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Gesellschaftliche Relevanz der Geisteswissenschaften        in säkularen Zeiten

von     Michael P. Schmude, VPUniversity Vallendar

[Festakt zum Abschluss des Sommersemesters 25.07.2025]

Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Studierende, werte Angehörige und Gäste –

 

Anlass und Ausgangspunkt meiner folgenden Ausführungen, die in keiner Weise ein abgeschlossenes System darstellen, sondern einen fließenden Quell von Gedanken und Überlegungen eröffnen sollen, war eine Tagung im Rahmen der Theologischen Fakultät vor wenigen Wochen, als einmal mehr die unabdingbare und stets zu aktualisierende Frage nach Ausrichtung und Entwicklung philosophisch-theologischer Lehre gestellt wurde – Stichwort hier: Erweiterung des Spektrums der angebotenen Studieninhalte. Mit ihr verknüpft bleibt in einem weiteren Sinne diejenige nach gesellschaftlicher Relevanz, also Anbindung und Bedeutsamkeit der Geisteswissenschaften überhaupt, in deren Zentrum (neben den historischen und sprachlichen) unsere Fächer Theologie und Philosophie sich mit Fug und Recht verorten dürfen.

Platon, der griechische Philosoph zur Goldenen Zeit der Attischen Polis-Demokratie und (im 4. Jh. v. Chr.) Begründer der Akademie in Athen – und damit sind wir bereits mittendrin und bei einem der zentralen Köpfe geisteswissenschaftlicher Bemühungen

[er wird von vielen Philosophen als der geistige Urvater des Abendlandes betrachtet;   Folie 2   bekannt das Wort des britischen Ontologen und Mathematikers Alfred Whitehead aus seinem Hauptwerk Process and Reality (1929): Die sicherste allgemeine Charakterisierung der philosophischen Tradition Europas lautet, dass sie aus einer Reihe von Fußnoten zu Platon besteht] – ,

[besagter Platon also] machte die Frage nach dem Wesen des – insbesondere gerechten – Menschen zum tatsächlichen Anliegen seines Hautwerkes, der Politeía, welche der römische Staatsmann, Redner und Philosoph Marcus Tullius Cicero knapp dreihundert Jahre später passagenweise ins Lateinische übersetzte. Platon lässt seinen Lehrer Sokrates dafür allerdings den Blick sogleich vom Mikrokosmos Mensch auf den Makrokosmos menschliche Gesellschaft als dem größeren und anschaulicher zeigbaren Format überleiten; im Zusammenwirken ihrer unterschiedlichen Kräfte und Einzelelemente erweisen sich die Kardinaltugenden – Weisheit, Tüchtigkeit, besonnenes Maß und eben: die Gerechtigkeit als oberste und umfassende ethische Instanz. Diese Ausrichtung ist im Fortgang des Abendlandes, ‚des Westens‘, Europas zeitlos prägend geblieben, und im wertungsfreien Wettbewerb, in der gleichberechtigten (neudeutsch) Challenge der Kulturen ist jede einzelne wohlberaten, sich selbst, das jeweils Ihre bestimmen und beschreiben zu können, spätestens sobald sie in einen Austausch auf Augenhöhe mit ihren Nachbarinnen tritt – das ist die zentrale Aufgabe und (wieder neudeutsch) Kernkompetenz jeglichen geisteswissenschaftlichen Tuns.

Folie 3

I. Gesellschaft – wie können wir diese definieren?

Folie 4            Cicero, De re publica I 39-41: Est igitur res publica res populi, populus autem non omnis hominum coetus quoquo modo congregatus, sed coetus multitudinis iuris consensu et utilitatis communione sociatus. eius autem prima causa coëundi est non tam inbecillitas quam naturalis quaedam hominum quasi congregatio; non est enim singulare nec solivagum genus hoc, sed ita generatum, ut ne in omnium quidem rerum affluentia idque ipsa natura non invitaret solum sed etiam cogeret

Gesellschaft ist also nicht jeder irgendwie nach dem Zufallsprinzip zusammengewürfelte Haufen, sondern ein bewusster Zusammenschluss von Menschen, regelbasiert über ein von sämtlichen Mitgliedern angenommenes Rechtsverständnis und geeint im Nutzen, welcher sich für Alle aus diesem Gemeinwesen ergibt. Und der Grund dafür, ein solches zu bilden, liegt in einem natürlichen Bedürfnis des Menschen, welcher zum Einzelgänger nicht berufen, sondern – aristotelisch gesprochen – als Zóon politikón geboren ist.

Folie 5            hier nun fährt der Kirchenvater und Cicero Christianus Laktanz (Divinae institutiones VI 11, 18) fort: … causam fuisse coëundi […] humanitatem, itaque inter se congregatos, quod natura hominum solitudinis fugiens et communionis ac societatis adpetens esset.

Die Humanitas, sein Mensch-Sein, ist das bestimmende mo(vi)mentum, welches den Menschen geradezu zwingend antreibt, eine auf sich allein gestellte Existenz zu meiden und sich mit Seinesgleichen – unter den zuvor genannten Voraussetzungen eines moralischen Regelkanons sowie wechselseitigen Gedeihs – zu verbinden.

Und Gesellschaft kann niemals als abstrakter Begriff von denen, welche sie – gleichsam als Bauteile – ausmachen, getrennt betrachtet werden, den Menschen nämlich. So stellen Gesellschafts- oder Staatslehre und Anthropologie als Menschenbild, säkular wie kirchlich, zwei Seiten der gleichen Medaille dar. Auf diese beiden Seiten bzw. die Medaille als Ganzes zielen Geisteswissenschaften ab: der einzelne Mensch in seiner – von ihm gebildeten – Gesellschaft und diese sodann in ihrer – von einer höheren, göttlichen Wesenheit geschaffenen – Ordnung der (soweit) für sie und von ihr erfahrbaren Welt.

 

II. Das Menschenbild nimmt die Philosophie in einem ersten Schritt somit aus Platons Staatslehre, welcher (in seiner bereits genannten Politeía) einen vernunftgesteuerten Teil der individuellen Seele von einem triebgesteuerten Teil unterscheidet und einen – aus beiden heraus gespeist – gemüthaften dazwischensetzt. Die Theologie stellt im Herbst der Antike der irdischen Respublica Ciceros die von Gottes Plan gelenkte, mithin überlegene Civitas Dei des kanonischen Kirchenlehrers Augustinus von Hippo Regius (im heutigen Algerien) gegenüber. Und es ist diese gesellschaftstheoretische und zugleich anthropologische Debatte, welcher ein Studium der Geisteswissenschaften im Allgemeinen, der Theologie und Philosophie im Besonderen dient – gerade in säkularen, an Diesseitigem ausgerichteten Zeiten, in denen das Transzendente, die Welt hinter der oder über der sichtbaren Welt, allzu oft übersehen wird.

Der Zugang zu den unterschiedlichen Ansätzen von Mensch – Gesellschaft – Welt hinter ‚den Dingen‘, historisch wie systematisch, erfolgt über eine kritische Auseinandersetzung mit den und in den diese vermittelnden Erst-, vulgo Originalschriften – und das heißt auch: in deren Ausgangssprachen, welche zu keiner Zeit durch sekundäre Quellen wie Übertragung, Paraphrase oder gar nur Zusammenfassung ersetzt werden konnte(n). Gute Geisteswissenschaft hat diese zu leisten und stellt mit der Diskussion innerhalb – nicht (mehr oder weniger lose) darüber – den Bezug zur gegenwärtigen, uns Alle umgebenden Gesellschaft, zu ihren Gruppen und ihren Individuen her. Sensibilität für einen bewussten Umgang mit Sprache, Fähigkeit zur Analyse aussagekräftiger literarischer Werke, Verständnis für Verbindendes und Trennendes, für kulturbedingte Wertvorstellungen und Lebensziele wechselnder Zeiten werden anhand zentraler zivilisatorischer Texte und im Dialog zwischen theologischer und säkularer Tradition recht eigentlich erst zum Wirken und Leben gebracht.

Damit ist Geisteswissenschaft zugleich deren konstituierenden Elementen, den Menschen verpflichtet: Was kann ich wissen, was soll ich tun, was darf ich hoffen, was ist der Mensch? – die Kant´schen Grundfragen jeden ethischen Seins (aus seinen Vorlesungen zur Logik von 1800). Wer bin ich? oder Wie soll ich sein?, transzendiert um die theologische Frage Wo werde ich hin gehen? und aktualisiert oder verallgemeinert Welche Rolle möchte ich in meiner Gemeinschaft einnehmen und wie soll diese aussehen – wie geht es weiter, wenn ich nicht mehr bin?: eine Behandlung ebendieser existenziellen Fragen, die fraglos junge Menschen jedweder modernen Gesellschaft und quer durch alle Kulturen umtreiben, sollte ein Kernanliegen zeitgemäßer gesellschaftswissenschaftlicher Angebote abbilden und über rein säkulare, innerweltliche Antworten weit hinausgehen – in einem ethisch-theologisch-philosophischen, nicht zuletzt auch spirituellen Sinne. Auf unser Haus wiederum übertragen ist der Mensch als gemeinschaftsbildendes Wesen die Klammer und Brücke, welche die beiden Fakultäten der Vinzenz Pallotti University – Theologie und Humanwissenschaften – viceversa verbindet.

 

III. Geisteswissenschaften stellen den Menschen, das humanum in den Mittelpunkt ihrer Lehre, und nicht ohne Grund ist der – zunächst europäische, von jeher aber universal und stets interkulturell zu denkende – Humanismus der anbrechenden Neuzeit aus der Renaissance, der Wiedergeburt der griechisch-römischen Philosophie im Schoße der christlichen Theologie hervorgegangen. Die Wolfsnatur des Menschen, welche der englische Staatstheoretiker Thomas Hobbes im 17. Jh. so fürchtete, bedingt die Notwendigkeit eines Staatsvertrages mit gegenseitigen Regeln zum Umgang einer Jeden mit einem Jeden: Gerechtigkeit ist hier keine Naturanlage – sie zeigt sich beim Menschen erst in der Gesellschaft. Und damit ist die Geisteswissenschaft wiederum bei den anthropologischen Grundfragen Immanuel Kants (s.o.) angelangt: für eine heutige Gesellschaft – und ihre Studierenden – so zeitlos maßgebend und der Anfrage wert wie Dekalog und Bergpredigt.   Folie 6   Die beim Evangelisten Matthäus formulierte Goldene Regel hält im Kern bereits den Kategorischen Imperativ des Königsberger Philosophen bereit. In einer christlichen Ethik ist die Essenz, das wesenhafte Sein eines Menschen, in seiner Gottähnlichkeit angelegt und geht seiner weltlichen und damit gesellschaftlichen Existenz voraus. Der Existenzialismus (etwa seiner prominentesten Stimme Jean Paul Sartre 1946) sieht es genau umgekehrt: der Mensch existiert quā Geburt zuerst und ist danach das, wozu er sich macht – der Mensch zur Freiheit verurteilt (welche bekanntlich das Schwierigste überhaupt sein dürfte). Und dies einmal angenommen, wird die Frage nach der Eigenart des Menschen, nach der Beschaffenheit einer Gesellschaft, in welcher er sich aufgehoben fühlt, umso dringlicher. Ob in christlicher Nachfolge oder in selbstbestimmter Individualität – am ehesten wohl in einer angemessenen Verbindung beider Ansätze – die Geisteswissenschaften sind der intellektuelle Raum, innerhalb dessen solche Debatten theologisch wie säkular unter Lehrenden wie Lernenden stattfinden.

 

IV. Es sind dies aber auch außerhalb akademischer Welten sinnstiftende Fragen für Jedermann, nach welchen sich heutige Gesellschaft aufbaut, Fragen, über welche Jede/r für sich und Alle miteinander zu ihrem Gemeinwesen in Rückbezug – Relevanz oder Referenz – stehen. Menschwerdung und Gesellschaftswerdung gehen Hand in Hand; sich in ihrer historischen Entwicklung damit auseinanderzusetzen und den je eigenen Platz in ihrem System zu finden und weiter auszubauen – das ist ein Angebot der Geisteswissenschaften für Studierende aller Semester, jeden Alters und jeder Herkunft.

 

In summa      Folie 7                       diese

  1. zu einer aufmerksamen, zu einer achtsamen Beschäftigung mit ihrer Gesellschaft in deren geschichtlichem Werdegang wie systematischen Struktur anzuleiten,
  2. kulturelle Gemeinsamkeiten wie Unterschiede wahrzunehmen und wertzuschätzen
  3. und im Vergleich den eigenen Modus zur Mensch- wie zur Gesellschaftswerdung finden zu lassen,
  4. sie Schritt für Schritt auf ihrem Weg zu ihrem persönlichen Standort darin anzuregen

stellen seitens der Geisteswissenschaften Vorbereitung für und Beitrag zum Gelingen eines Gemeinwesens dar – und aus gesellschaftstheoretischen Ansätzen theologischer Provenienz ein Pendant zu einer rein säkularen Sicht auf den Menschen und in Aller Welt.

Wir sprechen über das humanum: gesellschaftlich wie menschlich relevanter können Geisteswissenschaften, zumal in diesen, nach Orientierung suchenden Zeiten, gar nicht sein – und darüber hinaus im fortwährenden Austausch untereinander zu Antworten finden, welche das Saeculum alleine nicht zu geben vermag.

 

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit

Abiturrede-2010

Abirede-20-03-10

Rhapsodia abiturientum – Gegangen, um zu bleiben …

 

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, eigentlich ist das ja ein Wortungetüm: von einer dritten Person Singular Passiv ab-itur „es wird weggegangen“ / „man geht weg“ wiederum ein Partizip zu bilden – das habt nicht einmal Ihr in all den Klassen- und Kursarbeiten hingelegt, und das dazu noch in der genderkorrekten Form, wie sie vom eigentlich zugehörigen abeuntes gar nicht, bestenfalls noch als Partizip Futur abituri abituraeque abgeleitet werden kann. Also abitur, im Sinne von: „von Euch wird abgegangen“ / „Ihr geht jetzt mal“, und sieht man sich von einer Jahrgangsstufe vor die Herausforderung der lehrerseitigen oder –lastigen Abiturrede gestellt, dann überlegt man sich spätestens bei deren Abfassung, was denn nun im Schuljahresgeläuft so prägende und charakteristische Merkmale derer gewesen sein könnten, mit denen man es seinerzeit zu tun hatte und über die bzw. vor denen man jetzt sprechen soll.

Und wenngleich ich über die Schuljahre hinweg doch mit recht Vielen Eurer Stufe im Unterricht wie außerhalb in dieser oder jener Weise zusammengewerkelt habe, so liegt es in der Natur der Sache, daß es eben nicht Alle waren – aber ich denke, daß meine Schilderungen und Eindrücke durchaus nicht fernab oder bar jeglicher Verallgemeinerungstauglichkeit sind.

Eure verbreitete filigrane Virtuosität im Umgang mit Kasusfunktionen, Satzbauteilen und Verbformen geriet mir schon seit frühen Jahren zum Stairway nicht eben to heaven, aber es reichte doch bis zur Klassenzimmerdecke, die Gewißheit eingeschlossen, daß ich nach Langem Marsch ebenda von ebendort auch wieder herunterkommen würde, um unverdrossen auf ein Neues … aber lassen wir das, tempi passati.

Mundus Novus eröffnete uns neue Sichten auf die ‚Dinge des Lebens‘, welche der antike Roman noch märchenhaft vage hatte ahnen lassen, Cäsar vermittelte eine Idee ihrer Durchsetzbarkeit, die Metamorphosen Ovids die Einsicht in ihre Wandelhaftigkeit; die Epen Homers gaben einen tiefen Einblick in die Fährnisse der condicio humana, der Aufstieg aus Platons Höhle hinauf zur Sonne, zur Freiheit wies auf den Unterschied zwischen Schein und Wesentlichem, Hellas und Rom boten sich in ihrer künstlerisch-architektonischen Wirkmacht – kurz: Freude an Sprache, Literatur und Geschichte, an Dichtung, Philosophie und Kunst jenseits eines bezahlbaren Nutzeffektes zu vermitteln, ist zu allen Zeiten eine Sisyphusarbeit spießiger Schulmeister gewesen – das beklagen bereits Erasmus von Rotterdam (1511) sowie Philipp Melanchthon in einer Wittenberger Universitätsrede „De miseriis paedagogorum“(1533)1, und ich hoffe sehr, daß ich darin bei Euch, sicher in unterschiedlichem Maße, aber doch nicht völlig erfolglos geblieben bin. In einem Kultfilm der 90er Jahre hat der Protagonist, Lehrer für englische Literatur an einer angelsächsischen Privatschule und in seinem didaktischen Reformeifer ebenso intolerant, ideologisch einseitig und begrenzt wie diejenigen, die er abschaffen zu sollen glaubte – nicht den Lateinpauker: der war einer der wenigen ihm freundschaftlich gesonnenen – einen allerdings sehr bedenkenswerten Satz gegenüber einem nutzenorientierten Technokraten zur Wirkung des Theaterspiels geäußert: Architektur, Jura und Medizin seien ja zweifellos ganz wichtig – aber welche Dinge bringen eigentlich Freude in unser Leben ? …

Da ich nun freilich – wie schon gesagt – auch nicht alle von Euch im eigenen Unterricht haben durfte, konnte, sollte, mußte, möchte ich hier nicht im Übermaß die Vergangenheit aufarbeiten, und als Künder von Wahrheiten ohne unmittelbaren Anwendungsnutzen werde ich mich ohnehin hüten, Euch Vorgaben für ein gelingendes Leben (so aus unserem Schulprogramm) zu erteilen – dafür seien aus ganz unterschiedlichen Zeiten an dieser Stelle maßgeblichere Zeugen benannt:

In einer berühmten Rede aus dem Umfeld des Florentiner Renaissance-Humanismus „De hominis dignitate – Über die Würde des Menschen“ (ursprünglich) von 1486 hat für den Philosophen Pico della Mirandola (einem kleinen Ort bei Modena in der heutigen Emilia-Romagna) der optimus opifex, der beste Bildner, den Menschen in den Mittelpunkt der Welt gestellt aufgrund seines freien Willens (arbitrium), sich den Platz, die Form, die Fertigkeiten zu geben, welche auch immer er sich wünscht, während die übrigen Lebewesen in gesetzte, vom Schöpfer vorgegebene Grenzen eingebettet seien2: „Keinen bestimmten Platz habe ich Dir zugewiesen, auch keine bestimmte äußere Erscheinung und auch nicht irgendeine besondere Gabe habe ich Dir verliehen, Adam3, damit Du den Platz, das Aussehen und alle die Gaben, die Du Dir selber wünschst, nach Deinem eigenen Willen und Entschluß erhalten und besitzen kannst. Die fest umrissene Natur der übrigen Geschöpfe entfaltet sich nur innerhalb der von mir vorgeschriebenen Gesetze. Du wirst von allen Einschränkungen frei nach Deinem eigenen freien Willen, dem ich Dich überlassen habe (pro tuo arbitrio, in cuius manu te posui), Dir selbst Deine Natur bestimmen. In die Mitte der Welt habe ich Dich gestellt, damit Du von da aus bequemer Alles ringsum betrachten kannst, was es auf der Welt gibt. Weder als einen Himmlischen noch als einen Irdischen habe ich Dich geschaffen und weder sterblich noch unsterblich Dich gemacht, damit Du wie ein Former und Bildner Deiner selbst nach eigenem Belieben und aus eigener Macht zu der Gestalt Dich ausbilden kannst, die Du bevorzugst. Du kannst nach unten hin ins Tierische entarten, Du kannst aus eigenem Willen wiedergeboren werden nach oben in das Göttliche4“.

Aber auch von der atheistischen Gegenseite her erhält der Mensch wie bei Pico, nur sehr viel später (um 1946), ein Höchstmaß an Würde in subjekthafter Eigenverantwortlichkeit durch den Existentialismus eines Jean-Paul Sartre, mit dem Selbstentwurf seiner individuellen, kommenden <Essenz>: „Der Mensch ist nichts Anderes als wozu er sich macht. Ein Wesen, das existiert, bevor es durch irgendeinen Begriff definiert werden kann […], anfangs überhaupt nichts. Er wird erst in der weiteren Folge sein, und er wird so sein, wie er sich […] will und wie er sich nach der Existenz konzipiert“. Die existentialistische Grammatik ist durchaus nicht welfaristisch geprägt, er ist vielmehr zur Freiheit in Verantwortung verurteilt: „Verurteilt, weil er sich nicht selbst erschaffen hat, anderweit aber dennoch frei, da er, einmal in die Welt geworfen, für Alles verantwortlich ist, was er tut.“ Er ist verlassen, findet „keine Entschuldigungen […], kann nie durch Bezugnahme auf eine gegebene und feststehende menschliche Natur Erklärungen geben; anders gesagt, es gibt keine Vorausbestimmung mehr, der Mensch ist frei, der Mensch ist Freiheit […], ohne irgendeine Stütze und ohne irgendeine Hilfe in jedem Augenblick verurteilt, den Menschen zu erfinden: <Der Mensch ist die Zukunft des Menschen> (Ponge).“5

Schon in Eurem bisherigen, gleichermaßen geregelten wie geschützten Raum Schule und Elternhaus werdet Ihr gespürt haben, daß „Freiheit“ sich ebenso gut anhört wie schwierig zu handhaben ist, und das jetzt für Euch kommende ‚freie Leben‘ wird dies als größte Herausforderung für Jede/n von uns und Euch jeden Tag auf ein Neues erweisen. Oder ist Freiheit nur ein anderes Wort für – „Nichts geblieben, was man verlieren könnte“ (Janis Joplin) ? „Wer im Leben gut auf Erden, wird nach dem Tod ein Engel werden“ – doch: „sie müssen sich an Sterne krallen, damit sie nicht vom Himmel fallen“ (Rammstein) … nun:  wie werden und müssen das hic et nunc nicht abschließend klären – können dafür aber dereinst vielleicht an der Stelle noch mal einsetzen, um uns über eine gründlichere Erörterung dieses komplexen Gedankenganges in das Thema noch mal einzufinden. Für heute wollen wir es uns etwas einfacher machen und beherzigen, was ein – allerdings nur einschlägig – bekannter ‚Kreativer‘ unserer Tage gemäß indirekter Überlieferung (SWR3) zu bedenken gegeben hat: „Baby, ik sak‘ nur eins – morge gibts ein ande Tak – the sun wird shin, geh‘ rraus und mak was aus dein Lebben“.

In diesem Sinne Euch Allen alles erdenklich Gute und stets eine glückliche Hand auf Eurem neuen Weg in freier Wildbahn … – abeatis.

 

Koblenz, 20. März 2010                                                    Michael P. Schmude

1Erasmus: Laus stultitiae 49/51; Melanchthon: De miseriis 1-3; 13.

2De hominis dignitate 4.

3Man denkt sogleich an die bekannte Geschichte von der Zuteilung der Eigenschaften und Fähigkeiten an Tiere und Menschen durch Epimetheus, den Nachher-Denker, und ihre Korrektur am Mängelwesen Mensch durch den Vorher-Denker Prometheus, wie sie der Sophist Protagoras und Platon im 4. Jh. v. Chr. erzählen.

4Der platonische Aufstieg im Kreislauf der Wiedergeburten ist hier unüberhörbar.

5Ist der Existentialismus ein Humanismus ?, in: J.-P.S.: Drei Essays (Zürich 1979), S. 9-12, 16 f.