments und der jüdisch-christlichen Historiker (Josephus, Lukas; S. 1005, 1013 ff.) liegen auf der Hand. Der auf Aristophanes von Byzanz und Aristarch (s.o.) zurückgehende Kanon der Zehn Attischen Redner steht bei Dionys von Halikarnass (S. 946 f.) vor Augen, wird für Caecilius von Caleacte (Sizilien) reklamiert (S. 948) und unter (Ps.-?) Plutarch (S. 998) erwähnt. Man wünschte sich, bei aller Fragwürdigkeit solcher im Hellenismus einsetzenden Auswahlen, doch – nicht zuletzt aus dem Blickwinkel bereits antiker Literarkritik – an gegebener Stelle noch einige Bemerkungen zum Kanon der Neun Lyriker des Antipatros von Thessalonike (Anth. Pal. IX 184 und 571; Quint. X 1, 58-67, auch bei Dion. Halikarn. und Hermogenes), entweder bei den Dichtern selbst oder bei den alexandrinischen Gelehrten (→ S. 780). Nach Sappho (S. 223 ff.) behandelt M. (S. 280 f.) mit Corinna, Telesilla und Praxilla weitere Lyrikerinnen aus deren Kanon des gleichen Antipater (Anth. Pal. IX 26). Sorgsam entflicht er den Epischen Kyklos aus den Verästelungen seiner Einzelstränge und verweist auch auf gänzlich Verlorengegangenes (Herakléis, Theséis): die ‚homerischen‘, nicht-kyklisch angelegten Großepen setzen den trojanischen Sagenkreis inhaltlich voraus (S. 139), bleiben dichterisch aber eigenständig (Aristoteles, Poet. 1451 a 16-35); stofflich-genealogisch auf Theogonie und Titanomachie, Argonauticá und Thebanischen Kreis folgend, verdankt sich der Troianische in der uns vorliegenden Form mit Kýprien, Aithíopis, Kleiner Ilias, Iliupérsis, Nóstoi und Telegonía maßgeblich der Chrestomathía des Proklos (2. Jh., S. 134). Bei Alldem finden sich nicht nur Literarisch-Philologisches im großen historischen Rahmen, sondern auch sprachgeschichtliche Gesichtspunkte durchgehend berücksichtigt, dazu Archäologisches, soweit für die literarische Entwicklung von Bedeutung (etwa Schliemann, Korfmann und Homer, S. 64-68). Mit Bd. 2 und dem Hellenismus wird die Rezeption zum regelmäßigen Gegenstand von M.s History.

Die ausführliche Behandlung endet dann vergleichsweise unvermittelt: der Übergang zur byzantinischen Ära des Oströmischen Reiches und damit in die griechische Sprache und Literatur des MA bleibt mithin einem kommenden Band dieser verdienstvollen Gesamtschau vorbehalten. Ein Literaturverzeichnis als solches – im Allgemeinen wie zu Einzelnem – fehlt. Am Ende des (in durchlaufender Paginierung gehaltenen) zweiten Teiles stehen eine von E. Squeri gefertigte und alphabetische geordnete Bibliography of Translations (unter denen die Loeb Classical Library [Cambridge MA] klar dominiert) sowie ein Index antiker bis moderner Autoren, nicht allerdings ein Sach- oder etwa geographisches Register – möglicherweise wegen des äußerst genauen Inhaltsaufrisses als entbehrlich angesehen. Die Intention dieses bei allem Umfang doch kompakten und übersichtlichen Werkes von F.M. ist eindeutig die Darstellung, nicht die sekundärliterarische Aufarbeitung oder Dokumentation eines Forschungsstandes; gleichwohl gehört es gerade darum als Alles bis ins Detail überspannende Leseausgabe in die Hand eines/r Jeden innerhalb wie außerhalb von Schule oder Universität an der griechischen Literatur Interessierten.

Michael P. Schmude, Lahnstein

Amor und Psyche

Amor-und-Psyche  [aus: Scrinium 57, 1 (2012), S. 22-26]

zu Josefine Müllers: Amor & Psyche – Das Mysterium von Herz und Seele, Frankfurt a.M. (Peter Lang-Verlag) 2011. 152 S., € 29,80 (ISBN 978-3-631-61699-4).

Geistwerdung und Erhebung der Seele zu Gott, Selbstwerdung und Individuation im Zuge der Bewußtseinsentwicklung des Menschen, erzählt in der Form von Märchen und Mysterienerzählung (hierós lógos) und im Sinne des Mythos als wahrer, ursprünglicher Rede in archetypischen, symbolischen Bildern urbildhafter Strukturen in der Tiefe von Herz und Seele, entzogen „dem Zugriff durch das Verstandesbewußtsein“, Amor-Eros und Psyche als kosmische Kräfte „eines sich in jeder Seele vollziehenden Geschehens“ – unter diesen Leitfragen (9-11) unternimmt J. Müllers (M.) eine „spirituell-psychologische bzw. philosophische Deutung“ des <Märchens von Amor und Psyche> aus dem Roman des Apuleius von Madaura (2. Jh.) [Verwiesen sei hier auch auf den einführenden Aufsatz von P. Barié und K. Eyselein „Zur Deutung von Amor und Psyche im Unterricht – Plädoyer für den (tiefen)psychologischen Gesichtspunkt“ in:  MDAV 26/2 (1983), 15-22].

Nach einer kurzen Einführung in Person und Werk des Autors sowie zur Entstehung der Metamorphosen (12-16) untersucht das zweite Kapitel zum Weltbild des Apuleius und seinem Niederschlag im Roman (17-45) insbesondere die Rolle des Eros in der griechischen Kosmogonie, der Dichtung und der platonischen Philosophie (26-35): unmittelbar nach Gaia dem Chaos entsprungen und machtvoll (Hes. Theog. 121 f.) dafür sorgend, daß diese sich mit ihrem Erstgeborenen Uranos zum schöpferischen hierós gámos vereinigt (ib. 126 ff.), bleibt der zweigeschlechtliche Eros auch in der Orphik des 7. Jh. v. Chr. eine kosmogonische Urgewalt. Zugleich berge seine Doppelnatur im Sinne der harmonischen Spannung (palíntonos harmoníē, VS 22 B 51) Heraklits (um 500 v. Chr.) den Gegensatz zwischen Zeugung/Entstehen und Vergehen: die Kehrseite des Liebreizes sind Wahnsinn und Tod (M. 28). Im platonischen Phaidros (245 b 5 – c 1) als gottgesandte Manie und Triebfeder der Seele zur größten Glückseligkeit herausgestellt, werde die Liebe im Lobreigen des Symposion zum Bestreben nach dem Schönen (178 b 2 – d 2), im Trachten nach der ursprünglichen Ganzheit des Menschen (191 d 1-3) zum Erkennen des wesensmäßig Zusammengehörigen (192 e 8 – 193 a 1), im Besitz der Kardinaltugenden (196 b 6 – e 6) zur Beförderung von Dichtkunst und Weisheitsliebe (M. 31). Als Mittler zwischen Göttlichem und Menschlichem, zwischen Unsterblichem und Endlichem (202 e 1-7) führt die so verstandene Doppelnatur des Eros in seinem Streben nach dem Schönen und Guten sowie der Erkenntnis des Gleichen zur Einheit des Ganzen. Zugleich werde das Wesen des Eros als Suche nach dem Schönen mit der Anámnēsis, der Wiedererinnerung an die Schau der Idee des Schönen, verbunden (M. 33 f.), zu welchem Schönen „an und für und in sich selbst ewig überall demselben“ (211 b 1) der Liebende in sieben Stufen steigender Teilhabe (Méthexis) vordringt (210 a 4 – 212 a 7) und auf allen Ebenen die Einheit von innerem Gott und äußerem Schönen, in welchem dieser sich realisiert, erkennt.

In diese sokratische Traditionslinie stelle sich auch Apuleius mit seiner Lehre von den Dämonen (M. 36 f.) als Dolmetscher und Mittler zwischen den himmlischen Göttern – den platonischen Ideen: unkörperlich, zeitlos, unwandelbar – und den Menschen; unsterblich wie die Götter unterliegen sie, Götter der Dichter wie eben auch Amor, allen menschlichen Affekten, und in ihrer Mittelstellung seien sie zur Ideenwelt deren Abbilder. Auf der anderen Seite stehen die Ebenen des Seelenbegriffs (M. 38-45): Homers Psychḗ als „bewegendem Form-und Gestaltungsprinzip“ (Eídolon) gegenüber dem Thymós als (praemortal) individueller, dann (postmortal) kosmischer Lebensenergie entspricht die vorsokratische Unterscheidung zwischen immanenter Lebensseele und transzendenter Geist-(Noús-)Seele. Die platonische Seele, welche sich aus sich selbst heraus bewegt, unentstanden und darum auch unvergänglich ist (Phaidr. 245 c 5 – 246 a 2), findet zu ihrer Bestimmung, der Erkenntnis des Wesens der Dinge, auf dem (nicht-sinnlichen, vgl. Phaid. 99 e 5 f.) Wege der Wiedererinnerung an ihre vorgeburtliche Schau der Ideenwelt (246 a 3 – 249 d 3); dies veranschaulicht schließlich das Gleichnis von der Seele als Rossegespann unter Führung des (selbst-)erkennenden Noús (253 c 7 ff.), welcher beim Anblick des (diesseitigen) Erōtikón allein den Wagen zügeln und zur (jenseitigen) Sphäre der Idee des Schönen hin lenken kann (M. 41 f.).

Auch in der hellenistischen und frühchristlichen Literatur steht der ursprünglich freien und göttlichen, aber ins Irdisch-Materielle gefallenen Einzelseele die kosmogonische Allseele, der göttliche Lógos gegenüber. Im „Urmenschen“ (M. 44), einem „Höheren Selbst“ und „mann-weiblicher Einheit“ aus Licht (Noús) und Leben in ihm (Psychḗ) werde Eros zum göttlichen Boten des Lichts und bereite Psyche auf den Wiederaufstieg und einen erneuten hierós gámos des weiblichen (Liebe) mit dem männlichen (Geist) Prinzip vor. Die „Ebenen göttlicher Bewußtheit“ (die physische, die Empfindungs- und die Mentalsphäre) zu durchdringen = sie sinnend zu erkennen, indem sie bei sich ‚vergessene‘ Inhalte göttlicher Liebe wieder freilege, um auf diesem Wege in die Lichtwelt zu gelangen – dieses Télos der Seele zeige „im dichterischen Symbol“ das Märchen von Amor und Psyche (M. 45).

Das dritte Kapitel bettet Amor und Psyche in den Roman als Ganzen, die Eselsgeschichte des Loukios von Patrai – in der satirischen Kurzfassung des (ungefähren) Zeitgenossen Ps.-Lukian – ein und fragt nach Intentionen des Neupythagoreers und mit ägyptischen Mysterienvorstellungen (Seth – Osiris) vertrauten „philosophus platonicus“ Apuleius für seine (erweiterte) Neubearbeitung des hier problematisierten Verhältnisses von Sein und Schein, von Seele (Mädchen) und Leib (Esel) in Form der Metamorphosen (45-50).

Dementsprechend ist das vierte Kapitel der Psyche-Novelle als solcher (Met. IV 28 – VI 24) gewidmet (60-92): das Geist- und Unsterblichkeitswerden der Seele spiegele sich auf den Realitätsebenen von Märchen wie Mythos und Mysterium, die Große Göttin (Venus) und die überirdische Schönheit in der irdisch gewordenen Seele (Psyche) weisen auf die Spannung der Gottebenbildlichkeit im Geschöpf; Amor, von Venus eigentlich als Cupido zur Züchtigung der hybriden Psyche gesandt, werde zum Opfer seiner, der „Liebe des erkennenden Herzens“ selbst (M. 63 f.). Und die sterbliche Psyche , die ontische Seele als Fühlen, habe im „Streben nach dem Anderen ihrer selbst“ ihren Weg zur Erkenntnis dieses Anderen als transzendierendem Licht und göttlichem Selbst noch vor sich (M. 65 ff.): auf ihre Entrückung in Amors Palast und Schau des Liebesgottes folgen Leiden Psyches (als verzeitlichten Aspektes der Venus) in Trennung und durch die Welt irrender Suche nach der göttlichen, präexistenten Liebe. Drei Proben für Venus (Samenkörner, Vlies der Sonnenschafe, Wasser vom Quell der Styx) münden in den Gang durch die Unterwelt als vierte: wie dabei das Motiv des Totenschlafs das „Vergessen der Unsterblichkeit der inkarnierten Seele“ symbolisiere, so stellt das Mysterium des Wiedererwachens (durch den Pfeil Amors) den Aufstieg der „Sinne der Seele“ aus ihrer sterblichen Befangenheit, die bewußte Geistwerdung der jetzt erkennenden Seele und ihre Erhebung zur himmlischen Hochzeit mit dem jetzt erkannten, wahrhaften Amor auf dem Olymp dar (M. 87 f.). Von der anderen Seite betrachtet versetzt der Gott durch die Kraft seiner Liebe die Seele (Psyche) erst in die Lage, seine Geistwirkung zu erkennen und aus Cupido nunmehr Amor werden zu lassen.

Dieses Zusammenwirken des Herzens als Erkenntnisinstanz der göttlichen Liebe (Amor) mit der sich von Cupido, dem „leidenschaftlichen Herz“ läuternden und zum Höheren Selbst erhebenden Seele (89-92) bildet den Hintergrund für das letzte Kapitel, welches die Initiation (in B. XI) des Romanhelden, des Goldenen Esels Lucius, in die altägyptischen Isis- und Osiris-Mysterien sowie auf die Horus-Ebene als Weg in eine neue (M. 97), letztlich „dreimalselige“ (M. 115) Existenzweise beschreibt. Die Selbstwerdung des Lucius-Apuleius im Roman sieht M. (92, 117-22) schließlich zusammenfassend in weitgehender Analogie zur stufenweisen Entwicklung der Seele (Psyche) im darin eingelegten Märchen. Apuleius als Psychagoge in der Nachfolge des Gottes des Sokrates (seiner eigenen Schrift und Genius) auf der Suche nach seinem wahren und höheren Selbst – mit dem Ziel, „sich dem Ebenbild Gottes anzugleichen“, zum Ausklang (M. 122) – läßt vor möglicher Hybris dann doch fast ein wenig zurückweichen.

In der Reihung und Fülle tief(st)greifender, mitunter vielfältig verknüpfter und sich überschneidender Einzelgedanken und –beobachtungen auf philosophisch-theologischer, poetologischer wie (tiefen)psychologischer Ebene zugleich ist es nicht immer leicht, den ‚Roten Faden‘ im Auge zu behalten; hier hätten mehr zusammenfassende Binnenkapitel klärender wirken können. An mancher Stelle wäre auch ein genauerer Originaltextbeleg für getroffene Aussagen anstelle etwa des allgemeinen Verweises auf Schleiermacher-Platon (bzw. bloße Kapitelzählung) oder Sekundärliteratur wünschenswert gewesen. Überhaupt wird die Primärliteratur in Übersetzung verarbeitet: M. schreibt als Nicht–Klassische Philologin (dafür nicht untypisch auch Aufbau und Gehalt des knappen Literaturverzeichnisses 123-26), ihre Quellen von Hesiod bis in die Spätantike sind Übersetzungen (u.a. Artemis, Kröner) und zweisprachige (Tusculum) Textausgaben – verdienstvoll ohne Zweifel für Studierende, und nützlich in diesem Zusammenhang auch der deutsche Textabdruck (ohne Quellenangabe ?) von Amor und Psyche (127-52). Dessen ungeachtet aber wird der Vielschichtigkeit und dem Facettenreichtum des Untersuchungsgegenstandes eine sehr dichte und tiefgehende, bisweilen erst mit dem zweiten Blick zu durchdringende, in jedem Falle aber lesenswerte Behandlung gewidmet.

                                                                                  Michael P. Schmude, Boppard