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Prosodie – Metrik – Rhythmus in der antiken und nachantiken Literatur

Prosodie-Metrik-Rhythmus

Prosodie – Metrik – Rhythmus                                                                                in der antiken und nachantiken Literatur

von     Michael P. Schmude                                  

 

Inhalt: Prosodie S. 1-17; Metrik S. 17-33 [Appendix 1: Zäsur S. 33-49]; Rhythmus S. 49-79 [Appendix 2: Synkope S. 79-85].

[Vorbemerkung: überarbeitete und fortlaufend ergänzte Fassung der entsprechenenden Artikel im HISTORISCHEN WÖRTERBUCH DER RHETORIK, hg. von Gert Ueding (Tübingen und Berlin/Boston 1992-2015); M.P. Schmude <Materialien zur römischen Metrik (Bad Kreuznach 1994) [Impulse – Heft 10]> sowie <Einführung in die lateinische Prosodie und Metrik> (Mainz 2013), in: Impulse – Heft 15, S. 79-89.]

 

Die vollständige Fassung (85 pp.) der hier jeweils nur angerissenen Artikel findet sich unter obenstehendem (grünen) Link → auf der ‚Innenseite‘ …

 

Prosodie: (griech. prosōdía; lat. accentus, sonus vocis, tenor; engl. prosody; frz. prosodie; ital. prosodìa)

A. Definition, Bereiche.

B. Historische Entwicklung. – I. Antike. – II. Mittelalter. – III. Neuzeit.

Definition, Bereiche. Im etymologisch ursprünglichen Wortsinne bezeichnet der Begriff pros-ōdía einen Zu-gesang, innerhalb der antiken griechischen Chorlyrik ein Prozessionslied, bei feierlichen Anlässen zu Flöten- oder Zitherbegleitung gesungen, Kultgesänge insbesondere für Apoll [auch Paian], unter deren Autoren neben Bakchylides für Pindar zwei [fragmentarisch erhaltene] Bücher <Pros[h]ódia> bezeugt sind) allgemeiner sodann das dem bloßen Laut Hinzu-getönte, wie im lat. ac-[aus ad-]centus [canere: singen], bzw. der Verweis auf Betonungs- oder Intonationsverhältnisse in Wort und Satz, in Lyrik und Prosa.

Dem musikalischen Akzent der griechischen Sprache entsprechend handelt es sich hierbei zunächst um die Hervorhebung einer Silbe durch Änderung der Tonhöhe oder Lautstärke; doch während der lateinische Terminus accentus auf diese primäre Betrachtung begrenzt bleibt, dehnt sich seit Aristoteles und nach ihm in hellenistischer Zeit (Alexandrinische Grammatik) <Prosodie> auf „suprasegmentale“ (d.h. größer als lautliche, mehrere Lauteinheiten überlagernde) Merkmale wie Aspiration und Silbenlänge aus und umfasst als phonetisch-phonologische Kategorie schließlich in­sgesamt Akzent, Intonation und Sprechpausen, Quantität, Rhythmus und Sprechge­schwindigkeit.

Mithin ergeben sich für die Prosodie drei Bereiche:

  1. Als Lehre von der Behandlung der Sprache im Vers (Metrik), als „Gestaltung der Sprache durch die musische Form, Rhythmus in Silbenstärke und -dauer“ (v. Wilpert) thematisiert Prosodie die metrische Größe der Silbenbetonung (Akzent) durch Tonhöhe (musikalischer oder Ton-A.), Tonstärke (dynamischer, exspiratorischer oder Druck-A. [der germanischen Sprachen]) oder Tonlänge (Quantität oder temporaler A. [der antiken Sprachen]) und ist mit der Aspiration ebenso wie mit der Natur, der Dauer und dem Verhalten der Silben im Wort befasst.
  2. Im Rahmen der Rhetorik verweist der Begriff <Prosodie> auf den Sprech- bzw. Prosarhythmus, innerhalb des oratorischen Arbeitsganges der pronuntiatio auf Betonung und Aussprache, Intonation und Akzentsetzung, Abweichung vom usuellen Betonungsmuster bei spezifischen Sprecherintentionen, auf Periodenbau sowie auf Lautstärke, Tonhöhe oder Pausen.
  3. Linguistische Prosodie behandelt sprachliche Eigenschaften und Merkmale, welche sich auf größere Einheiten als einzelne Phoneme beziehen (suprasegmentale [s.o.] bzw. prosodische Merkmale). Hier steht Prosodie auf einer Ebene zwischen Phonologie und Syntax, bezieht sich auf Laute, Silben, Wörter und Sätze.

 

Metrik: griech. metriké téchnē – Lehre von den Versmaßen und strukturbildenden Gesetzmäßigkeiten der Dichtersprache. Für die rhetorische Kunstprosa gewinnt die Verslehre insofern Bedeutung, als metrische Phänomene hier bewusst zur klanglichen Untermalung oder Verstärkung des auszudrückenden Gedankens herangezogen werden. Im System der Rhetorik somit Bestandteile des Ornatus (Redeschmuck) – hier: in verbis singulis –, sind diese in den Arbeitsgängen des Redners als Tugend der Elocutio, der sprachlichen Ausformulierung und Stilisierung, sowie der Actio / Pronuntiatio, dem Vortrag, zuzuweisen.

A. Definition: I. Metrum und Rhythmus. – II. Rhetorische Aspekte der Metrik.

B. Historische Entwicklung: I. Antike. – II. Mittelalter. – III. Neuzeit.

Definition. I. Metrum und Rhythmus. Innerhalb der M. als umfassender Vers- und Strophenlehre bezeichnet métron, metrum (Versmaß) in einem weiteren Sinne das Aufbauprinzip des Verses nach Quantität oder Akzent, bestehend aus einer regelmäßigen Abfolge von Versfüßen (pedes), in einem engeren Sinne diese pedes selbst als kleinste strukturgebende Einheiten poetisch gebundener Sprache. Die wichtigsten Gliederungsprinzipien der M. sind das quantitierende (nach langen und kurzen) der griechisch-lateinischen M. und das akzentuierende (nach betonten und unbetonten Silben) der deutschen und englischen M.; das silbenzählende der romanischen M.en sowie das akzentzählende Prinzip bilden die rhythmische Gestalt des Verses durch eine feste Anzahl von Silben überhaupt bzw. betonten Silben. Über die M. hinaus führt die Beobachtung, dass (im Griechischen und Lateinischen) jede sprachliche Äußerung in einer „irgendwie gearteten Abfolge von langen und kurzen Silben“ besteht, deren kunstgemäße Gestaltung sowohl die ars poetica als auch die ars rhetorica zum Gegenstand haben. Die kleinste, in Hebung und Senkung geregelte Abfolgeeinheit langer und kurzer Silben ist der pes, welcher nach verschiedenen Typen unterschieden wird: iambus, trochaeus, dactylus; anapaestus, spondeus … Der Unterschied zwischen den beiden artes besteht darin, daß die poetica die gesamte sprachliche Äußerung in eine regelmäßige Abfolge von Versfüßen fasst und damit das metrum konstituiert, die rhetorica dagegen in einer freieren Anordnung quantitierender oder akzentuierter Silben ihr sprachliches ‚Rohmaterial‘ durchgliedert, besonders aber das Kolon- bzw. Periodenende metrisch fügt (Klausel) und so für den oratorius numerus, den Prosa-Rhythmus sorgt. In der Dichtung wird Rhythmus durch die Spannung zwischen (wiederkehrender) metrischer Festlegung und (wechselnder) sprachlicher Füllung hergestellt, hält das metrum sozusagen das äußere Schema für den Rhythmus als Innenleben bereit. Dabei ist – historisch gesehen – für die antike Theorie der rhythmós allgemein jeder durch zeitliches Regelmaß gegliederte Bewegungsablauf, das métron der an das sprachliche Material gebundene Versrhythmus, während das Mittelalter mit rhythmi akzentuierende (lateinische und deutsche) Dichtungen im Unterschied zu den quantitierenden (lateinischen) carmina metrica, mithin verschiedene Versprinzipien bezeichnete.

 

Appendix 1:  Zäsur: (griech. tomḗ – von témnein ’schneiden‘; lat. caesura; engl. c(a)esura; frz. césure; ital., span. cesura).

A. Definition, Bereiche: 1. Allgemein. – 2. Sprach- und literaturwissenschaftlich. – 3. Antike griechisch-lateinische Metrik. – 4. Zäsur in der Musik. – 5. Klassifizierungen der metrischen Zäsur. – 6. Komma und Kolon. – 7. Zäsur in der Rhetorik.

B. Historische Aspekte: I. Antike. – II. Spätantike und Mittelalter. – III. Neuzeit.

Definition, Bereiche. 1. Der Begriff Z., abzuleiten etymologisch wie semantisch aus lat. caesura, ‚Hieb‘, ‚(Ein-)Schnitt‘ – von caedere ’schlagen‘, ‚hauen‘ (das 17. Jh. kennt ‚Caesur‘ bzw. ‚Zäsur‘ als Fachausdruck der Metrik), bezeichnet im heutigen allgemeinen Sprachgebrauch einen ‚Einschnitt‘, welcher einerseits zeitlich aufgefasst wird und ein außergewöhnliches, eine bestehende Epoche oder eine biographische Einheit, eine Entwicklung ablösendes Ereignis, einen historischen Wendepunkt markiert, und sich andererseits auf einen Sinneinschnitt oder eine Pause innerhalb eines Textes oder Vortrags beziehen kann (diese Bedeutungserweiterung entwickelt sich anfangs des 20. Jh.).

2. Ähnlich bezeichnet die Z. als sprach- und literaturwissenschaftlicher terminus technicus hörbare (→ Phonetik), also rhythmisierende und segmentierende ‚Einschnitte‘ (Pausen) innerhalb eines Verses oder eines längeren Satzes, welche – bei Sprecher wie Hörer – im künstlerischen Vortrag von Dichtung ebenso wie von rhythmisierter Prosa, in der Rezitation eines Textes oder auch einer Periode (z.B. in Prosareden) als Unterbrechung des Redeflusses zur Geltung kommen.

 

Rhythmus (griech. rhythmós; lat. numerus, oratio numerosa, auch impressio oder cursus; engl. rhythm; frz. rythme; nombre; ital. und span. ritmo)

A. I. Definition, Bereiche und Abgrenzung. – II. Musikwissenschaft. – III. Sprach- und Versrhythmus.

B. Historische Entwicklung. – I. Griechische Antike. – II. Römische Antike. – III. Spätantike und Mittelalter. – IV. Renaissance und Neuzeit.

Definition, Bereiche und Abgrenzung. In vorklassischer und vorsokratischer Terminologie bedeutet der Begriff Rh., der wohl nicht von rhéō (ich fließe) als <Bewegungsfluss>, sondern eher von erýō (ich ziehe [z.B. die Bogensehne an]) als <Spannungsgefüge [welches einer Bewegung Halt und Begrenzung verleiht]> abzuleiten ist, zunächst <Gestalt, Anordnung>. Zusammen mit dem Klang wirkt er über die sinnliche Seite der Sprache (Fuhrmann), ist, allgemein verstanden, <wohlgefällige Gliederung sinnlich wahrnehmbarer Vorgänge> (Saran), <Gliederung der Zeit in sinnlich fassbare Teile> (Heusler) oder <harmonische Gliederung einer lebendigen Bewegung in der Zeit> (v. Wilpert), mithin Grundlage natürlicher Lebensvorgänge und darum als mikro- wie makrokosmisches Ur-Phänomen sowohl auf rhythmische Grunderfahrungen des Menschen in seiner eigenen (Atmung und Herzschlag [unwillkürlich] oder Gehen und Springen [willkürlich]) und in der ihn umgebenden Natur (Welle, Pendel) als auch auf kosmische Gesetzmäßigkeiten (Gezeiten, Tag-Nacht, Sommer-Winter, Geburt-Tod) zu beziehen (Bio-rhythmik). Das sich aus Beobachtung wie Empfinden derartiger, in ähnlichem Ablauf wiederkehrender Zyklen heraus entwickelnde Zeitgefühl wird auf Sprache übertragen und konstituiert – analog zum Tanz – auch hier den Rh. als <nach Akzent, Tempo- und Tonstufen geordnete Sprachbewegung> (Kauffmann), als <Träger der zeitlichen Durchgliederung des Sprachstroms>. Etwa seit PLATON ist er als kunsttheoretischer Terminus technicus in die Musik integriert und bedeutet als táxis kinḗseōs (Ordnung der Bewegung) die unmittelbar aus der Sprache entnommene zeitliche Ordnung des Musikalischen; ARISTOXENOS, ein Schüler des Aristoteles, spricht abstrakter von der chrónōn táxis, der Ordnung von Zeiteinheiten.

Als zeitliches Struktur- und Gestaltungsprinzip, als <Urbedürfnis des ordnenden Menschen> (v. Wilpert) ist dem Rh. stets auch das Moment der Intentionalität zueigen, worin er zusammenfassende, begrenzende, verdeutlichende Aufgaben erhält. In Kult und Ritus, Tanz und Spiel, aber auch in alltäglicheren Bewegungsabläufen etwa im Arbeits- oder Marschlied, entfaltet er elementare gemeinschaftsstiftende Kraft, für Platon in der chorischen Kunst, der Orchestrik, mit ihrer Einheit von Wort, Musik und Körperbewegung durchaus erzieherische Wirkung, zumal allein die menschliche Natur über die aísthēsis táxeōs (Gespür für Ordnung) verfüge. VITRUV verankert (um 25 v. Chr.) den Rh.-Begriff ästhetisch als Maßverhältnis von Raum und Zeit in der Architektur, der spätantike, neuplatonisierende Musiktheoretiker ARISTEIDES QUINTILIANUS, Aristoxenos folgend, auch in den Bildenden Künsten überhaupt. Objekte oder Formen können sich dort zu rhythmischen Kompositionen anordnen.

 

Appendix 2 Synkope: (griech. syn-kopḗ; lat., engl., frz. syncope; ital. sìncope; span. síncopa).

A. Definition

B. Historische Aspekte. – I. Antike und Mittelalter. – II. Neuzeit.

Definition. Die S. (von griech. syg -kóptein; dt. ursprgl. zusammenschlagen) gehört allgemein zu den Möglichkeiten, ein als linear ausgedehnt verstandenes Phänomen (Haus, Strecke; Satzfolge, Satz, Wortform) durch Wegnahme eines oder mehrerer Bestandteile (Steine; Silben, Buchstaben) zu ändern. Dabei ist sie nach der Stelle dieser Wegnahme im linearen Ablauf des Phänomenganzen zu unterscheiden von der Aphärese (aph-[h]aíresis; lat. aphaeresis), der Wegnahme vom Anfang (raus statt heraus), sowie von der Apokope (apo-kopḗ; apocopé), der Wegnahme vom Schluss (z.B. Ausfall des Dativ –e): als Wegnahme aus der Mitte bezeichnet die S. in einem engeren, linguistisch-grammatischen Sinne die Subtraktion phonologischer Elemente im Inneren eines Wortes, die Ausstoßung eines unbetonten Vokals oder einer unbetonten Silbe aus artikulatorischen, grammatischen oder metrischen Gründen (gehn statt gehen, hörn statt hören; andre statt andere, ewger statt ewiger), auch wegen höheren Sprechtempos (<Allegro-Formen>: griechisch tí pote [was immer] ® homerisch típte; lateinisch viridis [grün] ® vulgärlateinisch virdis ® französisch verde). Im System der Rhetorik ordnet sich die S. innerhalb der vier Änderungskategorien, der quadripartita ratio Quintilians, der Modifizierung eines Wortes <per detractionem> zu. Wenngleich als absichtsvolle Änderung Gegenstand auch der dispositio, ist sie unter dem ersten Stilgebot der Latinitas (in verbis singulis) – nach Maßgabe des vierten: Aptum – eine Option der elocutio: dabei kann sie als aus metrischen Rücksichten und poetischer Lizenz geduldeter oder wegen des ornatus gar gesuchter metaplasmus wie als fehlerhafter (élleipsis: Mangel, Zuwenig – wieder: per detractionem) barbarismus auftreten. Quintilian nennt sie aber auch <figura in verbo>, womit sie zu den Mitteln des Ornatus zählt, des dritten Stilgebotes. Die Poetik, hier: die Metrik behandelt die S. als sprachliches Phänomen im Rahmen der Prosodie, versteht unter einer S. aber auch die Unterdrückung einer Senkung im Verssystem, z.B. bei Aischylos im iambischen Trimeter. In der Musiklehre führt die – an das Taktprinzip gekoppelte – S. (belegt seit 1631) zu einer rhythmischen Akzentverschiebung gegenüber der regulären Takt- oder Betonungsordnung, indem ein unbetonter Zeitwert (auch über die Taktgrenze hinweg) an den folgenden betonten gebunden wird, eine leichte Zeit die schwere gleichsam vorwegnimmt. Auf dem gemeinsamen Feld prosodischer Gestaltung in Dichtung wie Musik dient sie in geradezu expressionistischer Manier der Darstellung emotionaler Intensität mit den Mitteln von Rhythmus und Melodie. Als medizinischer Terminus bezeichnet die S. schon in der Antike Zusammenbruch und Entkräftung, insbes. einen Ohnmachtsanfall infolge mangelhafter Durchblutung des Gehirns bei Kreislaufkollaps.

Zu-A-Schmitt-Aristoteles-Poetik

Zu-A-Schmitt-Aristoteles-Poetik [gekürzte Fassung in: Forum Classicum 53 (2010), 49-51]

Aristoteles – Poetik: übersetzt und erläutert von Arbogast Schmitt. Akademie-Verlag Berlin 2008 [Aristoteles – Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 5], 789 S., EUR 98,00 (ISBN 978-3-05-004430-9).

Mit dieser von Neuem ins Deutsche übersetzten1 und umfassend kommentierten Ausgabe der Poetik-Vorlesung des Aristoteles stellt der Marburger (inzwischen) Emeritus Arbogast Schmitt (Sch.) auf eindrucksvolle Weise im Rahmen der von E. Grumach begründeten und H. Flashar herausgegeben Reihe dessen umfangreicherer Redekunst2 die zweite, wohl ältere (um 335 v. Chr.) und von Beginn an nicht selten mißverstandene literaturtheoretische Lehrschrift3 über Tragödie und Epos sowie (verloren) Jambos und Komödie zur Seite. Sch.s Opus grande baut sich in folgenden Teilen auf:

Textgeschichte (Th. Busch, XVII-XXVI) und Übersetzung (3-41). Einleitende Kapitel: Schwierigkeiten im Zugang (seit der Renaissance) und geistesgeschichtliche Bedingungen der ‚Wiederentdeckung‘ der Poetik (45-54), Abwendung von Aristoteles in den hellenistischen Schulen und ihre Folgen für das Literaturverständnis (55-71), der systematische Ort der Dichtung unter den psychischen Aktivitäten des Menschen bei A. (71-91), Theoria, Praxis, Poesis – die Zuordnung der Dichtung zur Theoria bei A. und in den arabischen Poetik-Kommentaren (92-117), Mimesis einer Handlung: konkrete Verwirklichung des allgemeinen Könnens eines Charakters – ‚Mythos‘: Mimesis einer vollständig ausgeführten Handlung als Inbegriff des Dichterischen (117-125) und (zusammenfassend) Ableitung der Dichtung aus einer anthropologischen Reflexion auf die  Vermögen des Menschen (126-128). Argumentationsgang und Inhalt der Poetik (128-135), ein Literaturverzeichnis mit modernen Editionen, Übersetzungen, Kommentaren und Bibliographien, mit antiken, mittelalterlichen wie Renaissancetexten, mit neuzeitlicher  Primär- und Sekundärliteratur (139-191) leiten über zum eigentlichen, knapp 550 Seiten starken Kommentar (195-742). Ein Anhang bietet Sach-, Stellen- und Personenindices (745-768), führt das Inhaltsverzeichnis nach Sachpunkten weiter aus (770 ff.)4 und gibt abschließend eine thematische, nach den Kapiteln der Poetik und darin jeweils <A. Gliederung und Zielsetzung> und <B. Einzelerklärung und Forschungsprobleme> in die Paragraphen gegliederte Übersicht des Kommentars (773-789).

Die Übersetzung ist erklärtermaßen texttreu, andererseits bereits eine hilfreich erklärende: durchgängig finden sich – auch für den vom griechischen Original herkommenden Leser – Verständnis vorbereitende und fördernde Zusätze (stets durch eckige Klammern markiert – Sch. p. XV), und gewisse Freiheiten mit der Vorlage erlauben Verständnisvarianten im Detail5.

Der Kommentar erschließt diese Vorlesung, indem zunächst der ‚rote Faden‘ durch das jeweilige Kapitel hin verfolgt wird (A.), die Einzelaussagen sodann (B.) im Rahmen der aristotelischen wie nacharistotelischen Literaturtheorie und Rezeptionsgeschichte gedeutet werden; stellvertretend hier zu Kernaussagen:

Am Beginn der frühen Neuzeit setzt mit der Wiederentdeckung des Aristoteles in der Renaissance eine poetologische Tradition ein, welche die Nachahmung (Mímēsis) der Natur als etwas per se Schönem und Wohlgeordnetem zur Regel erhebt – so formuliert etwa in Joh. Chr. Gottscheds Versuch einer kritischen Dichtkunst 1730 (I c. 3, § 20) – und damit der freien Entfaltung des künstlerischen Genies ein Ordnungswerk von außerhalb seiner selbst überstreift: Die Zurückweisung dieses „Nachahmungsgeistes“ ist ein schon in Kants Kritik der Urteilskraft 1790 (§ 47) erhobenes ‚genieästhetisches‘ Postulat der Moderne, indes: auf Aristoteles läßt sich für Sch. eine solche am Muster der Natur orientierte Regelpoetik, rein normativ oder rein deskriptiv, überhaupt nicht zurückführen (202 f., 552); den seit der Mitte des 18. Jh. gepflegten romantischen, aber schon bei Horaz (Ars 99-113) und Ps.-Longin (15, 1 f.) angelegten Gegensatz von ‚rational-methodisch‘ (und damit kunstfremd)  und ‚genial‘ (entfesselt und wahrhaft künstlerisch) vermeide Aristoteles, indem er Literatur zwar von beweisführender Wissenschaft abgrenze (1447 b 16-20), nicht aber dem rein Gefühlsmäßig-Intuitiven zuweise.  Dieser führt den Nachahmungsbegriff bereits im Eingangskapitel der Poetik ein, um vielmehr – wie Platon (Sch. 209) – anhand des Mediums, in welchem eine solche (lautliche) Nachahmung erfolgt (in der Literatur: Rhythmus, Sprachgestalt und Harmonie), anhand des behandelten Stoffes (für Poesie stets ‚Mythen‘) sowie anhand des Darstellungsmodus als konstitutiver Bedingungen einer jeden Nachahmung zwischen den literarischen Künsten, insbes. den dichterischen Gattungen zu unterscheiden (1447 a 13-23 als Programm der ersten 3 cap.). So bildet der Historiograph (mehr oder minder) aktuelle Einzelgeschehnisse in ihrem pragmatischen Ablauf nacherzählend ab (c. 9), während der Dichter als Nachahmung allgemeingesetzliche Handlungen darstellt, welche einer inneren Stimmigkeit von Wesenstypen oder Situationen verpflichtet sind und nicht an objektiver Realität hängen (Sch. p. X; 204 ff., 225, 241, 267) – und Poesie darum philosophischer nachahmt als Geschichtsschreibung (poet. 1451 b 4-6).

Dies unterscheidet sie auch vom Verdikt der Nachahmung von Nachgeahmtem (Idee – Realität in der Welt – Darstellung), mit welchem Platon die Künstler allgemein, die Dichter insbesondere im zehnten Buch der Politeia aus seinem idealen Gemeinwesen bannt (hier 598 d 7 – 601 b 8)6. Für Aristoteles werden die transzendenten Ideen immanent vollzogen, indem der je einzelne, materiale Typos die (von Ideenseite) in ihn gelegten formalen Möglichkeiten und Folgerichtigkeiten ausführt; die Idee wird zur Entelechie, sie trägt gewissermaßen ihre Verwirklichung in sich – diese ahmt der Künstler nach und nimmt so die Wahrheitsstufe des platonischen Handwerkers ein7. Dabei ist es nicht allein die dichterische Form, etwa die Versgestalt, welche Dichtung ausmacht, sondern ihr poetischer Gegenstand – weswegen Empedokles trotz Hexameter eben Naturphilosoph bleibt (poet. 1447 b 17-20; Sch. 196, 208, 218 f.) und Herodot auch durch Umsetzung in Versmaß kein Dichter wird (poet. 1451 b 1-3; Sch. 373, 387 f.).

Von grundsätzlicher Bedeutung für einen weiteren Schlüsselbegriff, die Kátharsis – ihr sind zwei umfangreiche Exkurse gewidmet (333-348 und 476-510) – ist in der Tragödiendefinition c. 6 (poet. 1449 b 27 f.) Sch.s Wiedergabe (mit Lessing, Hamburgische Dramaturgie 78 und gegen u.a. Gigon, Fuhrmann und Flashar8) der kátharsis tōn toioútōn pathemátōn =  eléou kai phóbou nicht im (medizinischen) Sinne eines Genitivus separativus als Reinigung von derartigen Gefühlen = Mitleid und Furcht, sondern im Sinne eines ebendiese Gefühle ihrerseits zum Rationalen (Lessing: zum Tugendhaften) hin reinigenden Genitivus obiectivus (Sch. 9; 333; 478)9. Die Erregung dieser Gemütszustände – éleos und phóbos – im Zuschauer auf die beste Weise ist Ziel der tragischen Handlung (c. 13) und diese wiederum Nachahmung, Mímēsis einer vollständigen, sich gemäß innerer Wahrscheinlichkeit, Zielsetzung oder Notwendigkeit eines bestimmten Charakters folgerichtig ergebenden und damit erst ihre Einheit wahrenden Handlung (c. 9, 1451 a 37 f. und b 8 f., 1452 a 2 f.)10 – in diesem Sinne versteht Aristoteles Mímēsis und nicht als Nachahmung der Natur mit zudem moralisch-lehrhaftem Impetus (Sch. 199, 410 f., 440 f.). Bloße Kopie einer geschehenen Wirklichkeit macht für Aristoteles – wie für Platon – noch keine Literatur aus; diese muß Wirklichkeit aus ihren Ermöglichungsgründen darstellen (Sch. 208, 741 f.), läßt das eigentümliche Potential eines Individuums sich in seinem Handeln verwirklichen11, und ihre vollendete Form findet dichterische Mímēsis in einem gut komponierten Mythos (Sch. 202, 222).

Der tragische Held, dessen Verfehlung (Hamartía) – mittelbar – aus Charakterschwäche, in Unfreiwilligkeit und Unwissenheit (durch Versagen der diánoia), nicht aber aus Boshaftigkeit ihn die Situation falsch einschätzen und scheitern läßt, ihn somit aus mangelnder Einsicht ins Unglück stürzt, steht in der Mitte (→ Mesótēslehre) zwischen dem epieikés (dem völlig Integren) und dem mochthērós (dem ganz und gar Verkommenen), und nur sein Fall ist geeignet, éleos und phóbos beim Zuschauer zu wecken (c. 13, 1453 a 7-12)12. Tragische Hamartía, im Zuge derer ein an sich guter Charakter veranlaßt wird, sein Handlungsziel zu verfehlen oder sich eines zu setzen, durch welches er das für ihn wirklich Gute übergeht (487), verdeutlicht Sch. mittels ihrer Abgrenzung gegenüber ebendiesen beiden Typen (444-456). Im angemessenen Mitempfinden – nicht der nur rührseligen Gefühligkeit noch in nicht berechtigtem Mitgefühl (493) – eines tragischen Handlungsverlaufs und unverdienten Leides eines Unsergleichen erfüllt die Tragödie ihre Aufgabe auch am Zuschauer, ohne daß dieser sich allerdings – entgegen neueren Auffassungen – mit Jenem identifizieren solle13, als Katharsis, als Reinigung der ihr zukommenden, von ihr selbst erzeugten und abschließend geformten Gefühle des ‚Mitleids und der Furcht‘ (478 f.) angesichts eines Scheiterns, das als mögliche Gefahr auch für den Zuschauer selbst aufgefaßt werden kann: dem entspricht bei Aristoteles ein reflektierter Begriff von Katharsis als „Kultur des Gefühls“, welcher von nachromantischem Verständnis im Sinne irrationaler, psychosomatischer Erregungen der Elementaraffekte ‚Jammer und Schaudern‘ frei ist (Sch. 486 ff.).

Am Beispiel eben der Gefühls- oder Affektenlehre (páthē) zur Darstellung nachempfind- und verstehbarer Handlungsmotivationen von – dem Zuschauer gleichen – Menschen im Drama zeigt Sch. auch (333), wie Schlüsselbegriffe dieser kleinen Schrift durchweg den Kontext des Gesamtwerkes (hier: der Ethiken, De anima) voraussetzen, ohne Einzelnes eigens nochmals zu erarbeiten. So ist etwa die Einheit von emotionaler und bewußter Intelligenz in der Rhetorik (1378 a 19 – 1388 b 30)14 ausgearbeitet durch eine Auffassung von Kognition, welche im rational urteilenden wie gefühlsmäßig wertenden Menschen nur je unterschiedlich wirksam wird: Aristoteles und die Trennung von Denken, Fühlen, Wollen seit dem 18. Jahrhundert (334 f.). Mitleid und Furcht werden – neben der Rhetorik – in der Nikomachischen Ethik15 besprochen, die dazu das platonische (Polit. 533 d 2) ‚Auge der Seele‘ verständiger Menschen mit aufnimmt (Sch. 483-486). Von daher muß die Poetik auch nicht zu allen Fragestellungen hin abgeschlossen sein, da sie ihrerseits eingebettet ist und als Teil des Lehrgebäudes andere bedingen oder ihrerseits zur Bedingung haben kann.

Tṓi páthei máthos – … und (allerdings nur !) Letzteres gilt auch für die Arbeit mit und an Sch.s monumentalem Kommentarwerk: Summe und Ertrag dieser überreichen Darstellung und Analyse der aristotelischen Dichtungstheorie, mit welcher diese Disziplin seinerzeit überhaupt erst einsetzte, konnten hier naturgemäß nur exemplarisch angedeutet werden; sie bleiben für alle weitere Auseinandersetzung mit literarischer Rhetorik und Poetik maßgebend.

Michael P. Schmude, Boppard

 

Anmerkungen:

1)      Bequem zugänglich (nach O. Gigon, RUB 1961) bisher die Übersetzungen M. Fuhrmanns bei Heimeran (eingeleitet, übers. und erläutert, München 1976 [Dialog mit der Antike, Bd. 7]; zur Datierung nach 335 v. Chr. und vor der Rhetorik ebda. 12-16) und Reclam (zweisprachig, mit Anmerkungen und Nachwort zu Form, Erhaltungszustand und Aufbau der Poetik, Stuttgart 1982/21994 [UB]); maßgeblicher Referenztext hier wie für Sch. die griechische Ausgabe von Rudolf Kassel (Oxford: Clarendon Press 1965, ND), Abweichungen davon bei Sch. S. XXVII f.

2)      Aristoteles – Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 4: Rhetorik, übers. und erl. von Christof Rapp, Berlin 2002, 2 Bde.; insbes. zum Wechselbezug zu seiner Philosophie Bd. 1, 378-384.

3)      Grundlegend nach wie vor M. Fuhrmann: Einführung in die antike Dichtungstheorie, Darmstadt (WBG) 1973; erster Teil : Aristoteles – Horaz – <Longin> 21992.

4)      Als Beispiel hier stellvertretend zur „Abwendung von Aristoteles …“ (55 ff.): 1. Die unterschiedliche Bedeutung der Vorstellungskraft für den dichterischen Schaffensprozess im Hellenismus und bei Aristoteles; 2. Der mediale Charakter der Vorstellung bei Aristoteles, die Formung der Vorstellung durch Wahrnehmung oder Denken; 3. Die Zentralstellung der Phantasia in den hellenistischen Philosophenschulen, die Folgen für das Kunst- und Literaturverständnis (mit weiteren Unterpunkten zu ‚Denken‘, Anschauung und Gefühl sowie Kunsterfahrung).

5)      Entsprechend wird z.B. in 1451 a 37 f. die eigentlich zu tá dynatá gehörende (so auch Fuhrmann) Adverbiale katá tó eikós ē tó anankaíon über kaí hinweg auf  génoito bezogen und dynatá als erläuternder Zusatz abgeteilt, Sch. 13 u. 372.

6)      Zu Platons Dichtungskritik und aristotelischer Poetik Fuhrmann 1973/21992, 72-90; 1976, 16-21; 1994, 155-161.

7)      Aristot. De ideis, fr. 3–5 Ross (1955, ND); Metaph. 980 b 28 – 983 a 32; 990 b 5 – 991 b 9; 997 a 5 – 1000 a 4.

8)      Gigon 1961, 30; Fuhrmann 1973/21992, 27, 65; 1976, 50; 1994, 19 spricht stets (wie auch Lesky: GGrL3 1971, 641) von „Jammer und Schaudern“: zur Herleitung dieses Begriffspaares aus Aristot. Rhet. 1385 b 13 ff./1382 a 21 ff., aber auch aus Platon und der Sophistik (Gorgias) und gegen Lessings dem Normenverständnis einer bürgerlichen Aufklärungszeit geschuldete Übersetzung Fuhrmann 1973/21992, 90-98, 291-301; 1976, 21-25; 1994, 162-166, ebda auch zur Katharsis.

9)      Beides verwirft Lesky 640 f. mit Aristot. Polit. 1341 a 21-24/1342 a 11-18.

10)  Fuhrmann 1973/21992, 26 f.; 1976, 29 f.; 1994, 170-73.

11)  Zu diesem von Platon ‚ererbten‘ Formprinzip Sch. 392-397.

12)  Vgl. Fuhrmann 1976, 67; 1994, 118. Zur ‚tragischen Schuld‘ auch E. Lefèvre, in: WüJbb N.F. 13 (1987), 37-58 und A. Schmitt in RhM N.F. 131 (1988), 8-30 zum sophokleischen Oidipus Tyrannos und V. Cessi: Erkennen und Handeln in der Theorie des Tragischen bei A. (Frankfurt 1987) zur Antigone sowie zur Medea des Euripides. Zum aristotelischen Gedanken der Hinfälligkeit gerade der besten Eigenschaften im Menschen M. C. Nussbaum: The fragility of goodness (Cambridge/London 1986).

13)  Ein Verzicht auf diese Distanz, wenn auch für Dichter wie Zuschauer wie Tragödienchor bis zu einem gewissen Grade unumgänglich (Poet. 1455 a 30-34), im Sinne eines Sich-Hineinversetzens, des „Mitschwingens einer zweiten Saite“(Lessing) würde eine Reinigung der eigenen Gefühle Mitleid und Furcht beim Zuschauer – die der dramatis personae sind andere – bestenfalls verzerren (Sch. 479 f.).

14)  Rapp 2002, Bd. 2, 584-678; A. Schmitt: Die Moderne und Platon (Stuttgart/Weimar 22008), 270-380.

15)  Eleos u.a. EN 1105 b 23, 1109 b 32, 1111 a 1; phóbos u.a. EN 1104 b 1-3, 1105 b 22, 1115 a 6 – 1117 b 22.