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Gesellschaftliche Relevanz der Geisteswissenschaften        in säkularen Zeiten

von     Michael P. Schmude, VPUniversity Vallendar

[Festakt zum Abschluss des Sommersemesters 25.07.2025]

Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Studierende, werte Angehörige und Gäste –

 

Anlass und Ausgangspunkt meiner folgenden Ausführungen, die in keiner Weise ein abgeschlossenes System darstellen, sondern einen fließenden Quell von Gedanken und Überlegungen eröffnen sollen, war eine Tagung im Rahmen der Theologischen Fakultät vor wenigen Wochen, als einmal mehr die unabdingbare und stets zu aktualisierende Frage nach Ausrichtung und Entwicklung philosophisch-theologischer Lehre gestellt wurde – Stichwort hier: Erweiterung des Spektrums der angebotenen Studieninhalte. Mit ihr verknüpft bleibt in einem weiteren Sinne diejenige nach gesellschaftlicher Relevanz, also Anbindung und Bedeutsamkeit der Geisteswissenschaften überhaupt, in deren Zentrum (neben den historischen und sprachlichen) unsere Fächer Theologie und Philosophie sich mit Fug und Recht verorten dürfen.

Platon, der griechische Philosoph zur Goldenen Zeit der Attischen Polis-Demokratie und (im 4. Jh. v. Chr.) Begründer der Akademie in Athen – und damit sind wir bereits mittendrin und bei einem der zentralen Köpfe geisteswissenschaftlicher Bemühungen

[er wird von vielen Philosophen als der geistige Urvater des Abendlandes betrachtet;   Folie 2   bekannt das Wort des britischen Ontologen und Mathematikers Alfred Whitehead aus seinem Hauptwerk Process and Reality (1929): Die sicherste allgemeine Charakterisierung der philosophischen Tradition Europas lautet, dass sie aus einer Reihe von Fußnoten zu Platon besteht] – ,

[besagter Platon also] machte die Frage nach dem Wesen des – insbesondere gerechten – Menschen zum tatsächlichen Anliegen seines Hautwerkes, der Politeía, welche der römische Staatsmann, Redner und Philosoph Marcus Tullius Cicero knapp dreihundert Jahre später passagenweise ins Lateinische übersetzte. Platon lässt seinen Lehrer Sokrates dafür allerdings den Blick sogleich vom Mikrokosmos Mensch auf den Makrokosmos menschliche Gesellschaft als dem größeren und anschaulicher zeigbaren Format überleiten; im Zusammenwirken ihrer unterschiedlichen Kräfte und Einzelelemente erweisen sich die Kardinaltugenden – Weisheit, Tüchtigkeit, besonnenes Maß und eben: die Gerechtigkeit als oberste und umfassende ethische Instanz. Diese Ausrichtung ist im Fortgang des Abendlandes, ‚des Westens‘, Europas zeitlos prägend geblieben, und im wertungsfreien Wettbewerb, in der gleichberechtigten (neudeutsch) Challenge der Kulturen ist jede einzelne wohlberaten, sich selbst, das jeweils Ihre bestimmen und beschreiben zu können, spätestens sobald sie in einen Austausch auf Augenhöhe mit ihren Nachbarinnen tritt – das ist die zentrale Aufgabe und (wieder neudeutsch) Kernkompetenz jeglichen geisteswissenschaftlichen Tuns.

Folie 3

I. Gesellschaft – wie können wir diese definieren?

Folie 4            Cicero, De re publica I 39-41: Est igitur res publica res populi, populus autem non omnis hominum coetus quoquo modo congregatus, sed coetus multitudinis iuris consensu et utilitatis communione sociatus. eius autem prima causa coëundi est non tam inbecillitas quam naturalis quaedam hominum quasi congregatio; non est enim singulare nec solivagum genus hoc, sed ita generatum, ut ne in omnium quidem rerum affluentia idque ipsa natura non invitaret solum sed etiam cogeret

Gesellschaft ist also nicht jeder irgendwie nach dem Zufallsprinzip zusammengewürfelte Haufen, sondern ein bewusster Zusammenschluss von Menschen, regelbasiert über ein von sämtlichen Mitgliedern angenommenes Rechtsverständnis und geeint im Nutzen, welcher sich für Alle aus diesem Gemeinwesen ergibt. Und der Grund dafür, ein solches zu bilden, liegt in einem natürlichen Bedürfnis des Menschen, welcher zum Einzelgänger nicht berufen, sondern – aristotelisch gesprochen – als Zóon politikón geboren ist.

Folie 5            hier nun fährt der Kirchenvater und Cicero Christianus Laktanz (Divinae institutiones VI 11, 18) fort: … causam fuisse coëundi […] humanitatem, itaque inter se congregatos, quod natura hominum solitudinis fugiens et communionis ac societatis adpetens esset.

Die Humanitas, sein Mensch-Sein, ist das bestimmende mo(vi)mentum, welches den Menschen geradezu zwingend antreibt, eine auf sich allein gestellte Existenz zu meiden und sich mit Seinesgleichen – unter den zuvor genannten Voraussetzungen eines moralischen Regelkanons sowie wechselseitigen Gedeihs – zu verbinden.

Und Gesellschaft kann niemals als abstrakter Begriff von denen, welche sie – gleichsam als Bauteile – ausmachen, getrennt betrachtet werden, den Menschen nämlich. So stellen Gesellschafts- oder Staatslehre und Anthropologie als Menschenbild, säkular wie kirchlich, zwei Seiten der gleichen Medaille dar. Auf diese beiden Seiten bzw. die Medaille als Ganzes zielen Geisteswissenschaften ab: der einzelne Mensch in seiner – von ihm gebildeten – Gesellschaft und diese sodann in ihrer – von einer höheren, göttlichen Wesenheit geschaffenen – Ordnung der (soweit) für sie und von ihr erfahrbaren Welt.

 

II. Das Menschenbild nimmt die Philosophie in einem ersten Schritt somit aus Platons Staatslehre, welcher (in seiner bereits genannten Politeía) einen vernunftgesteuerten Teil der individuellen Seele von einem triebgesteuerten Teil unterscheidet und einen – aus beiden heraus gespeist – gemüthaften dazwischensetzt. Die Theologie stellt im Herbst der Antike der irdischen Respublica Ciceros die von Gottes Plan gelenkte, mithin überlegene Civitas Dei des kanonischen Kirchenlehrers Augustinus von Hippo Regius (im heutigen Algerien) gegenüber. Und es ist diese gesellschaftstheoretische und zugleich anthropologische Debatte, welcher ein Studium der Geisteswissenschaften im Allgemeinen, der Theologie und Philosophie im Besonderen dient – gerade in säkularen, an Diesseitigem ausgerichteten Zeiten, in denen das Transzendente, die Welt hinter der oder über der sichtbaren Welt, allzu oft übersehen wird.

Der Zugang zu den unterschiedlichen Ansätzen von Mensch – Gesellschaft – Welt hinter ‚den Dingen‘, historisch wie systematisch, erfolgt über eine kritische Auseinandersetzung mit den und in den diese vermittelnden Erst-, vulgo Originalschriften – und das heißt auch: in deren Ausgangssprachen, welche zu keiner Zeit durch sekundäre Quellen wie Übertragung, Paraphrase oder gar nur Zusammenfassung ersetzt werden konnte(n). Gute Geisteswissenschaft hat diese zu leisten und stellt mit der Diskussion innerhalb – nicht (mehr oder weniger lose) darüber – den Bezug zur gegenwärtigen, uns Alle umgebenden Gesellschaft, zu ihren Gruppen und ihren Individuen her. Sensibilität für einen bewussten Umgang mit Sprache, Fähigkeit zur Analyse aussagekräftiger literarischer Werke, Verständnis für Verbindendes und Trennendes, für kulturbedingte Wertvorstellungen und Lebensziele wechselnder Zeiten werden anhand zentraler zivilisatorischer Texte und im Dialog zwischen theologischer und säkularer Tradition recht eigentlich erst zum Wirken und Leben gebracht.

Damit ist Geisteswissenschaft zugleich deren konstituierenden Elementen, den Menschen verpflichtet: Was kann ich wissen, was soll ich tun, was darf ich hoffen, was ist der Mensch? – die Kant´schen Grundfragen jeden ethischen Seins (aus seinen Vorlesungen zur Logik von 1800). Wer bin ich? oder Wie soll ich sein?, transzendiert um die theologische Frage Wo werde ich hin gehen? und aktualisiert oder verallgemeinert Welche Rolle möchte ich in meiner Gemeinschaft einnehmen und wie soll diese aussehen – wie geht es weiter, wenn ich nicht mehr bin?: eine Behandlung ebendieser existenziellen Fragen, die fraglos junge Menschen jedweder modernen Gesellschaft und quer durch alle Kulturen umtreiben, sollte ein Kernanliegen zeitgemäßer gesellschaftswissenschaftlicher Angebote abbilden und über rein säkulare, innerweltliche Antworten weit hinausgehen – in einem ethisch-theologisch-philosophischen, nicht zuletzt auch spirituellen Sinne. Auf unser Haus wiederum übertragen ist der Mensch als gemeinschaftsbildendes Wesen die Klammer und Brücke, welche die beiden Fakultäten der Vinzenz Pallotti University – Theologie und Humanwissenschaften – viceversa verbindet.

 

III. Geisteswissenschaften stellen den Menschen, das humanum in den Mittelpunkt ihrer Lehre, und nicht ohne Grund ist der – zunächst europäische, von jeher aber universal und stets interkulturell zu denkende – Humanismus der anbrechenden Neuzeit aus der Renaissance, der Wiedergeburt der griechisch-römischen Philosophie im Schoße der christlichen Theologie hervorgegangen. Die Wolfsnatur des Menschen, welche der englische Staatstheoretiker Thomas Hobbes im 17. Jh. so fürchtete, bedingt die Notwendigkeit eines Staatsvertrages mit gegenseitigen Regeln zum Umgang einer Jeden mit einem Jeden: Gerechtigkeit ist hier keine Naturanlage – sie zeigt sich beim Menschen erst in der Gesellschaft. Und damit ist die Geisteswissenschaft wiederum bei den anthropologischen Grundfragen Immanuel Kants (s.o.) angelangt: für eine heutige Gesellschaft – und ihre Studierenden – so zeitlos maßgebend und der Anfrage wert wie Dekalog und Bergpredigt.   Folie 6   Die beim Evangelisten Matthäus formulierte Goldene Regel hält im Kern bereits den Kategorischen Imperativ des Königsberger Philosophen bereit. In einer christlichen Ethik ist die Essenz, das wesenhafte Sein eines Menschen, in seiner Gottähnlichkeit angelegt und geht seiner weltlichen und damit gesellschaftlichen Existenz voraus. Der Existenzialismus (etwa seiner prominentesten Stimme Jean Paul Sartre 1946) sieht es genau umgekehrt: der Mensch existiert quā Geburt zuerst und ist danach das, wozu er sich macht – der Mensch zur Freiheit verurteilt (welche bekanntlich das Schwierigste überhaupt sein dürfte). Und dies einmal angenommen, wird die Frage nach der Eigenart des Menschen, nach der Beschaffenheit einer Gesellschaft, in welcher er sich aufgehoben fühlt, umso dringlicher. Ob in christlicher Nachfolge oder in selbstbestimmter Individualität – am ehesten wohl in einer angemessenen Verbindung beider Ansätze – die Geisteswissenschaften sind der intellektuelle Raum, innerhalb dessen solche Debatten theologisch wie säkular unter Lehrenden wie Lernenden stattfinden.

 

IV. Es sind dies aber auch außerhalb akademischer Welten sinnstiftende Fragen für Jedermann, nach welchen sich heutige Gesellschaft aufbaut, Fragen, über welche Jede/r für sich und Alle miteinander zu ihrem Gemeinwesen in Rückbezug – Relevanz oder Referenz – stehen. Menschwerdung und Gesellschaftswerdung gehen Hand in Hand; sich in ihrer historischen Entwicklung damit auseinanderzusetzen und den je eigenen Platz in ihrem System zu finden und weiter auszubauen – das ist ein Angebot der Geisteswissenschaften für Studierende aller Semester, jeden Alters und jeder Herkunft.

 

In summa      Folie 7                       diese

  1. zu einer aufmerksamen, zu einer achtsamen Beschäftigung mit ihrer Gesellschaft in deren geschichtlichem Werdegang wie systematischen Struktur anzuleiten,
  2. kulturelle Gemeinsamkeiten wie Unterschiede wahrzunehmen und wertzuschätzen
  3. und im Vergleich den eigenen Modus zur Mensch- wie zur Gesellschaftswerdung finden zu lassen,
  4. sie Schritt für Schritt auf ihrem Weg zu ihrem persönlichen Standort darin anzuregen

stellen seitens der Geisteswissenschaften Vorbereitung für und Beitrag zum Gelingen eines Gemeinwesens dar – und aus gesellschaftstheoretischen Ansätzen theologischer Provenienz ein Pendant zu einer rein säkularen Sicht auf den Menschen und in Aller Welt.

Wir sprechen über das humanum: gesellschaftlich wie menschlich relevanter können Geisteswissenschaften, zumal in diesen, nach Orientierung suchenden Zeiten, gar nicht sein – und darüber hinaus im fortwährenden Austausch untereinander zu Antworten finden, welche das Saeculum alleine nicht zu geben vermag.

 

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit

Kreislauf-der-Verfassungen

Kreislauf-der-Verfassungen

Staats- und Gesellschaftstheorie: Polybios und Cicero über den Kreislauf der Verfassungen – die Mischverfassung als beste Staatsform

von: Michael P. Schmude         → Humanitas Nova 2016, S. 20-23

 

Ein Grundlagentext jeder politischen Debatte ist Ciceros De re publica, und hier vor Allem das erste Buch, mit welchem die staatstheoretische Diskussion des Hellenismus, namentlich im Peripatos, zusammengefasst wird. Das Werk stellt sich mit seinem Titel in die Nachfolge von Platons Politeía (ebenso wie seine gleichsam praktische Nachfolgeschrift De legibus zu dessen Nómoi); eine Antwort aus christlicher Sicht gibt der Kirchenvater Augustinus in seiner Civitas Dei. Schon der Apologet Laktanz setzt sich in Buch 5 und 6 seiner Divinae institutiones (304 ff.) mit Ciceros Schrift auseinander. Weitergeführt werden die staatstheoretischen Entwürfe durch Thomas Morus‘ Utopia (1516), Thomas Hobbbes‘ Leviathan (1651) oder John Lockes (zweiten der) Two treatises of government (1690), aber auch in Charles de Montesquieus Prinzip der Gewaltenteilung De l’esprit des lois (1748), J.J. Rousseaus Contrat social (1762) sowie den Rechtsphilosophien Immanuel Kants (1785 ff.) und G.F.W. Hegels von 1820.

Kerngedanken des ersten Buches sind der Kreislauf der wechselnden Verfassungen und die gemischte Politíe (Aristoteles) als die beste Staatsform, verwirklicht im besten empirisch existenten Gemeinwesen – Rom …

[vgl. auch J. Bender: Freie Bürger, zarte Seelen, in: FAZ vom 11.08.2016, S. 1]

 

Zur Fortführung mit griechisch-deutschem Text unter obenstehendem (grünen) Link – auf der ‚Innenseite‘

 

Amor und Psyche

Amor-und-Psyche  [aus: Scrinium 57, 1 (2012), S. 22-26]

zu Josefine Müllers: Amor & Psyche – Das Mysterium von Herz und Seele, Frankfurt a.M. (Peter Lang-Verlag) 2011. 152 S., € 29,80 (ISBN 978-3-631-61699-4).

Geistwerdung und Erhebung der Seele zu Gott, Selbstwerdung und Individuation im Zuge der Bewußtseinsentwicklung des Menschen, erzählt in der Form von Märchen und Mysterienerzählung (hierós lógos) und im Sinne des Mythos als wahrer, ursprünglicher Rede in archetypischen, symbolischen Bildern urbildhafter Strukturen in der Tiefe von Herz und Seele, entzogen „dem Zugriff durch das Verstandesbewußtsein“, Amor-Eros und Psyche als kosmische Kräfte „eines sich in jeder Seele vollziehenden Geschehens“ – unter diesen Leitfragen (9-11) unternimmt J. Müllers (M.) eine „spirituell-psychologische bzw. philosophische Deutung“ des <Märchens von Amor und Psyche> aus dem Roman des Apuleius von Madaura (2. Jh.) [Verwiesen sei hier auch auf den einführenden Aufsatz von P. Barié und K. Eyselein „Zur Deutung von Amor und Psyche im Unterricht – Plädoyer für den (tiefen)psychologischen Gesichtspunkt“ in:  MDAV 26/2 (1983), 15-22].

Nach einer kurzen Einführung in Person und Werk des Autors sowie zur Entstehung der Metamorphosen (12-16) untersucht das zweite Kapitel zum Weltbild des Apuleius und seinem Niederschlag im Roman (17-45) insbesondere die Rolle des Eros in der griechischen Kosmogonie, der Dichtung und der platonischen Philosophie (26-35): unmittelbar nach Gaia dem Chaos entsprungen und machtvoll (Hes. Theog. 121 f.) dafür sorgend, daß diese sich mit ihrem Erstgeborenen Uranos zum schöpferischen hierós gámos vereinigt (ib. 126 ff.), bleibt der zweigeschlechtliche Eros auch in der Orphik des 7. Jh. v. Chr. eine kosmogonische Urgewalt. Zugleich berge seine Doppelnatur im Sinne der harmonischen Spannung (palíntonos harmoníē, VS 22 B 51) Heraklits (um 500 v. Chr.) den Gegensatz zwischen Zeugung/Entstehen und Vergehen: die Kehrseite des Liebreizes sind Wahnsinn und Tod (M. 28). Im platonischen Phaidros (245 b 5 – c 1) als gottgesandte Manie und Triebfeder der Seele zur größten Glückseligkeit herausgestellt, werde die Liebe im Lobreigen des Symposion zum Bestreben nach dem Schönen (178 b 2 – d 2), im Trachten nach der ursprünglichen Ganzheit des Menschen (191 d 1-3) zum Erkennen des wesensmäßig Zusammengehörigen (192 e 8 – 193 a 1), im Besitz der Kardinaltugenden (196 b 6 – e 6) zur Beförderung von Dichtkunst und Weisheitsliebe (M. 31). Als Mittler zwischen Göttlichem und Menschlichem, zwischen Unsterblichem und Endlichem (202 e 1-7) führt die so verstandene Doppelnatur des Eros in seinem Streben nach dem Schönen und Guten sowie der Erkenntnis des Gleichen zur Einheit des Ganzen. Zugleich werde das Wesen des Eros als Suche nach dem Schönen mit der Anámnēsis, der Wiedererinnerung an die Schau der Idee des Schönen, verbunden (M. 33 f.), zu welchem Schönen „an und für und in sich selbst ewig überall demselben“ (211 b 1) der Liebende in sieben Stufen steigender Teilhabe (Méthexis) vordringt (210 a 4 – 212 a 7) und auf allen Ebenen die Einheit von innerem Gott und äußerem Schönen, in welchem dieser sich realisiert, erkennt.

In diese sokratische Traditionslinie stelle sich auch Apuleius mit seiner Lehre von den Dämonen (M. 36 f.) als Dolmetscher und Mittler zwischen den himmlischen Göttern – den platonischen Ideen: unkörperlich, zeitlos, unwandelbar – und den Menschen; unsterblich wie die Götter unterliegen sie, Götter der Dichter wie eben auch Amor, allen menschlichen Affekten, und in ihrer Mittelstellung seien sie zur Ideenwelt deren Abbilder. Auf der anderen Seite stehen die Ebenen des Seelenbegriffs (M. 38-45): Homers Psychḗ als „bewegendem Form-und Gestaltungsprinzip“ (Eídolon) gegenüber dem Thymós als (praemortal) individueller, dann (postmortal) kosmischer Lebensenergie entspricht die vorsokratische Unterscheidung zwischen immanenter Lebensseele und transzendenter Geist-(Noús-)Seele. Die platonische Seele, welche sich aus sich selbst heraus bewegt, unentstanden und darum auch unvergänglich ist (Phaidr. 245 c 5 – 246 a 2), findet zu ihrer Bestimmung, der Erkenntnis des Wesens der Dinge, auf dem (nicht-sinnlichen, vgl. Phaid. 99 e 5 f.) Wege der Wiedererinnerung an ihre vorgeburtliche Schau der Ideenwelt (246 a 3 – 249 d 3); dies veranschaulicht schließlich das Gleichnis von der Seele als Rossegespann unter Führung des (selbst-)erkennenden Noús (253 c 7 ff.), welcher beim Anblick des (diesseitigen) Erōtikón allein den Wagen zügeln und zur (jenseitigen) Sphäre der Idee des Schönen hin lenken kann (M. 41 f.).

Auch in der hellenistischen und frühchristlichen Literatur steht der ursprünglich freien und göttlichen, aber ins Irdisch-Materielle gefallenen Einzelseele die kosmogonische Allseele, der göttliche Lógos gegenüber. Im „Urmenschen“ (M. 44), einem „Höheren Selbst“ und „mann-weiblicher Einheit“ aus Licht (Noús) und Leben in ihm (Psychḗ) werde Eros zum göttlichen Boten des Lichts und bereite Psyche auf den Wiederaufstieg und einen erneuten hierós gámos des weiblichen (Liebe) mit dem männlichen (Geist) Prinzip vor. Die „Ebenen göttlicher Bewußtheit“ (die physische, die Empfindungs- und die Mentalsphäre) zu durchdringen = sie sinnend zu erkennen, indem sie bei sich ‚vergessene‘ Inhalte göttlicher Liebe wieder freilege, um auf diesem Wege in die Lichtwelt zu gelangen – dieses Télos der Seele zeige „im dichterischen Symbol“ das Märchen von Amor und Psyche (M. 45).

Das dritte Kapitel bettet Amor und Psyche in den Roman als Ganzen, die Eselsgeschichte des Loukios von Patrai – in der satirischen Kurzfassung des (ungefähren) Zeitgenossen Ps.-Lukian – ein und fragt nach Intentionen des Neupythagoreers und mit ägyptischen Mysterienvorstellungen (Seth – Osiris) vertrauten „philosophus platonicus“ Apuleius für seine (erweiterte) Neubearbeitung des hier problematisierten Verhältnisses von Sein und Schein, von Seele (Mädchen) und Leib (Esel) in Form der Metamorphosen (45-50).

Dementsprechend ist das vierte Kapitel der Psyche-Novelle als solcher (Met. IV 28 – VI 24) gewidmet (60-92): das Geist- und Unsterblichkeitswerden der Seele spiegele sich auf den Realitätsebenen von Märchen wie Mythos und Mysterium, die Große Göttin (Venus) und die überirdische Schönheit in der irdisch gewordenen Seele (Psyche) weisen auf die Spannung der Gottebenbildlichkeit im Geschöpf; Amor, von Venus eigentlich als Cupido zur Züchtigung der hybriden Psyche gesandt, werde zum Opfer seiner, der „Liebe des erkennenden Herzens“ selbst (M. 63 f.). Und die sterbliche Psyche , die ontische Seele als Fühlen, habe im „Streben nach dem Anderen ihrer selbst“ ihren Weg zur Erkenntnis dieses Anderen als transzendierendem Licht und göttlichem Selbst noch vor sich (M. 65 ff.): auf ihre Entrückung in Amors Palast und Schau des Liebesgottes folgen Leiden Psyches (als verzeitlichten Aspektes der Venus) in Trennung und durch die Welt irrender Suche nach der göttlichen, präexistenten Liebe. Drei Proben für Venus (Samenkörner, Vlies der Sonnenschafe, Wasser vom Quell der Styx) münden in den Gang durch die Unterwelt als vierte: wie dabei das Motiv des Totenschlafs das „Vergessen der Unsterblichkeit der inkarnierten Seele“ symbolisiere, so stellt das Mysterium des Wiedererwachens (durch den Pfeil Amors) den Aufstieg der „Sinne der Seele“ aus ihrer sterblichen Befangenheit, die bewußte Geistwerdung der jetzt erkennenden Seele und ihre Erhebung zur himmlischen Hochzeit mit dem jetzt erkannten, wahrhaften Amor auf dem Olymp dar (M. 87 f.). Von der anderen Seite betrachtet versetzt der Gott durch die Kraft seiner Liebe die Seele (Psyche) erst in die Lage, seine Geistwirkung zu erkennen und aus Cupido nunmehr Amor werden zu lassen.

Dieses Zusammenwirken des Herzens als Erkenntnisinstanz der göttlichen Liebe (Amor) mit der sich von Cupido, dem „leidenschaftlichen Herz“ läuternden und zum Höheren Selbst erhebenden Seele (89-92) bildet den Hintergrund für das letzte Kapitel, welches die Initiation (in B. XI) des Romanhelden, des Goldenen Esels Lucius, in die altägyptischen Isis- und Osiris-Mysterien sowie auf die Horus-Ebene als Weg in eine neue (M. 97), letztlich „dreimalselige“ (M. 115) Existenzweise beschreibt. Die Selbstwerdung des Lucius-Apuleius im Roman sieht M. (92, 117-22) schließlich zusammenfassend in weitgehender Analogie zur stufenweisen Entwicklung der Seele (Psyche) im darin eingelegten Märchen. Apuleius als Psychagoge in der Nachfolge des Gottes des Sokrates (seiner eigenen Schrift und Genius) auf der Suche nach seinem wahren und höheren Selbst – mit dem Ziel, „sich dem Ebenbild Gottes anzugleichen“, zum Ausklang (M. 122) – läßt vor möglicher Hybris dann doch fast ein wenig zurückweichen.

In der Reihung und Fülle tief(st)greifender, mitunter vielfältig verknüpfter und sich überschneidender Einzelgedanken und –beobachtungen auf philosophisch-theologischer, poetologischer wie (tiefen)psychologischer Ebene zugleich ist es nicht immer leicht, den ‚Roten Faden‘ im Auge zu behalten; hier hätten mehr zusammenfassende Binnenkapitel klärender wirken können. An mancher Stelle wäre auch ein genauerer Originaltextbeleg für getroffene Aussagen anstelle etwa des allgemeinen Verweises auf Schleiermacher-Platon (bzw. bloße Kapitelzählung) oder Sekundärliteratur wünschenswert gewesen. Überhaupt wird die Primärliteratur in Übersetzung verarbeitet: M. schreibt als Nicht–Klassische Philologin (dafür nicht untypisch auch Aufbau und Gehalt des knappen Literaturverzeichnisses 123-26), ihre Quellen von Hesiod bis in die Spätantike sind Übersetzungen (u.a. Artemis, Kröner) und zweisprachige (Tusculum) Textausgaben – verdienstvoll ohne Zweifel für Studierende, und nützlich in diesem Zusammenhang auch der deutsche Textabdruck (ohne Quellenangabe ?) von Amor und Psyche (127-52). Dessen ungeachtet aber wird der Vielschichtigkeit und dem Facettenreichtum des Untersuchungsgegenstandes eine sehr dichte und tiefgehende, bisweilen erst mit dem zweiten Blick zu durchdringende, in jedem Falle aber lesenswerte Behandlung gewidmet.

                                                                                  Michael P. Schmude, Boppard