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Platon-zwischen-Apologie-und-Politeia

Platon-zwischen-Apologie-und-Politeia

Platon zwischen Apologie und Politeía

eine Einführung in seine Schriften

 

Platon, als Sohn des Ariston und der Periktione (Cousine des Sokratesschülers und späteren Oligarchen Kritias) aus vornehmer Familie, *428/7 v. Chr. in Athen (oder Ägina), griechischer Philosoph, † 348/7 in Athen.

I. Platons Apologie des Sokrates

Sokrates, ca. 470-399 v. Chr., war von Beruf eigentlich Steinmetz, betätigte sich aber als praktischer Philosoph seiner Heimatstadt im Athen des perikleischen Zeitalters. Als solcher ist er zu einer Art Wendepunkt in der Geschichte der griechischen Philosophie geworden – als Vor-Sokratiker bezeichnen wir gemeinhin die Ionischen Natur,spekulanten‘ [speculari = durch Beobachtung erforschen] seit dem 6. v. Chr. (von Thales v. Milet und Pythagoras v. Samos bis zu den Sophisten) und dementsprechend als Nach-Sokratiker insbes. die hellenistischen Philosophenschulen seit Platons Akademie, Aristoteles‘ Peripatos und der Stoa des Zenon von Kition. – Eine ‚Apologie‘ [apolégein = freisprechen von] ist eine Verteidigungsrede (vor Gericht).

Wie verfährt man mit einem Querulanten, einem notorischen Unruhestifter, der alle ‚bürgerlichen‘ Gewissheiten in Frage stellt, von der staatlich organisierten Religion bis zur überkommenen political correctnes, in welcher man sich bisher so behaglich einrichten konnte? Der Tag für Tag, statt selbst seiner erlernten Erwerbsarbeit nachzugehen, auf dem Marktplatz Athens herumläuft und die beruflich etablierten Bürger auf ihre ‚tiefere Einsichten‘ hin befragt? Und ebendiese ganz schlecht aussehen lässt, ja, bis auf die Knochen blamiert, weil sie damit nicht aufwarten können? Und der insbesondere die jungen Leute dazu anstachelt, mit ihren des Abends müde von der Arbeit nach Hause kommenden Eltern genauso zu verfahren? Wie mag ein solches Gespräch zwischen Jung-Perikles und Alt-Perikles wohl vonstatten und ausgegangen sein? Wird nicht blanke Begeisterung aufkommen für einen solchen Zeitgenossen?

Der historische Sokrates ist oft mit Jesus von Nazareth verglichen worden – Beide betrieben die Veränderung ihrer Gesellschaft, wandten sich gegen bestehende Ordnungen und Gesetze, Beide scharten eine Jüngerschaft um sich, die sie mitten aus ihren Familien herausgezogen hatten, Beide haben nichts Schriftliches selbst hinterlassen, so dass wir für Beide auf Zeugnisse ihrer Umgebung angewiesen sind, um zu den historischen Gestalten hinter ihren eigenen Legenden zu gelangen …

Mit dem Athener Platon haben wir die zentrale Figur der Geschichte der griechischen Philosophie vor uns; über seinen Werdegang privat, als Philosoph und als Politiker sind wir, nicht zuletzt aus Selbstzeugnissen (7. Brief), recht gut informiert. Seinem Lehrer Sokrates aber stehen wir genau so gegenüber wie Jesus Christus – einigermaßen ratlos, denn über die reale Person wissen wir wenig, jedenfalls aus gesicherten Quellen: bei Beiden ist es so, dass alle Nachrichten über das, was sie getan oder gesagt haben, von ihren Schülern / Jüngern aufgeschrieben oder ihnen in den Mund gelegt worden und in dieser Form dann erst auf uns gekommen sind. Und Schüler*innen aller Zeiten verfolgen ihre eigenen Absichten. Von daher sind die literarischen Denkmäler, die seine Schüler Platon und Xenophon von Athen (426 – nach 355) dem Meister in ihren Schriften (Platon in seinen Dialogen, Xenophon in seinen MemorabilienApomnēmoneúmataErinnerungen an Sokrates) gesetzt und ihn hierbei aus unterschiedlichen Blickwinkeln heraus stilisiert und idealisiert haben, historisch eher wenig verlässlich. Die Sokrates-Komödie Wolken (423) seines etwas jüngeren Zeitgenossen Aristophanes zeichnet das damals umlaufende Klischeebild eines Intellektuellen, dürfte aber realistischer und an diesem Kauz samt seiner Umgebung schon etwas ‚näher dran‘ sein.

a. Lebensumstände

Gesichert wissen wir, dass Sokrates aus einer Handwerkerfamilie stammte; er war verheiratet mit (der möglicherweise vornehmen) Xanthippe, deren Beschreibung unter seinen Nachfolgern von besorgt (Aischines) bis schwer erträglich (Antisthenes, Kyniker) reicht. Mit ihr hatte er drei Söhne, von denen in der Apologie (34 d) und anfangs des Dialoges Kriton (45 d) die Rede ist; den Jüngsten auf dem Arm lässt Platon Xanthippe im Vorfeld des Phaidon (60 a) auftreten (noch einmal 116 b). Im Peloponnesischen Krieg (431-404) kämpfte Sokrates dreimal als Hoplit (Schwerbewaffneter), mit erwiesener Tapferkeit (Laches 181 b, Symposion 221 a), u.a. bei der erfolgslosen Verteidigung von Amphipolis, welche den Historiker Thukydides sein Strategen-/Nauarchenamt kostete und die zeitweilige Verbannung eintrug. 406 hatte er als vorsitzender Prytane (Ratsherr) im Stadtrat (boulé) von Athen zeitweise Regierungsverantwortung inne. Das Jahr 399 zeigt ihn als Angeklagten im Prozess, da er nicht an die Götter der Stadt glaube, sondern neue Gottheiten (daimónia) einführe, und da er die Jugend verderbe.

b. Sokrates vor Gericht und in der Apologie

Eine professionelle Verteidigungsrede, in Auftrag gegeben wohl von seinen Schülern, stand Sokrates für die Gerichtsverhandlung durchaus zur Verfügung, kunstvoll gesetzt von dem Logographen (Redenschreiber) Lysias. Geblieben sind uns diejenigen Platons und Xenophons; gehalten hat der historische Sokrates keine davon. Gleichwohl sucht die platonische, die wohl zwischen 395 und 390 v. Chr. entstanden und unter den frühen Schriften des Philosophen überliefert ist, ein anschauliches Bild von seiner Tätigkeit auf dem Marktplatz von Athen, der Agora, zu zeichnen: im vorgegebenen Rahmen der attischen Gerichtsrede lässt Platon in literarischer Form seinen Lehrer Rückschau halten, im Besonderen auf seine Rolle als unbequemer Fragensteller, der seine Mitbürger aus ihrem selbstgefälligen Scheinwissen wachrüttelt. Von dieser Inszenierung als Mahner und Ermunterer zu einer philosophischen Lebensweise dürfte auch der historische Sokrates nicht allzu weit entfernt sein.

Insgesamt ‚ist‘ die Apologie des Sokrates, wie Platon sie ihn vortragen lässt, eigentlich drei Reden, der Gerichtspraxis vor Ort entsprechend: die erste (17 a – 35 d) handelt vom Wirken des Meisters in der Stadt, den davon herrührenden Vorwürfen und Angriffen auf ihn bis hin zur offiziellen Klageschrift und mündet in die Frage, ob hier strafwürdiges Verhalten vorliege. Nachdem dieses festgestellt worden ist, erwidert (35 e – 38 b) und begründet Sokrates schließlich den ihm als verurteiltem Angeklagten zustehenden Antrag zum Strafmaß. Die dritte Rede (38 c – 42 a) würdigt das nunmehr ergangene Todesurteil und seine Richter.

Die erste, eigentliche Verteidigungsrede wendet sich zunächst aus der Gegenwart vor Gericht wider bereits seit Längerem umlaufende Anklagen: diese entsprängen dem schwerer fassbaren Volksmund und seien gefährlicher als die offizielle Anklageschrift, welche man derzeit gegen ihn eingebracht habe: da gebe es einen ‚weisen‘ Sokrates, welcher den Dingen am Himmel und denen unter der Erde nachstöbere (so bildhaft auch Aristophanes in den Wolken) und der das schwächere Wort stärker mache. Daraus sei, zumal bei einem leichtgläubigen jugendlichen Publikum, seit alters her schnell der Verdacht entstanden, dass der auch nicht an Götter glaube. Tatsächlich stehe sein Wirken im Dienst des Gottes von Delphi: auf dessen Orakel hin, Sokrates sei der Weiseste (21 a), habe er es unternommen, seine Mitbürger in Berufsgruppen (Staatsmänner, Dichter, Handwerker) geordnet nach wahrer Erkenntnis und Weisheit zu befragen. Und dabei habe er zum großen Ärger der Betroffenen Nichts gefunden, was über ein Fachwissen im engeren Sinne hinausgehe, dafür aber jede Menge Einbildung und – begeisterte Nachahmer: die Söhne der Reichsten der Stadt, die hierfür auch über die nötige Mußezeit verfügten. Er selbst indes sei um genau diese eine Einsicht weiser als Andere, „dass ich, was ich nicht weiß, auch nicht zu wissen glaube“ (21 d 5-7). Und der Zorn der ihrer Scheinbildung Überführten falle auf ihn zurück, dass er die Jugend anstifte und verderbe, und entlade sich nunmehr in der aktuellen Anklage des Meletos als Vertreter der Dichter, Anytos wegen der Handwerker und Politiker und Lykon wegen der Redner (24 a).

Eine kurze Entgegnung auf deren Lautsprecher Méletos, Sokrates führe neue Gottheiten ein und verführe die Jugend, leitet zum Kerngedanken seiner gesamten Verteidigung: verpflichtet allein ‚dem Gott‘ und seinem Auftrag und angetrieben von seinem daimónion, der inneren Stimme, dient sein gesamtes Dasein der Ergründung von Einsicht und Wahrheit für Stadt und Mitbürger. Nach dieser zentralen Partie (29 d/e) spiegelt das Folgende den Aufbau der ersten Hälfte: zunächst beispielhaft gesetzestreues Verhalten des Sokrates während der vergangenen Zeit der Demokratie (Arginusen-Prozess) sowie unter den ‚Dreißig Tyrannen‘ (Leon aus Salamis). Und in der Gegenwart wiederum, angesichts von Unverständnis und zu erwartender Verurteilung, lehnt er ausdrücklich jede Art von Jammern und Flehen ab und zeigt ein letztes Mal Achtung vor dem Geist der Gesetze.

Und so kommt es. Seine Antwort auf den Schuldspruch ist ein eigener Antrag zum Strafmaß: Speisung im Prytaneíon (dem Amts- oder Stadthaus), sozusagen eine lebenslange Rente, wie sie denen zukommt, die sich um das Gemeinwesen wahrhaft verdient gemacht haben (36 d 4 – 37 a 1). Gäbe er diese lebenslang geübte Weise der Selbsterforschung und Ermahnung seiner Mitbürger zur Tugend auf, bedeute dies Ungehorsam gegenüber dem Gott. Die letzte Rede, mit welcher Sokrates das Todesurteil annimmt, den Prozess, seine Rolle darin und die seiner Richter – der verurteilenden wie der freisprechenden – bewertet und das daimónion zum Zeugen für die Richtigkeit seines Verhaltens macht (40 a/b), mündet in seine Vorstellung vom und in seine Einstellung zum Tod: entweder ein langer, traumloser Schlaf oder der Übergang auf eine viel höhere, glückselige Stufe seiner bisher gewohnten Lebensform – das philosophische Gespräch mit den wahrhaft großen Menschen über die Themen seines Lebens …

c. Nachwirken

Gerade in der bewussten Hinnahme seines ungerechten Urteils und Todes wird neben der biographischen Parallele der menschliche Kontrast zum Begründer der christlichen Religion deutlich: der Demut und dem stellvertretenden Leid des späteren Erlösers steht in Sokrates die stolze Selbstbehauptung einer in ihrer Überlegenheit unabhängigen, allein ‚dem Gott‘ verpflichteten Existenz gegenüber, die Platon zur Verwirklichung des Menschseins an sich erhebt.

Völlig anders gelagert ist die gleichnamige (wohl zwischen 370 und 360 verfasste) Schrift des Xenophon: eine Schilderung der letzten Tage des Meisters, darin eingebettet der Prozess und das unverständliche Auftreten des Angeklagten, welches diese Apologie zu erklären sucht. Dies war einmal mehr notwendig, nachdem der Sophist Polýkrates Ende der 390er Jahre in seiner (verlorenen) Kategoría Sokrátous diesen erneut heftig im Sinne der offiziellen Klageschrift angegriffen hatte. Jedenfalls erwidert auf die Anklage des Polykrates (auch zeitlich) unmittelbar eine (gleichfalls verlorene) Apología des attischen Rhetors Lysias (ca. 445-380 v. Chr.), bei welchem als berufsmäßigem Redenschreiber für das tatsächliche Verfahren zuvor schon eine Verteidigung bestellt worden sein soll. Sokrates habe sie, wie Cicero (De or. I 231-33; Quint. Inst. II 15, 30 und XI 1, 11) berichtet, als ‚wohlgesetzt, aber zu rhetorisch‘ beiseitegelegt (möglicherweise sind diese beiden Apologien identisch). Über das Verhältnis der xenophonteischen Schrift zu derjenigen des Polykrates kann ebenso Wenig gesagt werden wie zu derjenigen des Lysias. Indes setzt von hier an zwischen Sokratikern (Demetrios von Phaleron, Plutarch von Chaironeia) und Anti-Sokratikern (Aristóxenos von Athen) eine regelrechte ‚Apologien-Schriftstellerei‘ als eigenes Genre ein, und noch im 4. Jh. n. Chr. gaben die Angriffe des Polykrates dem Redner Libanios aus Antiochia Anlass zu einer declamatio (übungstechnischen Schulrede) für Sokrates.

Im Mittelalter waren die originalen Quellen zu Sokrates weitgehend verloren gegangen. Er überdauert in bebilderten Handschriften sowie in gelehrten Lexika – als Heide zwar ohne Zugang zum wahren Heil, als Ethiker aber anerkannt und wertgeschätzt, im 14. Jh. besonders von dem führenden Früh-Humanisten und italienischen Nationaldichter Francesco Petrarca aus Arezzo. Mit der Wiederentdeckung der antiken Autoren in der Renaissance treffen wir im Falle des Sokrates auch wieder auf den antiken Kopf: in der Schule von Athen (1511), einem Fresko Raffaels, des italienischen Malers der Renaissancezeit aus Urbino (zu sehen in den Stanzen, ehemals päpstlichen Privatzimmern, der Vatikanischen Museen in Rom) – auch dort ist er in seiner Paraderolle als hartnäckig Fragender (im Gespräch mit dem jungen Xenophon) der umtriebige Bohrer, die zeitlose ‚Laus im Pelz‘ gegenüber den Zeitgenossen auf dem Markt.

Noch in unseren Tagen kommt keine Philosophiegeschichte ohne Sokrates aus, die Forscher, die vor ihm (vom 7. Jh. v. Chr. an) als Naturbetrachter ‚unterwegs‘ gewesen sind, werden unter dem Sammelbegriff der ‚Vor-Sokratiker‘ zusammengefasst; er gilt als Wendepunkt zur Ethik. Zugleich begegnen wir Sokrates aber auch als gern bemühter Kunstfigur, so in der populären Reihe von Klaus Bartels, Sokrates im Supermarkt – (Neue) Streiflichter aus der Antike (seit 1986). Und darum ein letzter ‚Spruch‘, denn auch das ‚ist‘ Sokrates, wenngleich – wie stets – ‚nur‘ nach Ausweis seiner Stimme Platon (sinngemäß Politeia 563 a 4 – b 2): „Unsere Jugend liebt den Luxus, sie hat schlechte Manieren, missachtet Autorität und hat keinen Respekt vor dem Alter. Die heutigen Kinder sind Tyrannen, sie stehen nicht auf, wenn ein älterer Mensch das Zimmer betritt, sie widersprechen ihren Eltern, schwätzen beim Essen und tyrannisieren ihre Lehrer …“

II. Platons Politeía

Wenn wir heute von ‚Politik‘ und ‚Politikern‘, von ‚Staatskunde‘ und ‚Staatsmännern‘ (und –frauen) sprechen, so verwenden wir den gleichen Wortstamm wie der Athener Philosoph Platon im Titel seines Hauptwerkes, welches er in den 70er Jahren des 4. Jh. v. Chr. verfasste: Politeía heißt ‚Staatswesen‘, und dieses bildet auch den Gesamtrahmen seiner Schrift. Das eigentliche Thema aber ist – die Gerechtigkeit (und mit diesem Untertitel ist sie auch in Handschriften überliefert).

Was ist Gerechtigkeit? Über welche Eigenschaften muss ein Mensch verfügen, damit wir ihn ‚gerecht‘ nennen können? Gibt es überhaupt eine absolute Gerechtigkeit, und ist eine solche im praktischen Leben verwirklichbar? Oder ist gerecht vor Allem, was mir nutzt (also relativ)? Und wie wirkt sich das dann auf meine Umgebung, mein soziales Umfeld aus? Auf welcher Grundlage entsteht eigentlich menschliche Gemeinschaft, ein Staatswesen also, und welche Eigenschaften machen den Zusammenhalt erst möglich? Wann ist ein Staat ein gerechter Staat? Ist ein – zumal für Alle – gerechter Staat in dieser Welt überhaupt ‚zu machen‘, oder bleibt das blanke Utopie?

Die Politeía geht sozusagen den umgekehrten Weg: Ziel bleibt die Gerechtigkeit im Menschen, aber Platon wählt zunächst das größere Format, die Gemeinschaft von Menschen, um daran zu untersuchen und aufzuzeigen, was Gerechtigkeit an sich ist. Danach kann er diese auf den kleineren Maßstab rückübertragen und am Einzelmenschen nachweisen.

a. Einordnung und Biographisches

Mit Platon, der in jungen Jahren einmal Tragödien schrieb, haben wir – untrennbar verbunden mit seinem Lehrer Sokrates – die zentrale Gestalt der griechischen Philosophiegeschichte vor uns, und hierin den Begründer der philosophischen Disziplin ‚Ethik – vom sittlichen Verhalten des Menschen‘. Der deutsche ‚Groß-Philosoph‘ Immanuel Kant (1724-1804) ist ohne Platon nicht denkbar, nach dem bekannten englischen Mathematiker und Philosophen Alfred North Whitehead (1861-1947) besteht die gesamte europäische Philosophie letztlich aus einer „series of footnotes to Plato“, und an der für uns historisch schwer fassbaren Figur des Sokrates wird gar die erste Epocheneinteilung der Philosophiegeschichte festgemacht (s.o.). In der Lehre selbst ist eine klare Grenzziehung zwischen Platon und Sokrates, der in den Schriften seines Schülers als Gesprächsführer überall auftaucht, seinerseits aber nichts Schriftliches hinterlassen hat, kaum zu ziehen.

Platon gründete 388/7 die ‚Akademie‘, eine Vorläuferin unserer Universitäten. Nach ihr nannten sich seine Schüler ‚Akademiker‘; geschlossen wurde diese Schule erst vom römischen Kaiser Justinian im Jahre 529 n. Chr., dem Ende der Antike. Eine Umsetzung seines staatstheoretischen Entwurfs in praktische Politik versuchte der Philosoph in Syrakus auf Sizilien: den dortigen Tyrannen Dionysios I. hatte er bereits im Rahmen einer Bildungsreise (390-388) kennengelernt und dessen Schwager und Ratgeber Dion für sein Konzept einer Philosophenherrschaft zu begeistern vermocht. Aber wie zuvor den Vater konnte er auch den Sohn und Nachfolger Dionysios II. bei Aufenthalten 367/6 sowie 361/0 letztlich unter politischem Gegendruck nicht in seinem Sinne beeinflussen.

Während die vor-sokratischen Philosophen ihr Augenmerk vor Allem auf Gegebenheiten und Gesetze der Natur (Physik) gerichtet hatten, holten laut Zeugnis Ciceros (Tusculanen V 10 f.) Sokrates und Platon das Denken von den Erscheinungen des Himmels herab in die Hütten der Menschen und stellten die Frage nach einem gerechten Leben in der Gemeinschaft (Ethik). Die Politeía gehört innerhalb des Corpus Platonicum der mittleren Schaffensperiode (387-367 v. Chr.) an, eine genauere (absolute) Datierung ist nicht möglich. Platons frühe Dialoge (etwa 399-390) waren (sokratische) Gespräche über ethische Einzelfragen bzw. –tugenden: Was ist Besonnenheit? (Charmides), Was ist Tapferkeit? (Laches), Was ist Frömmigkeit? (Eutyphron); sie blieben in der Regel ergebnisoffen, jedenfalls ohne Festlegung im Sinne einer Definition. Das Spätwerk (nach 365) behandelt das Verhältnis von Einheit und Vielheit zueinander in dialektischem (gedanklichem Für und Wider) wie ontologischem (seins-mäßigen) Sinne (Parmenides) und führt zur Frage nach einer umfassenden Gliederung der Welt als Ganzheit (Timaios). Grundlage in Platons Schriften ist, dass hinter jedem Element der uns umgebenden, wahrnehmbaren Welt eine (nur) denkbare Idealform, ein Begriff davon, steht. Und während die innerweltlichen (immanenten) Elemente wandelbar und vergänglich seien, hätten allein die Begriffe, welche das menschlich-sinnliche Wahrnehmungsvermögen übersteigen (transzendieren), wirkliche und eigentliche Existenz an und für sich: die platonische Ideenlehre (Phaidon).

b. Aufbau und Rahmenhandlung des Dialogs

Die Schrift Politeía (oder Über das Gerechte) besteht aus zehn Büchern. Das einleitende erste entwickelt zunächst die Rahmenhandlung: Sokrates (hier und im Folgenden der Ich-Sprecher) wandert mit Glaukon, einem Bruder Platons, am Festtag der thrakischen Göttin Bendis hinunter zum Hafen; als sie nach dem Umzug wieder zur Stadt zurück gehen wollen, werden sie von Polemarchos, dem Sohn des reichen Kaufmannes Kephalos, ‚abgefangen‘ und mit anderen Festgästen in dessen Haus im Piräus geleitet, wo sie einen weiteren Personenkreis antreffen. Das in dieser Runde einsetzende Gespräch behandelt zunächst drei Ansichten über die Gerechtigkeit und ihren Nutzen. Ein erster Hauptteil (Bücher 2-4) bestimmt die Gerechtigkeit am Modell einer Stadt – der Wächterstaat (und die Pädagogik für die Wächter). Der zweite Hauptteil (Bücher 5-7) nennt die Bedingungen für die Verwirklichung des gerechten Staates – der Philosophenstaat (und die Pädagogik für die Philosophen). Im Zuge einer Ringkomposition charakterisiert der dritte Hauptteil (Bücher 8-9) die Ungerechtigkeit. Der Schluss (Buch 10) stellt im Besonderen den Lohn der Gerechtigkeit (im Leben wie nach dem Tod) in Aussicht. Hauptredner sind neben Sokrates die Brüder Platons, Glaukon und Adeimantos.

c. Inhaltsübersicht

Seine Vision von einem Staat gründet Platon auf einen Begriff von Gerechtigkeit, welcher den Nutzen für Alle zugleich mit einschließt. Sokrates hatte gemäß Cicero (De legibus I 33) die Trennung von Recht und Nutzen als Wurzel allen Übels in der Gemeinde beklagt. Platon lehnte eine Gründung des Staates einseitig auf dem Nutzen (zumal Einzelner) stets ab, weil dann die Gerechtigkeit verletzt wäre. Cicero hingegen, der Platons Politeía über dreihundert Jahre später als Folie für seine Vorstellung vom römischen Staat nimmt, wird (De re publica I 39) gemeinsames Rechtsempfinden und Nutzengemeinschaft zu zwei durchaus eigenständigen Grundpfeilern des Gemeinwesens erklären.

Am Beginn der Politeía steht indes ein Dialog, welcher vom Recht des Stärkeren handelt und den man aufgrund seiner inneren Geschlossenheit für ursprünglich unabhängig von der Staatsschrift gehalten hat. Der Sophist (selbsternannter Weisheitslehrer) Thrasymachos vertritt (Buch 1) innerhalb einer Gesprächsrunde im Hause des reichen Kephalos im Piräus, dem Hafen von Athen, gegenüber Sokrates die Auffassung, dass Gesetze vor Allem dafür da seien, die starke und eigenständig ihren Vorteil betreibende Persönlichkeit durch Vorschriften einzuhegen und zu bändigen. Dementsprechend stellt er die Ungerechtigkeit auf die Seite der Tugend und Weisheit (348 e 1-4). Übergeordnete Zielsetzung wird daher im Folgenden sein, die überlegene Rolle der Gerechtigkeit bei der Suche des Menschen nach Glück und damit ihren höheren Nutzen gegenüber der Ungerechtigkeit zu bestimmen (427 d 4-6; 445 a 1 – b 4). Grundlage hierfür sind die Kardinaltugenden Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit – im Staat wie in jedem Einzelnen: und wenn in der Gemeinschaft Jeder auf der Grundlage der genannten Tugenden ‚das Seine‘, das ihm von seinem Naturell her Zukommende tut, dann ist als vierte die Gerechtigkeit gegeben (433 a 4 – c 2).

Sokrates entwickelt nun im Dialog mit Glaukon und Adeimantos zunächst (Buch 2) einen – pyramidenförmig aufgebauten – Ständestaat in drei Schichten, die sich jeweils den genannten Tugenden zuordnen lassen: die unterste und ausgedehnteste Schicht ist die der Bauern und Handwerker, welche die gesamte Spannbreite der materiellen Lebensbedürfnisse einer Stadt (pólis) bedienen. Die Wächter besorgen die Ordnung nach innen wie die Sicherheit nach außen, und die ‚vollkommenen‘ Wächter an der Spitze, die Herrscher, lenken die Geschicke Aller und des Ganzen. Deren Kerntugend ist darum die Weisheit, bei den Wächtern rückt die Tapferkeit in den Vordergrund, und zur allgemeinen Bedürfnisbefriedigung sind Besonnenheit und Maß gefordert (Buch 4). Die Gerechtigkeit – als übergeordnete Gemeinschaftstugend – besteht darin, dass jeder Stand die ihm zukommende Tugend verinnerlicht, die Ordnung als ganze auch für sich selbst annimmt und dadurch das harmonische Zusammenspiel erst möglich macht. Dies zu erreichen, ist Sache einer angemessenen Pädagogik, je leitender die Betroffenen, desto notwendiger: besonderes Gewicht liegt (Buch 2 und 3) auf der musischen wie gymnastischen Erziehung und Bildung der Wächter als künftigem Sicherheits- wie Führungspersonal, zumal aus den Reihen der begabtesten Wächter schließlich die Herrschenden im Staate hervorgehen sollen (Buch 3). Die Frage nach der ‚sozialen Gerechtigkeit‘ und der Teilhabe Aller am Leitmotiv ‚Glückseligkeit‘ beantwortet sich für Platon insofern von selbst, als bei idealer, also gerechter Verfassung seines Staatsmodells ein Jeder vom untersten bis zum obersten Stand das höchste ihm erreichbare Maß an Glück verwirklicht. In Buch 4 überträgt Platon, der Ähnlichkeit von Staat und Mensch folgend (435 b 1 f), die Stände im neugegründeten Staat wiederum auf den Einzelmenschen – ihnen entsprechen die drei Teile seiner Seele: der vernunftbegabte (logistikón oder philósophon) Teil den Herrschenden, der muthafte (thymoeidés) den Wächtern und der triebhafte (epithymētikón) den Arbeitern.

Zwei Besonderheiten in den Lebensverhältnissen des Wächterstandes werden (Buch 5) nachgeschoben: die Aufhebung von persönlichem Eigentum bis hin zu Frauen- und Kindergemeinschaft sowie die grundsätzliche Gleichheit von Mann und Frau. Der Rückübergang wiederum von der Seelenlehre zur Verfassungslehre führt zum Philosophen-Könige-Satz: ein solcher Staat ist nur möglich, wenn die Philosophen Könige oder die Könige zu Philosophen werden (473 c 11 – e 2). Den zuvor nicht thematisierten Bildungsgang des kommenden Philosophenherrschers zeichnet, vorbereitet durch Sonnen– (506 b 2 ff.) und Liniengleichnis (509 d 1 ff.), zu Beginn von Buch 7 das berühmte Höhlengleichnis (514 a 1 ff.): als Aufstieg vom Blick auf die sichtbaren (visiblen) Abbilder der Ideen in der diesseitigen Welt (Immanenz) bis hin zur Erkenntnis der hinter diesen stehenden Begriffe in der nur denkbaren (intelligiblen) Ideenwelt (Transzendenz), gipfelnd in der Schau und damit Teilhabe an der Idee des Guten.

Der dritte Teil (Buch 8 bis 10) der als Ringkomposition angelegten Politeía greift den Gedanken von Ende Buch 4 auf – ‚wie viele Gestalten der Seele, so viele Arten der Staatsverfassungen‘ (445 c 9 ff.): in den ersten Büchern war am größeren Modell eines idealen, ständisch gegliederten Staates das Wesen der Gerechtigkeit aufgezeigt und auf das kleinere, die menschliche Einzelseele, zurückbezogen worden. Hier wird jetzt, nach der zentralen (ihrerseits ringkompositorisch angelegten) Partie über die Philosophenkönige, mittels der vier entgleisten, von Platon dergestalt bezeichneten Verfassungsformen Timokratie (Macht je nach Ehrgeiz), Oligarchie (entsprechend dem Vermögen), Demokratie (hier: Pöbelherrschaft) und Tyrannis (des Autokraten) und mittels ihrer Rückübertragung wiederum auf die jeweils parallelen Verfasstheiten der menschlichen Seele das Wesen der Ungerechtigkeit und ihre Rolle im Streben nach Glück bestimmt. Der Lohn der Gerechtigkeit während des Lebens sowie der gerechten, unsterblichen Seele nach dem Tode in der Jenseitserzählung des zehnten Buches (614 b 2 – 621 b 7) spiegelt das Lob der Ungerechtigkeit im ersten durch Thrasymachos.

d. Nachwirkung

Platons Staatsentwurf wird im Rom der ausgehenden Republik noch einmal Vorbild, und es sind diese letzten Bücher, welche der Redner, Politiker und Philosoph Cicero zwischen 54 und 51 v. Chr. in der Schrift über den römischen Staat De re publica aufnimmt. Mit dem Somnium Scipionis, dem Traum des jüngeren Scipio Africanus am Ende des sechsten Buches, krönt er sein Werk durch den Schlussmythos vom Lohn des gerechten Staatsmannes im Jenseits ebenso wie Platon seine Politeía. Indes hatte schon Platon mit seinen Bemühungen auf Sizilien deutlich gemacht, dass er seinen Entwurf eines idealen Staates durchaus an eine Verwirklichung knüpft. Das unterscheidet ihn grundlegend von den frühneuzeitlichen Staats-Utopien (als eigener literarischer Gattung) seit der egalitären Städteverfassung und Einheitsgesellschaft auf der Insel Utopia des Thomas Morus (1516), welche Elemente der Polistradition platonischer Zeit gleichwohl aus der Ferne weiterführt. Auch der theokratisch-sozialistische Sonnenstaat Città del Sole (1623) des Tommaso Campanella folgt dem Primat des Allgemeinwohls und sichert die innere Eintracht durch Gütergemeinschaft, Einheitspädagogik und Gleichberechtigung Aller. Die monarchische Nova Atlantis (1624/27) des Francis Bacon bettet den Menschen in eine patriarchalische, sittenstrenge Gesellschaft, mit dem Ziel, durch naturwissenschaftliche Forschung die menschliche Herrschaft bis an die Grenze des überhaupt Möglichen zu erweitern. Zur Antiutopie gerät schließlich 1948 der ‚Große Bruder‘ George Orwells, welcher in der Parteidiktatur des totalitären Überwachungsstaates 1984 durch ganzheitliche Gedankenkontrolle jegliche Individualität ausschaltet und mit staatlicher Gewalt die völlige Unterwerfung des Einzelnen sichert.

Michael P. Schmude

 

Literatur

Bordt, M., Platon (Freiburg im Breisgau 1999).

Bormann, K., Platon (Freiburg im Breisgau 42003).

Erler, M., Platon (München 2006) [Beck’sche Reihe: Denker].

Neumann, U., Platon (Reinbek 2001) [Rowohlt Monographie].

Zehnpfennig, B., Platon zur Einführung (Hamburg 42011).

Figal, G., Sokrates (München 32006) [Beck’sche Reihe: Denker].

Martin, G., Sokrates (Reinbek 1967, ND 1994) [Rowohlt Monographie].

Meyer, Th., Platons Apologie (Stuttgart 1962).

Morré, C., Der Prozess des Sokrates (Freiburg i. Br. 1999).

Roeske, K., Nachgefragt bei Sokrates – Ein Diskurs über Glück und Moral.                                Text und Interpretation der Apologie Platons (Würzburg 2004).

Cicero-zwischen-politischer-Praxis-und-ethischer-Pflichtenlehre

Cicero-zwischen-politischer-Praxis-und-ethischer-Pflichtenlehre

Cicero zwischen politischer Praxis und ethischer Pflichtenlehre –

eine Einführung in seine Schriften De re publica und De officiis

 

Mit Marcus Tullius Cicero haben wir eine der schillerndsten Figuren der antiken Geschichte überhaupt vor uns, die in ihrer Person wie in ihrer öffentlichen Karriere ein Paradebeispiel für Politiker auch unserer Tage geblieben ist und bleibt. Was er zur Politik unserer Tage zu sagen hätte, können wir aus seinem Hauptwerk De re publica herausfiltern: Über das Staatswesen, wie es sein sollte und wie es ist … (da hatte seine eigene Laufbahn schon einen ersten, heftigen Knick bekommen), oder besser: über die unterschiedlichen Formen der Staatswesen, ihre Vorzüge und Stärken, ihre Nachteile und Gefahren. Ist die Demokratie als Staatsform heute wirklich die beste? Sollte vor dem Hintergrund aktueller Herrscher das Volk über Staatenlenker abstimmen? Was hielte Cicero von Volksbegehren, überhaupt – was würde Cicero zum Verhältnis von direkter zu repräsentativer Demokratie wohl anführen?

Neben Caesar ist Cicero für uns die zentrale Figur der ausgehenden römischen Republik, bei der wir stets zwei Seiten unterscheiden müssen: er war eine Person des öffentlichen Lebens – heute VIP – zum Einen als Rechtsanwalt in zivilen wie politischen Verhandlungen, zum Anderen als aktiver Politiker im Sinne der ursprünglichen res publica, der Sache des Volkes. Seinen Verdiensten auf beiden Gebieten steht eine gehörige Portion Eitelkeit im Blick auf die eigenen Leistungen gegenüber, seinem Erfolg letztlich ein zögerliches Hin-und-Her-Taktieren zwischen den wirklich Mächtigen der Zeit im Wege.

Daneben war er aber auch ein Schriftsteller, der in Zeiten unfreiwilliger Zurückgezogenheit vom Politbetrieb maßgebliche, insbesondere philosophische Schriften von den Griechen übernommen und für seine Landsleute bearbeitet und zugänglich gemacht hat. Hinzu kommen rhetorische Abhandlungen sowie eine umfangreiche Sammlung von Briefen an Familienangehörige, Freunde und Weggefährten, in denen er zu allen wichtigen Fragen des öffentlichen und literarischen Lebens Stellung genommen hat. Er lebte und wirkte in einer Zeit des totalen Umbruchs im gesamten Bereich des gesellschaftlichen Lebens seiner Heimat und Wirkungsstätte Rom.

 

I. Werdegang und politische Karriere

Marcus wurde als Spross der alten gens (Familie) Tullia mit dem cognomen (Beinamen) Cicero (Kichererbse) am 3.1.106 v. Chr. im Landstädtchen Arpinum (Latium) südöstlich von Rom geboren. Er gehörte dem zweiten, dem Ritterstand an. Seine durch Grundbesitz vermögende Familie ermöglichte ihm (und seinem jüngeren Bruder Quintus) Studienzeiten in Rom (bis 82), Athen und Rhodos (79-77).

Seinen Durchbruch als Anwalt schaffte der homo novus (= Newcomer) mit einem ausgesprochen heiklen Prozess, in welchem er den jungen Sextus Roscius aus Ameria i. J. 80 gegen den Vorwurf des Vatermordes verteidigte, den ein Günstlings des Machthabers Sulla erhoben hatte, um seinerseits in den Besitz der Familiengüter zu gelangen. Mit dem Verfahren gegen Gaius Verres (70), der als Prätor die Provinz Sizilien hemmungslos ausgeplündert hatte, wurde er Roms führender orator; Höhepunkt einer nunmehr durchgängigen Tätigkeit als öffentlicher Redner waren die Philippischen Reden (44/43) gegen Caesars Weggefährten Marc Anton (44/43), angelehnt an die Philippika seines berühmten athenischen Vorbilds Demosthenes gegen den Vater Alexanders d. Gr.

Cicero hat alle seine Reden (110 Gerichts- wie politische Reden seit dem Jahr 81, von denen 58 erhalten sind) im Nachhinein überarbeitet und durch seinen Verleger Atticus veröffentlichen lassen.

Nach der klassischen Ämterlaufbahn (cursus honorum) – 76 Quaestor, 69 Aedil, 66 Praetor – stand er auf dem Gipfel seiner politischen Macht als Konsul im Jahre 63 v. Chr., in welchem er den Umsturzversuch des heruntergekommenen Adligen Catilina aufdeckte und dessen gesamte Putschistenbande besiegte (Zeugnis geben seine Catilinarischen Reden aus dem Prozess). Allerdings leitete seine in den eigenen Augen bedeutendste Leistung, die Zerschlagung der catilinarischen Verschwörung, zugleich seinen politischen Niedergang ein: wegen der (nicht zuvor von der Volksversammlung bestätigten) Hinrichtung der Catilinarier wurde Cicero 58 aus Rom (ins nördliche Griechenland) verbannt.

Nach seiner ehrenhaften Rückberufung 57, einem Kurswechsel zu Caesar, seiner Wahl zum Augur (53) und dem Prokonsulat im kleinasiatischen Kilikien 51 wurde er besonders in der Folge des Bürgerkriegs zwischen Caesar und Pompeius (49-46) mehr und mehr zum Kopf der republikanischen bzw. Senatspartei (Optimaten) und stellte sich, weiterhin nicht ohne auch ein gewisses Arrangement mit dem Tyrannen, seit 46 gegen die Alleinherrschaftsansprüche Caesars und dessen Nachfolger. Mit dessen Ermordung (44) erhoffte er sich von Octavian die Wiederherstellung der früheren Senatsherrschaft, während er in M. Antonius den Erben von Caesars Diktatur sah. Doch verbündete sich Caesars Neffe nicht – wie von Cicero betrieben – mit den Caesarmördern um Brutus zur Erneuerung der libera res publica, sondern mit Antonius (und Lepidus) im zweiten Triumvirat des Jahres 43. Cicero wurde daraufhin von den Killern Marc Antons am 7.12.43 in der Nähe seiner Landvilla (Formianum) bei Gaeta (nordwestlich von Neapel) ermordet – auch dies eine bemerkenswerte Parallele zum Ende des ihm wesensverwandten Demosthenes.

 

II. Literarisches Werk – De re publica

In Zeiten erzwungener politischer ‚Muße‘ entwickelte Cicero den Ehrgeiz, griechische Kultur und philosophisches Denken in Rom ‚salonfähig‘ zu machen, ausgehend von der Grundüberzeugung, dass der verantwortlich handelnde Staatsmann die Fähigkeiten des Rhetors mit den Bildungsgütern des Philosophen in sich vereinen müsse (de or. 3, 63) – eine Tätigkeit allerdings, die er stets als zweitrangig hinter seiner öffentlichen Leistung ansah.

Seine Briefe (epistulae an seinen Verleger Atticus aus den Jahren 67-44, epistulae ad familiares 62-43, dazu ad Quintum fratrem 60-54 und ad M. Brutum aus dem Jahr 43), stellen einen unschätzbaren Quellenfundus zur Geschichte der ausgehenden Römischen Republik dar.

Die wichtigsten Arbeiten auf rhetorischem Gebiet sind (nach der Frühschrift de inventione um 86) de oratore (55), Brutus und der orator (beide aus dem Jahr 46), in denen er Geschichte und Ideal römischer Beredsamkeit im obengenannten Sinne zeichnet. Fragen der Erkenntnistheorie behandeln seine Academici libri (um 45). Im Mittelpunkt seiner ethischen Werke stehen die Frage nach dem höchsten Gut des Menschen (de finibus bonorum et malorum) und die Lehren der großen hellenistischen Schulen hierzu, nach den Bedrohungen des menschlichen Glücks und dem Beitrag der Philosophie zu seiner Bewahrung (Tusculanae disputationes), in seiner Spätschrift de officiis schließlich der Konflikt zwischen bonum/honestum und utile und die Ableitung ethisch begründbarer Maßstäbe für das menschliche Handeln. Im gleichen Zeitraum (um das Jahr 44) wurden auch seine religiösen Schriften herausgegeben: de natura deorum (in der Gegenüberstellung von Stoá, Akademie und Epikur), de divinatione (gegen den stoischen Glauben an die Weissagung) und de fato (über die Kausalität menschlichen Handelns).

a. Die Schrift De re publica

Seine wichtigste staatstheoretische Schrift über die beste Form des Gemeinwesens entstand, neben dem rhetorischen Hauptwerk über den idealen Redner (De oratore, 55), in einer Phase mehr gefühlten als tatsächlichen politischen Einflusses bis 52 v. Chr. Fiktive Spielzeit des (an Platon orientierten) Dialogs ist das Jahr 129 v. Chr. an drei Tagen der Feriae Latinae  (je 2 Bücher = 1 Tag). Cicero erinnert seinen Bruder Quintus an das Gespräch des P. Cornelius Scipio d. J. (185-129 v. Chr.) mit Freunden (Laelius, L. Furius Philus, Manilius u.a.), welches ihnen durch den letzten noch lebenden Teilnehmer P. Rutilius Rufus 78 v. Chr. im kleinasiatischen Smyrna übermittelt worden sein will (rep. 1, 13).

Gemäß Ciceros Staatsdefinition in rep. 1, 39 sind Grundlagen des Gemeinwesens gemeinsames Rechtsempfinden und Nutzengemeinschaft, Gedankengut, das ihn mit der Stoá verbindet. Antrieb des Menschen zur Bildung von Gemeinwesen ist seine natürliche Veranlagung, und damit folgt Cicero dem aristotelischen Bild vom Zōon politikón, das von Natur aus auf die staatliche Gemeinschaft angelegt sei, im Unterschied zu Platon, für welchen die individuelle Unzulänglichkeit den nicht-autarken Menschen zur Arbeitsteilung im Rahmen eines staatlichen Zusammenschlusses zwinge. Bücher 1 und 2 behandeln den besten Staat: B. 1 stellt die Verfassungsformen sowie ihre Entartungen nach Platon und Aristoteles dar, übernimmt von dem romfreundlichen, hellenistischen Historiker Polybios (Mitglied des ‚Scipionenkreises‘) den Kreislauf der Verfassungen (Anakýklōsis) und mündet in die Mischverfassung (rep. 1, 69), welche die Stärken der einzelnen Formen nutze, die Schwächen hingegen durch wechselweise Kontrolle meide – verwirklicht in der Geschichte des republikanischen Rom = Buch 2. Bücher 3 und 4 (nur stückweise erhalten) fragen nach dessen sittlichen Grundlagen; zentrale Frage hier die nach dem Wesen der Gerechtigkeit: Cicero referiert bzw. gestaltet in B. 3 zwei Reden des (skeptischen) Akademikers (die Akademie war die Schule Platons) Karneades an zwei aufeinanderfolgenden Tagen im Rom des Jahres 156/155 v. Chr. für und wider die Gerechtigkeit. Für die Zuhörerschaft verunsichernd und bestürzend, dass beide gleichermaßen überzeugend waren, so dass auf Betreiben des Älteren Cato diese ‚Philosophengesandtschaft‘ (es waren noch die Schulhäupter des Peripatos, der Schule des Aristoteles, sowie der Stoá aus Athen mit angereist) ausgewiesen wurden. Philosophisches Denken hatte sich gleichwohl damit in Rom unwiderruflich ‚eingebürgert‘. B. 4 geht der Verwirklichung der Gerechtigkeit in der Gesetzgebung nach und weist auf Ciceros wenig später erschienene, gleichsam praktische Nachfolgeschrift de legibus voraus. Bücher 5 und 6 zeichnen den Staatsmann, welchen der beste Staat erfordert: B. 5 definiert ihn als sapiens et iustus vir, und mit dem Somnium Scipionis in B. 6, einer getreuen Anlehnung an die Erzählung des Pamphyliers Er am Ende von Platons Politeía vom Lohn der Gerechtigkeit nach dem Tode, setzt Cicero seinem Vorbild eines klugen, gerechten, tapferen und besonnenen (die vier Kardinaltugenden) Staatsdieners, dem Jüngeren Scipio Africanus (Numantinus, † 129 v. Chr.) ein beeindruckendes Denkmal.

b. Nachwirken

Cicero stellte De re publica als Ganzes in die Nachfolge von Platons Politeía ebenso wie de legibus (um 52?) zu dessen Nómoi. Doch während Platons Werk eine ‚U-topía‘, ein (historischer) Nicht-Ort, bleibt, verankerte Cicero sein Staatsmodell fest im Ablauf der römischen Geschichte. Eine Antwort aus christlicher Sicht gab Augustinus, seit 395 bis zu seinem Tod 430 Bischof von Hippo Regius (Numidien), in seiner Civitas Dei: verfasst unter dem Eindruck der Eroberung Roms durch den Westgotenkönig Alarich (410), wird hier der Gottesstaat vor dem Hintergrund eines christlichen Humanismus entwickelt – als Antwort auf den Staatsentwurf des Heiden Cicero. Die Auseinandersetzung mit dessen Schrift setzte indes bereits in den Divinae institutiones (304-313) des christlichen Apologeten Laktanz ein, wie Augustinus aus Nordafrika und ab 290 Rhetor und Erzieher Konstantins (des späteren Großen), der eine einführende Religionslehre für die gebildete christliche Welt entwarf.

Weitergeführt wurden die staatstheoretischen Entwürfe seit dem Humanismus und in die Neuzeit hinein durch Thomas Morus‘ Utopia (1516), Thomas Hobbbes‘ Leviathan (1651) oder John Lockes (zweitem der) Two treatises of government (1690), aber auch in Charles de Montesquieus Prinzip der Gewaltenteilung De l’esprit des lois (1748), J.J. Rousseaus Contrat social (1762) sowie den Rechtsphilosophien Immanuel Kants (1785 ff.) und G.F.W. Hegels von 1820.

c. Überlieferung

Lange Zeit war von Ciceros de re publica nur das Somnium Scipionis zum Abschluss des sechsten Buches in der von dem Neuplatoniker Macrobius (Anfang des 5. Jh. n. Chr.) kommentierten Form erhalten. Der säkulare Staatsansatz des Heiden Cicero schien durch den christlichen Gegenentwurf des Kirchenvaters Augustinus nach dem 5. Jh. überholt. Erst 1820 fand der Präfekt der Vatikanischen Bibliothek, Kardinal Angelo Mai, einen Codex rescriptus des 5. Jh. aus Palimpsesten mit etwa einem Viertel des Werkes vor Allem aus den Büchern 1 und 2. Von den übrigen Büchern sind allerdings beträchtliche Teile durch Zitate und Referate (so für B. 3 das <Argumentum Augustini> vor rep. 3, 8.) insbesondere des Laktanz und Augustinus überliefert.

 

III. Literarisches Werk – De officiis

Die Schrift De officiis [„Über die Pflichten“, verfasst Ende 44 v. Chr.] des römischen Anwalts, Staatsmannes und Philosophen Cicero gilt bis heute als ein Handbuch ethisch begründeten, praktischen Handelns: Was ist das Sittlich-Gute? Welche Formen von Nützlichkeit gibt es? Ist das Nützliche immer auch gut, oder sind Situationen vorstellbar, in denen Nützlichkeit und Sittlichkeit einander widerstreiten? Diese Fragen leuchtet Cicero in De officiis von unterschiedlichen Standpunkten her aus.

Cicero ist somit nicht nur als Politiker und Redner beispielhaft auch für unsere Tage geblieben, sondern er ist darüber hinaus der philosophische Schriftsteller, welcher die geistigen Debatten seiner Zeit aus Griechenland nach Rom und zu uns gebracht hat. Und dafür musste er sie zuerst einmal aus dem Griechischen ins Lateinische über-tragen, die Lehren der stoischen, epikureischen und akademischen Schule aus Athen im Rom seiner Zeit aufeinandertreffen lassen.

a. Cicero als Philosoph

Hintergrund seines eigenen philosophischen Werdeganges ist nicht zuletzt die Studienreise (zusammen mit seinem Bruder Quintus) nach Griechenland und Kleinasien in den Jahren 79-77 v. Chr. In Rom hatte er früh den Epikureer Phaidros kennengelernt und seit 85 bei dem Stoiker Diodotos studiert. In Athen hörte er Vorlesungen des Schulhauptes der ‚Akademie‘, Antiochus von Askalon, sowie aus der epikureischen Schule (neben Phaidros) Zenon von Sidon (Palästina); auf Rhodos wurde er Schüler und Freund des Stoikers Poseidonios. Mit seinem eigenen philosophischen Standpunkt nimmt Cicero eine Art Mittelstellung ein: da ist zum Einen die ‚skeptische’ Akademie seines ersten wichtigen Lehrers in Rom, Philon von Larisa (in Thessalien), welcher i. J. 88 aus Athen geflohen war – dieser stellte die Möglichkeit gesicherter Erkenntnis in Frage; auf der anderen Seite steht seine zweiter Lehrer, der ‚Dogmatiker‘ Antiochus – er billigte der menschlichen Wahrnehmung Verlässlichkeit zu. Antiochus unternahm in der ‚Alten Akademie‘ eine Zusammenführung von Platonismus und Stoizismus.

b. Cicero als Bearbeiter griechischer Quellen

Die Form, welche er seiner Darstellung griechischen Denkens gibt, orientiert sich stark an den Gesprächen seines großen Vorbildes Platon, des Begründers der Akademie, einer Vorläuferin unserer Universitäten, auf welche sich alle weiteren Schulgründer zurückbeziehen werden. Übertragung ist bei Cicero aber keineswegs als Übersetzung zu verstehen (durchweg allerdings bei philosophischen Fachbegriffen); vielmehr übernimmt er vorrangig aus Zusammenfassungen, Vorlesungsnachschriften oder Handbüchern Dritter und dann erst – wenn überhaupt – aus den eher trockenen, geschlossenen Abhandlungen hellenistischer Autoren. Diese gießt er in die lebendigere (gleichwohl ebenfalls künstliche) Form des platonisch-sokratischen Dialoges: er lässt die Vertreter einzelner philosophischer Schulen in Rede und Gegenrede aufeinander treffen, um sodann als ‚lachender Dritter‘ deren jeweilige Stärken zu seinem eigenen Standpunkt zusammenzuführen (→ Eklektizismus).

In De officiis verarbeitet Cicero stoische Quellen: für Buch 1, welches vom Sittlich-Guten (honestum) handelt, und Buch 2 vom Nützlichen (utile) fasst er die drei Bücher Über die Pflicht des Panaitios von Rhodos (ca. 185-109 v. Chr.), des Schulhauptes der ‚Mittleren‘ Stoá, zusammen. Für das dritte Buch über mögliche Konflikte von Sittlichkeit und Nutzen lässt er sich einen Auszug aus der Schrift Über die Pflicht des Poseidonios von Apameia (Syrien, ca. 135-51 v. Chr.), eines Schülers des Panaitios, anfertigen. Poseidonios war, während Cicero sich am Ende seiner Studienzeit 77 auf Rhodos aufgehalten hatte, dort auch sein Lehrer gewesen. Da Panaitios einen möglichen Gegensatz zwischen honestum und utile nur als Frage formuliert, ohne sie zu beantworten, und auch Poseidonios diesen lediglich streift, entwickelt Cicero hier recht selbstständig aus der stoischen Pflichtenlehre seine eigene Sozialethik.

Panaitios war in Rom Mitglied des sogenannten ‚Scipionenkreises‘ gewesen, welcher (in der Fiktion i. J. 129) den Rahmen für Ciceros Gespräch De re publica hergegeben hatte; aber darüber hinaus bestehen auch inhaltliche Wechselbeziehungen zwischen beiden Werken: so geht Cicero in De officiis zunächst einmal von der Natur des Menschen aus, welcher die vier Grundtriebe nach Erkenntnis, Gemeinschaft, Handeln und Maßhalten zugewiesen werden. Das ius (Recht), hier Teilbereich des honestum, hatte er bereits in De re publica mit utilitas (Nutzen) zusammengebracht und dort zu Grundpfeilern seines Gemeinwesens gemacht. Mögliche Spannungen zwischen den Interessen des Einzelnen und denen des Staates hatte er dabei in einem gemeinsamen Rechtsempfinden (iuris consensus) und in Nutzengemeinschaft (utilitatis communio) ausgeglichen. Platons Staatsutopie, der Politeía, lag hingegen noch eine Vorstellung von Gerechtigkeit zugrunde, welche den Nutzen grundsätzlich miteinschloss (vgl. off. III 20).

c. Die Schrift De officiis

Cicero hat diese letzte seiner philosophischen Schriften von Oktober 44 v. Chr. an auf seinem Landgut in Puteoli (heute Pozzuoli an der kampanischen Küste, westlich von Neapel) verfasst, bevor er sich Anfang Dezember nach Rom in seinen letzten politischen Kampf gegen Marc Anton, den früheren Kampfgefährten Caesars, begab. An seinen Sohn Marcus gerichtet, bleibt sie aufgrund der sich überschlagenden Ereignisse in der Stadt ohne abschließende Bearbeitung. Die Form des philosophischen Dialogs ist gegenüber früheren Schriften aufgegeben; die Abhandlung wendet sich direkt an seinen in Athen studierenden Sohn Marcus als Anleitung zum rechten Handeln und führt jedes ethische Verhalten im stoischen Sinne auf die Natur zurück: sie weckt im Menschen neben dem Streben nach Nutzen, welches allen Lebewesen zu eigen ist, den Wunsch nach sozialer Gemeinschaft (← De re publica).

Das erste Buch befasst sich mit dem Sittlich-Guten (honestum). Die Natur des Menschen fügt sich gemäß stoischer Lehre aus den vier Grundtrieben nach Erkenntnis, Gemeinschaft, Handeln und Maß; diesen entsprechen die Kardinaltugenden Klugheit (sapientia), Gerechtigkeit (iustitia), Tapferkeit (fortitudo) und Mäßigung (temperantia). Sittlich sind Handlungsweisen, die aus diesen einzelnen Triebkräften hervorgehen und – vernunftgesteuert – zu einer Harmonie im Ganzen führen und sie bewahren: in diesem Sinne sind die Pflichten definiert (I 15-17).

Folgerichtig unterscheiden Panaitios/Cicero vier Anwendungsbereiche des honestum, von denen sich der erste (sapientia, Erkenntnis) der menschlichen Natur, die drei anderen der menschlichen Gemeinschaft zuordnen. Von den drei ‚sozialen‘ Bereichen des honestum teilt sich der erste in iustitia (Gerechtigkeit) und beneficentia (Wohltun), die einander wechselseitig Grenzen setzen (I 42). Die Gemeinschaften sind abgestuft nach Menschheit im Ganzen, Volk, Gemeinde und Sippe; fundamental sind Ehe-, Bluts- und Freundesbande. Pflicht für die Gemeinde geht der beneficentia gegenüber dem Einzelnen vor (I 57). Auch für die Pflichten aus der Seelengröße (magnitudo animi), hier an die Stelle der fortitudo gesetzt, gilt ihre Anbindung an die Gerechtigkeit (I 65), und den Vorrang des zivilen Dienstes vor dem militärischen untermauern Beispiele aus der griechischen wie römischen Geschichte (I 75-78). Die Pflichterfüllung im Bereich von Maß und Ordnung garantiert zum Einen die Harmonie in allen Handlungsbereichen des honestum (I 96), zum Anderen entspricht sie im Besonderen dem Trieb zur Mäßigung und verwirklicht die Tugend der Selbstbeherrschung (temperantia). Für eine Individual-Ethik ergibt sich daraus, dass eine allgemeine Vernunftnatur alle Menschen miteinander verbindet (I 107), während der Einzelne seiner besonderen Veranlagung und Begabung, seiner sozialen Stellung und selbstgewählten Lebensbahn zu folgen hat, solange diese der allgemeinen Vernunftnatur nicht zuwiderlaufen. Und so gelangt Cicero zumindest teilweise auch zu einer Rangfolge von Formen der Sittlichkeit, welche Panaitios gar nicht thematisiert hatte: Pflichten gegenüber der Gemeinschaft gehen stets über solche, die aus dem individuellen Erkenntnistrieb erwachsen (I 153), stehen ihrerseits aber unter der Vorgabe von Maß und Ordnung (I 159).

Das zweite Buch behandelt das Nützliche (utile), aber auch hier bleibt der Wechselbezug zum Sittlichen stets wirksam: die ganze Vielfalt der Nützlichkeiten und Zwecke ist für den Menschen – auch mithilfe aller seiner natürlichen Gaben – nur erreichbar in der gemeinsamen actio (Tun) mit Anderen. Grundbedingung (II 21) für die benötigte Unterstützung sind Freundschaft (II 31 → Cic. Laelius De amicitia) und Ansehen, erworben werden diese durch die Gemeinschaftstugenden Wohltun (benevolentia, beneficia II 32) und Gerechtigkeit (iustitia II 38).

Im dritten Buch wird die Frage (bereits von Panaitios) gestellt, wie mit einem denkbaren Widerstreit zwischen honestum und utile umzugehen sei. Für den stoischen Weisen (und damit auch für Panaitios) erübrigt sich eine Antwort, weil nützlich nur sein kann, was zu Gutem führt, und allein das Sittlich-Gute ist wirklich gut. Cicero indes entwickelt eine Pflichtenlehre und damit eine praktische Ethik für den Normalbürger, welcher eine Handlung in ihrer Sittlichkeit wie in ihrem Nutzen oft gar nicht bis zum Ende überschauen kann, und gibt dafür eine formula (Regel, Norm) auf stoischer Grundlage (Poseidonios?) vor: einem Anderen etwas wegzunehmen und dadurch seinen eigenen Nutzen zu mehren, ist mehr gegen die Natur (auch des Individuums) als Tod, Armut und Schmerz, weil es das menschliche Zusammenleben und die Gemeinschaft aufhebt (III 21). Das Allen gemeinsame Naturgesetz (lex naturae) beinhaltet zugleich den gemeinsamen Nutzen Aller und verbietet, den Anderen zu verletzen (III 27). Die dafür gegebenen Fallbeispiele gliedert Cicero schließlich vage nach den vier Bereichen des honestum (III 96). Ist der Konflikt also nur ein scheinbarer, so beruht er auf falscher Einschätzung des Einzelnen, inwieweit etwa eine Handlung tatsächlich sittlich bzw. ob sie auch auf Dauer nützlich sein wird. Zugleich ist praktisches Handeln nicht nur Sache jedes Einzelnen, auch der Staat kann individuell, ‚als Einzelner‘ handeln müssen (III 46-49: dort auch ein klares Bekenntnis zu staatlicher humanitas gegenüber Fremdlingen) – praktische Ethik wird einmal zu angewandtem Völkerrecht werden.

d. Nachwirken

Der Kirchenvater Ambrosius, Bischof von Mailand, hat seine christliche Ethik De officiis (ministrorum – der Kirchendiener) Ende des 4. Jh. in unmittelbarer Anlehnung, teils wörtlicher Übernahme aus Cicero gebildet, wobei er Beispiele aus der antiken, sprich: römischen Geschichte durch solche aus dem AT ersetzt, um die ältere und höhere Autorität der jüdisch-christlichen ‚Weisheit‘ zu belegen. Die Schrift bleibt für die mittelalterliche Pflichtenlehre wegweisend.

Renaissance und Aufklärung entdecken die Humanität des ciceronischen Originals von Neuem, und für Voltaire am Hofe Friedrichs II. d. Gr. wie für die Moralphilosophie des 18. Jh. galt De officiis als vorbildliches ethisches Modell. Überhaupt entfaltet Cicero sein Nachleben nicht durch ein bestimmtes philosophisches Denksystem, eine Schule, einen Lehrsatz oder ein markantes Schlagwort – vergleichbar etwa dem Zon politikón des Aristoteles. Vielmehr wirkt er als politische, literarische und philosophische Gesamtpersönlichkeit, wirkt er insbesondere durch seine Fähigkeit, Fragestellungen in unterschiedliche Richtungen zu erörtern und verschiedene Lösungsansätze darzulegen, ohne eine Antwort dogmatisch vorzugeben. So ist er nicht nur auch für die Moderne der lateinische Unterrichtsautor geblieben, sondern darüber hinaus die öffentliche Gestalt, welche man – neben Caesar und Augustus – mit Römertum schlechthin assoziiert bis gleichsetzt.

Michael P. Schmude

 

Literatur

Bringmann, K., Cicero (Darmstadt 22014) [Gestalten der Antike, hg. v. M. Clauss]

Fuhrmann, M., Cicero und die römische Republik (München/Zürich 41997)

Giebel, M., Marcus Tullius Cicero (Reinbek 22013) [Rowohlt Monographie]

Grimal, P., Cicero: Philosoph, Politiker, Rhetor (München 1988).

Pina Polo, F., Rom, das bin ich. Marcus Tullius Cicero. Ein Leben (Stuttgart 2010)

Stroh, W., Cicero: Redner – Staatsmann – Philosoph (München 22010) [Beck-Wissen].

Wortschatz und Textarbeit

Wortschatz und Textarbeit

Wortschatz und Textarbeit –

Überlegungen zu einem gegenwartsbezogenen Lektürekanon

 

Michael P. Schmude

 

ABSTRACT

 

Der Aufsatz folgt einem Dreischritt: 1. Grundlage und Ausgangspunkt einer jeden gelingenden Arbeit an einem fremdsprachigen Text und condicio sine qua non für jegliches Textverständnis ist ein möglichst sicherer Umgang mit dem dort verwendeten Wortschatz: Beherrschung des Vokabulars ist nicht Alles, aber ohne Vokabelkenntnis ist Alles Nichts. Nun ist heutige Wortschatzarbeit in die europäische Breite angelegt und vernetzt Vokabular und Idiomatik der modernen Tochter-Sprachen mit ihren Alten Mutter-Sprachen Griechisch und Latein; Erfassen und Strukturieren in Wortfamilien wie Sachfeldern befördern das eigenständige Erarbeiten und stützen die Gedächtnisleistung. 2. Der Weg zu einem tiefergehenden Verständnis auch anspruchsvoller Texte führt über durchaus unterschiedliche Erschließungsmethoden sowohl am einzelnen Satz wie auch ganzheitlich an der umfangreicheren Passage. Hier sind gleichberechtigt unterschiedliche Textarten wie Lerntypen zu berücksichtigen und stets von Neuem in ein gedeihliches Verhältnis zueinander zu bringen, denn das Ziel bleibt, losgelöst von der Methode: Texte der Literatur zur Lebenswelt ihrer Rezipierenden in Bezug zu setzen, mithin das Weltwissen der antiken Texte zu Lebenswissen bei den jungen Menschen zu verdichten. 3. Daraus ergibt sich von selbst die Erfordernis durchgängiger Überprüfung und Reflexion des Angebots an Lektüren, mit welchen die Lebenswirklichkeit der Lesenden angesprochen werden kann kann – hierzu seien vier Ergänzungs-/Alternativvorschläge entwickelt: Migration I (Mundus Novus), die Lebenswelt des Mittelalters (Carmina Burana), Staats- und Gesellschaftstheorie (nach Polybios und Cicero) sowie Migration II (Vergils Aeneis und Ovids Tristien).

 

Der Gemeinsame Europäische Referenzrahmen für Sprachen (GER), im Auftrag des Europarats in Straßburg erstellt und herausgegeben, formuliert fünf Ziele eines Unterrichts in modernen Fremdsprachen „verstehen – sprechen – lesen – schreiben – übersetzen[1]“. Von solch aktiv kommunikativen (Parlieren) wie auditiven (Hörverstehen) Erfordernissen eher freigestellt, führt der Altsprachliche Unterricht über die an sich unstrittige Trias ‚Verstehen – Übersetzen – Interpretieren‘ zu einem Dialog mit dem „nächsten Fremden“ (U. Hölscher 1994) einer kulturellen Vergangenheit, deren kontrastives Verständnis einen geschärften Blick für die eigene Gegenwart ermöglichen soll. Medium dieses Austauschs ist nicht das gesprochene Wort, es ist der geschriebene Text, welcher zum Sprechen gebracht, dessen zunächst – nach Form wie Inhalt – verborgene Gestalt den Fragen des Lesenden zugänglich gemacht, geöffnet werden muss. Es liegt auf der Hand, dass ein solchermaßen abweichendes sachliches Anliegen auch eine anders geartete Näherungsweise an die alte fremde Sprache erfordert.

 

  1. WORTSCHATZARBEIT

 

Grundlage und Ausgangspunkt einer jeden gelingenden Arbeit an einem fremdsprachigen Text und condicio sine qua non für jegliches Sprach-wie Textverständnis ist ein möglichst sicherer Umgang mit dem dort verwendeten Wortschatz – Beherrschung des Vokabulars ist nicht Alles, aber ohne Vokabelkenntnis ist Alles Nichts. Nun erschöpft sich heutige Wortschatzarbeit in den Alten Sprachen schon lange (und zum Glück) nicht mehr in einer wie auch immer von statten gehenden Aneignung und Wiederholung gegebener Reihen neuer (und nicht mehr ganz so neuer) Wörter, sondern ist in die europäische Breite angelegt und vernetzt Vokabular und Idiomatik der modernen ‚Tochter‘-Sprachen mit ihren Alten ‚Mutter‘-Sprachen Griechisch und Latein; Erfassen und Strukturieren in Wortfamilien wie Sachfeldern befördern das eigenständige Erarbeiten und stützen die Gedächtnisleistung[2].

Ob Vokabellernen über das ‚klassische‘ Vokabelheft (selbst schreibend angelegt oder als Beilage des Lehrwerks – und damit durchweg kapitelbezogen), mittels Karteikarten (mit den verschiedenen Fächern für: neues Wort gelernt, aber noch zu wiederholenbekannt) oder interaktiv im Rahmen eines digitalen Lernprogramms (Vokabeltrainer, mittlerweile Standardzubehör jedes Unterrichtswerks) erfolgt, wird weiterhin dem individuellen Lerntypus der Schüler zu überlassen sein – am Ende will es gekonnnt werden; der Wege sind mehrere, und sei es der unmittelbare ‚bloß‘ aus dem Buch. Allen gemein ist freilich die unabdingbare Notwenigkeit regelmäßiger Wiederholung und Übung – repetitio est mater studiorum; nicht von ungefähr gehen bis zu sechzig Prozent der Fehler in Übersetzungen auf mangelnde Beherrschung des Vokabulars zurück (Fink/Maier 1996, 167). Und damit sind wir beim Hauptproblem jeder Bemühungen um einen möglichst breiten Wortschatz: wie lange behalte ich das einmal – mehr oder weniger – fleißig gelernte Vokabular ? Und dies betrifft den Lehrbuchwortschatz ebenso wie den in der Lektürephase auf die jeweilige Gattung oder den jeweiligen Autor bezogenen Lernwortschatz. Schwer zu steuernde Faktoren sind bekannt und hinlänglich beklagt: zum Einen Lernalter, Belastung durch die übrigen Fächer sowie Ablenkung durch angesagtere Formen der Kommunikation, zum Anderen große Lernpensen, geringe Lernkontinuität sowie auf Punkt (= auf Abfrage und Klassenarbeit) Pauken führen dazu, dass nach einer Woche etwa zwei Drittel der (einmalig) gelernten Vokabeln wieder ‚weg‘ sind. Abhilfen werden zu suchen sein in Gestalt ausreichender Zeit- und Ruheeinheiten, überschaubarer Vokabelmengen, regelmäßigen, auch spielerischen Einübens und Wiederholens – sei es computergestützt, sei es traditionell mittels Lernspielen (etwa Vokabelmemory‚ ‚Lernstraßen‘, Scrabble) im Klassenraum – , Anbindungen an die Lebenswelt der Lernenden, Bezügen zu bereits bekannten Texten – es ergibt sich das „Magische Dreieck“ (R. Frölich 2007) aus Aneignung, Anwendung und Erhalt des Gelernten.

Mnemotechniken sind gefragt – zwei bekannte, nützliche wie sinnvolle Arbeitsformen sind die Einbettung von Vokabeln in Wortfamilien sowie die Herstellung von Sachfeldern [vgl. zuletzt das Lehrwerk ADEAMUS, München (Oldenbourg) 2016, 237]; beide verbleiben zunächst einmal innerhalb der Ausgangssprache, hier: Latein und Griechisch.

 

Eine Wortfamilie bilden Wörter, die sich vom selben Stamm ableiten:

cánĕre – cantáre – cántor – cantus, -ūs – cantio – canticum

amáre – ámor – amícus – amica – amicítia

feýgein – fyg – fygás, -ádos – fygadeýein / fugĕre – fúga – fúgax, -ácis – fugáre.

 

Ein Sachfeld bilden Wörter, die auf ein gemeinsames Thema hinauslaufen:

Schule                        ludus – docre – discĕre – scribĕre – tabula – stilus – (ne)scíre – scholé

sehen             vidre – spectáre – óculus – écce

sagen, sprechen       légein – fánai – rhtōr – gnōmē / dícĕre – fári – orátor – senténtia.

 

Verwandt hiermit das Bilden von Gegensatzpaaren:

gaudium – dolor; aggrédi – deféndĕre; quaerĕre – inveníre; próprius – aliénus.

 

Parallel lassen sich Beispiele aus Wortfamilien wie Sachfeldern einem den Lernenden mehr oder weniger bekannten Alltags- (Lehnwörter) bzw. Fremdwortschatz zuweisen:

scribĕre – schreiben; tabula – Tafel, scholé – Schule; spectáre – spicken, gaudium – Gaudi; vidre – Video-; aggrédi – deféndĕre – aggressiv – defensiv; aliénus – Alien.

 

Gedächtnistraining und Wortschatzerweiterung zugleich ist die Fortführung in noch zu erlernende oder Herleitung aus bereits vertrauten modernen Tochtersprachen; das Netzwerk überschreitet mithin die ‚alten‘ Ausgangssprache(n):

(h)ōra – hóra – hour – heure – ora / respondre – to respond – répondre – rispondere.

cantus – [canto –] chanson – canzone / amor – [amorist, amorous –] amour – amore

fúgax, fugitívus – fugacious, fugitive – fugace, fugitif – fugacità, fuggitivo; fuggire, fugare.

 

Es liegt auf der Hand, dass in der Praxis der Sprachlehre die Einteilung in Wort- wie Sachgruppen mit der Übertragung in das ‚regionale‘ (Lehnworte) wie ‚überregionale‘ (Fremdsprachen) Netz stetig zu verknüpfen ist und im besten Falle zu einem gesicherten europäischen Grundwortschatz sollte führen können.

Gleichberechtigt neben dieser eher intellektuellen Ordnung des Wortschatzes nach bedeutungs- oder stammverwandtschaftlichen Gesichtspunkten samt flächendeckendem modernen Weiterleben stehen freilich auch kreative Zugänge – so das Verfassen einer kleineren Geschichte unter Einbau der neuen Wörter, bildliche Darstellungen, lautes (ggfs. szenisches) Vorsprechen und Vorsingen, nicht zuletzt als besondere eigenständige Leistung die pantomimische Aufführung hierfür geeigneter Begriffe und Wendungen – jüngst hat in der Pegasus-Onlinezeitschrift St. Ziemer mit der „Schlüsselwortmethode“ (früher: Merkvers und ‚Eselsbrücke‘) die schülerseitige Assoziationskraft ins Spiel gebracht [15/2 (2015), 157-162].

 

  1. SATZ- UND TEXTERSCHLIESSUNG

 

Der Weg zu einem tiefergehenden Verständnis auch anspruchsvoller Texte führt über durchaus unterschiedliche Erschließungsmethoden sowohl am einzelnen Satz wie auch ganzheitlich an der umfangreicheren Passage[3], zumal entlastbar durch vorerschließende Herangehensweisen. Hier sind gleichberechtigt unterschiedliche Arten von Texten, unterschiedliche Typen von Lernenden sowie unterschiedliche Herangehensweisen von Lehrenden zu berücksichtigen und stets von Neuem in ein gedeihliches Verhältnis zueinander zu bringen. Auch das Verhältnis von Verstehen und Übersetzen[4] ist nur in einer Sphäre der Künstlichkeit voneinander zu trennen: ohne ein hinreichendes (Vor-)Verständnis auf semantischer, grammatikalischer und pragmatischer (also: interkultureller) Ebene wird man zu einer zielsprachengerechten Übersetzung, welche ja doch die eigentlich kreative Leistung (und das Alleinstellungsmerkmal des Altsprachlichen Unterrichts gegenüber demjenigen in modernen Schulfremdsprachen) darstellt, kaum gelangen; zugleich werden Vorformen einer Übertragung bereits mit der Erfassung erster kolometrischer Einheiten[5] ansetzen: auch dies auf den Einzelsatz wie auf einen Textabschnitt bezogen, und auch dies in Wechselbezug zu Lerntyp und Sprachstand. Am Ende bleibt das Ziel, unabhängig von der Methode, inhaltlich auf allen Ebenen ein gemeinsames: Texte der Literatur zu einer sich im Flusse befindlichen Lebenswelt ihrer Rezipierenden in Bezug zu stellen (quid ad me ?), mithin das <Weltwissen> der antiken Texte zu <Lebenswissen> bei den jungen Menschen zu verdichten.

 

Die im Folgenden vorgestellten und knapp umrissenen Satz- und Texterschließungsverfahren sind in der angeführten Literatur eingehend behandelt; als ‚Fallbeispiel‘ sei ihnen Ciceros Passage über die Mischverfassung rep. I 69 beigegeben, an welcher sie sich mehrheitlich – kaum freilich ganz lehrbuchgerecht – durchführen lassen. Exemplarisch sind dafür geeignete Sätze dieses (in sich geschlossenen) Kapitels gleichwohl auch hier zur Veranschaulichung der benannten Methode jeweils herangezogen, ohne dass – aus Raumgründen – die Verfahren en detail nochmals verifiziert werden sollen: sie verstehen sich als ‚Einladung‘ …

 

2.1. Grundsätzlich sind zwei Wege hin zur Erschließung des einzelnen Satzes zu unterscheiden:

 

2.1.1. Das vorwiegend analytische Verfahren

 

Dieses geht von einer Art Hierarchie der Satzteile/-glieder aus, unabhängig von der Abfolge ihres Vorkommens. Ein besonderes Gewicht kommt hierbei den Verbformen zu, namentlich den finiten, also den Prädikaten, als deren Ergänzungen die übrigen Satzglieder aufgefasst werden, an oberster Stelle dem Prädikat des Hauptsatzes. Bei der sogenannten Konstruktionsmethode wird aus dem Satzgefüge eben dieser Hauptsatz herausgenommen und von seinem Prädikat her als erste syntaktische Einheit der Satzkern ermittelt, bestehend aus Subjekt und Prädikatsgruppe. Von dieser ausgehend werden die übrigen Satzglieder, ggfs. in Wortblöcken, abgefragt. Gliedsätze, im Grunde nichts anderes als erweiterte Satzglieder des Hauptsatzes, werden nach Klärung des unterordnenden Wortes (in der Regel einer Subjunktion oder Pro-Form) entsprechend behandelt.

 

Quod ita cum sit, ex tribus primis generibus longe praestat mea sententia regium, regio autem ipsi praestabit id, quod erit aequatum et temperatum ex tribus primis rerum publicarum modis.

 

Eine allmählich sich aufbauende, inhaltliche Vorstellung von der Gesamtaussage in linearer Folge ihrer Bauteile kommt hierbei nicht zustande. Die Analysemethode, oft mit dem konstruierenden Verfahren kombiniert, greift den Satzsinn Wort(gruppe) für Wort(gruppe) mit einem Ensemble von W-Fragen ab, geht also gerade nicht vom Textangebot oder einer inneren Struktur der Satzinformationen aus. Außer Acht bleibt dabei aber, dass Letztere von der Verbvalenz regiert werden, von welcher allein her die Satzglieder erst sinnvoll abzufragen sind.

Das Lineare Dekodieren[6] folgt allen Verbalformen gemäß ihrem Vorkommen in Satz, Teilsatz oder satzwertiger Konstruktion und bringt sie in ein syntaktisches Verhältnis (Bei-/Unterordnung, Einbettung) zueinander. Die Sicht auf das Prädikat als oberstes Satzglied stellt eine Verbindung zur Dependenzgrammatik her, die Unterscheidung einer Oberflächen- von einer (eingebetteten) Tiefenstruktur zur generativen Transformationsgrammatik[7]. Der Einbezug aller Verbformen als Vorstufen und Voraussetzungen der Hauptverbalinformation führt, zusammen mit der Erfassung etwa der Konnektoren, zu einem leichteren Verständnis des Satzverlaufs; der Blick auf die Verbvalenzen ermöglicht ein frühes Klären und Zuordnen weiterer Satzglieder.

Einen eher visuellen Zugang eröffnen graphisch ausgedrückte Formen der Analyse: bei der Kästchenmethode werden Haupt- und Gliedsätze getrennt und nach dem Grad ihrer Unterordnung kästchenweise (mit dem Hauptsatz in der obersten Zeile) unter- und nebeneinander gereiht. Bei der Einrückmethode steht der Hauptsatz (meist oben) ganz links, während die Gliedsätze (darunter) nach rechts und dem Grad ihrer Unterordnung folgend ihrerseits wieder untereinander und weiter nach rechts eingerückt werden. Gliedsätze gleichen Unterordnungsgrades sowie Teile unterbrochener Haupt- oder Gliedsätze besetzen – untereinander geschrieben – die ihnen (ursprünglich) zukommende, gleiche Einrückstelle.

 

2.1.2. Das sukzessive Vorgehen

 

Dieses orientiert sich möglichst eng am natürlichen Lesevorgang, welcher auf ein Verstehen des Satzes in der Reihenfolge seiner Bauteile abzielt. Hier führt der Weg also nicht vom syntaktisch dominanten Prädikat am Satzende zu den von ihm dominierten Satzgliedern, sondern diese determinieren umgekehrt in linearem Ablauf ihrer Funktionen das zunehmend vorherseh- und erwartbare Schlüsselwort der Aussage (Lohmann 1968):

 

hoc in hac iuncta moderateque permixta constitutione rei publicae non ferme sine magnis principum vitiis evenit. Non est enim causa conversionis, ubi in suo quisque est gradu firmiter collocatus et non subest, quo praecipitet ac decidat.

 

Auch das Aufgliedern und Übersetzen in Wortgruppen bzw. kolometrischer Anordnung (vgl. o. Analyse), beispielsweise Nomina und ihre Attribute, adverbiale Bestimmungen samt Erweiterung, Partizipial- oder nd-Gruppen, steht einer sukzessiven Aufnahme des Funktionszusammenhanges im Satz nicht grundsätzlich im Wege:

 

haec constitutio primum habet aequabilitatem quandam magnam, qua carere diutius vix possunt liberi, deinde firmitudinem, quod et illa prima facile in contraria vitia convertuntur, ut exsistat ex rege dominus …

 

Die Dreischritt- oder Pendelmethode verbindet lineares Vorgehen mit einem analytischen Ansatz: auf die Bestimmung des ersten (ggfs. mehrteiligen) Satzgliedes folgt das Hinüberpendeln zum Prädikat, welches auch im Hauptsatz der deutschen Übersetzung die zweite Stelle einnimmt. Darauf wird zum Beginn des Satzes zurück gependelt, und es folgen die übrigen Satzglieder in der im Deutschen richtigen Reihenfolge:

 

hoc in hac iuncta moderateque permixta constitutione rei publicae non ferme sine magnis principum vitiis evenit.

 

Denkbar wäre hier auch ein Ansteuern der weiteren Bauteile des Satzes, wie sie notwendig von der Valenz des Prädikates gefordert werden.

 

2.2. Die Arbeit an einer Textpassage als Ganzer

 

Diese sollte durch vorerschließende Schritte[8] entlastet werden, welche sowohl Informationen aus der Textumgebung sammeln, etwa Überschrift(en) und Abbildung(en), Realienkundliches (s.u. Textpragmatik), als auch solche aus dem Text selbst zu gewinnen suchen, also handelnde (oder sprechende – angesprochene) Personen, aussagekräftige Orte, Schlüsselwörter (samt möglichen Sachfeldern), Gliederung und sachlogische Abfolge durch verbindende / ordnende Wörter (Konnektorenanalyse) oder wechselnde Tempora. Textsorten (Bericht, Rede und Dialog, Beschreibung, Brief) bauen unterschiedliche Erwartungshaltungen an ihren Inhalt auf.

Das Lineare Dekodieren kann am einzelnen Satzgefüge (s.o.) wie auch an einer Reihe von mehreren Sätzen vorgenommen werden, verbindet also satz- und textbezogene Erschließungsverfahren. Dabei erfasst die Grobdekodierung alle Verbalinformationen als solche, über- wie untergeordnete (Konnektoren) oder eingebettete (von anderen abhängige) Verbformen – und damit die Satzstruktur – sowie erste nominale, mit Konnektoren oder Verbformen unmittelbar zusammenhängende Satzglieder. Die Feindekodierung bestimmt – in fließendem Übergang – und weist die weiteren Satzglieder von den Verbvalenzen her zu.

 

Quod ita cum sit, ex tribus primis generibus longe praestat mea sententia regium, regio autem ipsi praestabit id, quod erit aequatum et temperatum ex tribus primis rerum publicarum modis. placet enim esse quiddam in re publica praestans et regale, esse aliud auctoritati principum impartitum ac tributum, esse quasdam res servatas iudicio voluntatique multitudinis.

 

Maßgeblich unterstützt und begleitet wird dieses Verfahren durch ergänzende Beobachtungen: ein Tempusrelief gliedert die Erzählung in Hinter- und Vordergrundhandlung (Situation – Reaktion – Ergebnis). Die Thema-Rhema-Gliederung bezieht sich auf das informelle Verhältnis zweier oder mehrerer Sätze zueinander, benennt, was aus dem vorangehenden Satz übernommen, woran angeknüpft wird (Ausgangspunkt – Thema), und was als Neues hinzukommt (Fortschritt – Rhema), gibt mithin Aufschluss über die inhaltliche Struktur und den gedanklichen Ablauf eines Textes[9]. Stilmittel, auffällige Wortwahl und ungewöhnliche Wortstellung deuten vorab auf bestimmte Aussageabsichten von Autor oder Sprecher, stellen besondere Bezüge her oder zielen auf eine allgemeine Steigerung der Aussagewirkung. Weitergehende Überlegungen zur Pragmatik (soziale, politische, literarische Umstände, s.o. Realien) der Textproduktion münden von selbst in eine Kontrastierung zur Lebenswelt der Rezipierenden. Schließlich ist auch die Interpretation[10] auf der Grundlage einer angemessenen muttersprachlichen Übersetzung (Rekodierung) durchweg eine ganzheitliche Behandlung einer Textpartie.

 

  1. ÜBERLEGUNGEN ZUM LEKTÜREKANON

 

Mit diesen methodischen Erwägungen einher geht die inhaltliche Erfordernis durchgängiger Überprüfung und Reflexion des Angebots an Lektüre(n), mit welchem die Lebenswirklichkeit der Schüler angesprochen werden kann. Vier Vorschläge sollen als Ergänzung und / oder Alternative zu herkömmlichen Lektüregängen unterbreitet werden, ohne allerdings damit nun gleich in konkrete Lehrpläne einzelner Bundesländer eingreifen zu wollen: vorstellbar wäre jedenfalls eine Einordnung, welche das Thema Migration I (Mundus Novus) noch der späteren Mittelstufe überlässt und mit der Lebenswelt des Mittelalters (Carmina Burana) in die Oberstufe ‚einsteigt‘. Staats- und Gesellschaftstheorie ist und bleibt ein klassisches Thema in der Hochphase, während man Migration II (Vergils Aeneis und Ovids Tristien) wohl eher zum Ende der Oberstufe hin ansiedeln dürfte.

 

3.1. Migration (I): Neue Herren in fremden Ländern – lateinische Texte zur Eroberung der Neuen Welt

 

Mundus Novus – die Entdeckung neuer Welt(en): nachdem der Genuese Christoph Kolumbus für Königin Isabella von Spanien seit 1492 die Karibischen Inseln sowie die Küsten Mittel- und des nördlichen Südamerika angesteuert hatte, kehrt 1499 Vasco da Gama aus dem vorderindischen Calicut nach Portugal zurück, hat Südafrika und das Kap der Guten Hoffnung umrundet und damit tatsächlich den Seeweg nach Indien entdeckt[11]. Bereits 1497 hatte der Italiener in Diensten Heinrichs VII. von England Giovanni Caboto im Norden die Ostküste Kanadas (Neufundland) wiederentdeckt – um 1000 war erstmals der Norweger Leif Eriksson, Sohn Eriks des Roten, von Grönland nach Labrador und Nova Scotia abgedriftet.

1500 segelt Pedro Alvares Cabral entlang der Westküste Afrikas zunächst in südlicher Richtung, weicht indes den Windverhältnissen im Golf von Guinea nach Südwesten aus und sichert Portugal die Ostküste Brasiliens – auch er nicht ohne prominenten Vorläufer: Hanno von Karthago hatte um 500 v. Chr. an dieser Stelle vor dem Gabun/Kamerun seine Entdeckungsreise über die Straße von Gibraltar hinaus abbrechen und in der Bucht ‚Horn des Südwindes‘ umkehren müssen, weil man zur damaligen Zeit noch nicht gegen den Wind segeln konnte.

Der gebürtige Florentiner Amerigo Vespucci, im spanischen Sevilla Leiter der von Lorenzo de Medici gegründeten Handelsniederlassung, nahm zwischen 1497 und 1504 an vier Entdeckungsreisen nach Mittel- und Südamerika teil, die beiden letzten im Auftrag des portugiesischen Königs Emanuel I.; auf seiner dritten und wichtigsten betritt er 1502 die brasilianische Küste und berichtet in einem (italienisch abgefassten) Brief an den Herrn seines Bankhauses über das neuentdeckte Land.

Eine lateinische Fassung dieses Briefes taucht im Jahre 1503 zur gleichen Zeit in verschiedenen europäischen Städten unter dem Titel Mundus Novus auf[12]: am 14. Mai 1501 sticht Vespucci von Lissabon aus mit drei Schiffen nach Süden in See. Vorbei an den Kanaren und der nordafrikanischen Küste legen sie bei Cap Verde im Westen des Senegal und Gambias an der Küste Schwarzafrikas an, um von dort aus in südwestlicher Richtung den Atlantik zu überqueren und nach zwei Monaten an der Nordküste Brasiliens südlich der Amazonasmündung zu landen. Man fährt zunächst östlich, sodann um das heutige Recife herum weiter nach Süden und beschließt, die Landstriche zu erkunden: überall kommt es zu gastlichem Empfang und freundschaftlichem Umgang mit den Einheimischen, und diese schwanken in der Schilderung Vespuccis zwischen – zunächst durchaus positiv gesehenen – Naturkindern, sodann freilich monstra und bestiis similes

 

[Mundus Novus – Z. 90-177 quoad gentes …]

 

(123) Non habent pannos neque laneos neque lineos neque bombicinos, quia nec eis indigent; nec habent bona propria, sed omnia communia sunt; vivunt simul sine rege, sine imperio. Et unusquisque sibi ipsi dominus est. Tot uxores ducunt, quot volunt. Et filius coit cum matre et frater cum sorore; et primus cum prima; et obvius cum sibi obvia. Quotiens volunt, matrimonia dirimunt; et in his nullum servant ordinem. Praeterea nullum habent templum et nullam tenent legem, neque sunt idolatrae. Quid ultra dicam? Vivunt secundum naturam et Epicurei potius dici possunt quam Stoici. (129)

Non sunt inter eos mercatores neque commercia rerum. Populi inter se bella gerunt sine arte, sine ordine. […] Eorum arma sunt arcus et sagittae; et quando properant ad bella, nullam sui tutandi gratia corporis partem operiunt: adeo sunt et in hoc bestiis similes. (142)

 

Die Berichte über die Ankunft der Abgesandten aus der Alten in der neu entdeckten Welt, über die dort angetroffenen Kulturen und Gesellschaften führen seit der ersten Begegnung der Spanier mit den Eingeborenen auf Haiti im Oktober 1492 (® Petrus Martyr 1516) alsbald zu einem regen Streit um Behandlung und Wertschätzung der indigenen Völker und über Fragen wie: „Dürfen Indianer mit Gewalt bekehrt werden oder sollten Christen als Vorbild dienen ?“ (Franciscus de Victoria 1539), über die Sklavennatur der Azteken und ihre Kultur (J.G. de Sepúlveda 1545) sowie die Gegenthese, dass man von den Eingeborenen durchaus lernen könne (B. de Las Casas 1550)[13]. In diesen eingebettet ist die entschiedene und auf die oben skizzierte Betrachtungsweise der Indios zurückgehende Disputation vor Kaiser Karl V. zwischen dem spanischen Hofchronisten Juan Ginés de Sepúlveda und dem Dominikanermönch (und späteren Bischof von Guatemala) Bartolomé de Las Casas im Jahre 1550 über den Umgang mit den „barbarischen“ (?) Indianervölkern[14].

Auf der Grundlage von Vespuccis Beschreibung stehen vier Thesen von Sepúlvedas Apologia pro libro de iusti belli causis: deren erster, dass eine Unterwerfung der Barbaren auch mit Gewalt in Folge der kulturellen und zivilisatorischen Überlegenheit der Christen vom Naturrecht als bellum iustum abgedeckt sei, entgegnet de las Casas:

 

[Apologia – Z. 22-69 Indorum gens non est tali barbarie barbara]

 

Indorum gens non est tali barbarie barbara. Non enim stupidi, immanes vel efferi sunt, sed res publicas – etiam longe antequam Hispanicum nomen audissent – recte institutas habebant, nimirum optimis legibus, religione et institutis sobrie compositas. Amicitiam colebant et in societatem vitae coniuncti longe maximas incolebant civitates, ubi tam pacis quam belli negotia prudenter ex bono et aequo administrabant, nimirum gubernati legibus, quae plurimis in rebus nostras superant et Athenarum sapientibus admirationi esse possent. (35) […]

Artium liberalium, in quibus eruditi hactenus fuere, veluti grammaticae et logicae, insigniter periti sunt; omni genere musices admirabili dulcedine audientium aures deleniunt. Scribunt scite et politissime adeo, ut plerumque dubitetur, an manu descripti an vero typis excusi characteres sint. (49) […]

 

Abgerundet werden sollte dieser Lektürekreis aber durch einen Blick in die ganz entgegengesetzte geographische Richtung – statt in die Neue Welt nach Westen in das uns noch enger verbundene Morgenland. Dort hatten die osmanischen Türken 1453 das christliche Konstantinopel erobert; 1529 fallen Buda und Pest, Sultan Süleyman besetzt einen Großteil Ungarns und steht vor den Toren Wiens. Auch wenn dieses nicht eingenommen werden kann, sieht sich der Habsburger Ferdinand, Bruder Karls V., den Türken eher hilflos gegenüber. Auf diplomatischem Wege soll zumindest Zeit gewonnen werden … Dies ist die Mission des jungen Ogier Ghislain de Busbecq aus dem flandrischen Lille seit Anfang 1555 bis 1562 an der Hohen Pforte zu Istanbul[15]: seine ethnographischen „Briefe aus der Türkei“ (fiktiv und nach der Rückkehr 1581 abgefasst) sind Ausdruck einer vorurteilsfreien, von Toleranz geprägten Sicht auf das Fremde, das Andere, auf Menschen und Völker (auch der umgebenden: Georgier, Tataren, von der Krim und dem Balkan), ihre Kultur, auf Fauna und Flora – und dies vor dem Hintergrund voreingenommener und verfälschender, erfahrungsgesteuerter, aber mitunter auch bloß hasserfüllter Türkeiberichte früherer Zeitgenossen (Pilger, Kaufleute, Soldaten). 1529 hatte Luther seine „Heerpredigt wider den Türcken“ geschrieben. Busbecqs humanistische Interessen lassen ihn allen Spuren in der an griechischen und römischen Antica reichen Region nachgehen, und so entdeckt er auf der Durchreise an einer Hauswand in Ankara den (zweisprachigen) Tatenbericht des Augustus, das danach benannte Monumentum Ancyranum, und lässt eine Abschrift erstellen.

Die Begegnung zunächst fremder Kulturen, der Blick auf Herrscher und Würdenträger, die Stellung der Frau in der osmanischen Gesellschaft, Kleiderordnung auf beiden Seiten, der Umgang mit Andersgläubigen und die Rolle der Vorsehung, Infrastruktur und Militärwesen, Botanik und Tierhaltung – all dies Stichworte auch der gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskussion um Miteinander oder Nebeneinander, Integration oder Parallelwelten, Toleranz oder Abgrenzung gegenüber der größten anders geprägten Bevölkerungsgruppe in Deutschland. Und nicht zuletzt vor einem immer weiteren Horizont von Zuwanderung in die Gemeinwesen der Alten Welt zeigt die in diesen Texten der frühen Neuzeit – durchaus nach antiken Vorbildern – angestoßene Debatte eine besondere Aktualität und bettet sich eindringlich in das reale Leben der Schülerinnen und Schüler unserer Tage.

Beispielhaft für diese wechselseitige Akzeptanz ist Busbecqs Schilderung, wie der Pascha von Konstantinopel (Rüstem = Rustanus) versucht, seinen Gast zur Übernahme des islamischen Glaubens zu bewegen, und mit welcher geradezu Weltoffenheit er reagiert, als dieser freundlich, aber bestimmt ablehnt:

 

[S. 20 in der Textausgabe von Behrens (1998)]

 

Rustanus, cum de communibus negotiis mecum egisset, coepit familiarius se mihi dare atque eo postremo evasit, ut me interrogaret, cur non religioni eorum initiarer et veri Dei cultūs particeps fierem. Si faciam, mihi magnos honores et magna praemia a Suleimanno paratum iri (≈ parari [promisit]).

Respondeo, mihi certum esse manere in ea religione, in qua natus essem et quam dominus (= der Kaiser) meus profiteretur. „Pulchre“, inquit Rustanus, „sed tamen quid fiet de anima tua ?“

„Et de anima“, inquam, „bene spero.“

Tum ille, cum paulum cogitavisset: „Ita est profecto“, inquit. „Neque ego ab hac sententia absum illos aeternae beatitudinis participes fore, qui sancte innocenterque hanc vitam egerint, quamcumque religionem secuti sint.“

 

3.2. Die Lebenswelt des Mittelalters: – Auswahl aus den Carmina Burana

 

Unter dem Titel Carmina Burana versammeln sich die Vagantenlieder (mittel)lateinischer (und einige auch mittelhochdeutscher) Sprache einer 1803 im bayrischen Kloster Benediktbeuren gefundenen Handschrift aus dem 13. Jh. Wenngleich weltliche Lyrik, dürfte der Auftraggeber ein geistlicher Fürst aus dem gebildeten höfischen Klerus gewesen sein. Eine Auswahl wurde 1937 von Carl Orff als Carmina burana – cantiones profanae vertont und in Szene gesetzt.

Sie teilen sich thematisch in drei Bereiche[16]: die erste Gruppe moralisch-satirische Dichtungen, Liebeslyrik die andere in der Nachfolge eines Ovid (und abweichend von den Formen mittelalterlicher Minne), Trink- und Spielerlieder (sowie geistliche Dramen) die dritte. Das Selbstverständnis der Sänger als vagabundi und scholares schien ‚dem ersten Blick‘ auf deren eher niedrigen sozialen Status hinzuweisen, doch gingen sie aus dem bildungsbeflissenen Wanderstudententum des Hochmittelalters Richtung Frankreich und Italien hervor und bekleideten im späteren realen Leben an Hof wie Kirche offenkundig durchaus prominente Stellungen.

So entstammte auch der nicht weiter greifbare Archipoeta[17] einer deutschen (?) Ritterfamilie Mitte des 12. Jh. Student der Theologie und Philosophie, war er sodann als vates und poeta Schützling des Erzbischofs von Köln und (1157-67) Kanzlers Kaiser Friedrichs I. Barbarossa (1152-90), Reinald von Dassel, den er in seinen (außerhalb der CB überlieferten) Gedichten immer wieder um seinen Lebensunterhalt angeht (Archicancellarie, vir discrete mentiscarm. IV et passim). Die unter seinem Künstlernamen geführten (864) Verse zeigen Vertrautheit mit antiker und mittelalterlicher Literatur, seine Vagantenbeichte (CB 191) preist das diesseitige Leben mit seinen Lastern im Dienste der Venus (Str. 4-9), beim Würfelspiel (10) und in der Taverne (11/12), bis der Engel Chor um ewige Ruhe und Gnade für ihn singen wird. Des Weines Becher läßt ihn zu lichter Höhe steigen (13, 16/17) und, anders als seine nüchternen und lichtscheuen (14/15) Kollegen, des Wirtes Faß den von Apoll beseelten selbst Ovid im Sängerstreit besiegen (16-19). In je vier Vagantenzeilen gefasste (25) Strophen bilden die planvolle Gesamtkomposition dieser ‚Beichten-Parodie‘, welche unser Erzpoet wohl in Pavia (8,2; 9,1) vor seinem Gönner ‚ablegt‘:

 

[Vagantenbeichte (CB 191), Strophen 1-5 sowie 12 (= Orff, In Extremo)]

Estuans intrinsecus                 ira vehementi

in amaritudine loquar              mee menti:

factus de materia                      levis elementi 

folio sum similis                       de quo ludunt venti.

 

Cum sit enim proprium                       viro sapienti

supra petram ponere                sedem fundamenti,

stultus ego comparor               fluvio labenti 

sub eodem aere             numquam permanenti.

 

Feror ego veluti                        sine nauta navis,

ut per vias aeris                        vaga fertur avis.

non me tenent vincula,                        non me tenet clavis, 

quero mei similes                      et adiungor pravis.

 

Mihi cordis gravitas                 res videtur gravis,

iocus est amabilis                     dulciorque favis;

quicquid Venus imperat,                     labor est suavis; 

que numquam in cordibus                   habitat ignavis.

 

Via lata gradior                        more iuventutis,

implico me vitiis                       immemor virtutis,

voluptatis avidus                     magis quam salutis, 

mortuus in anima                    curam gero cutis.

 

Meum est propositum             in taberna mori,

ut sint vina proxima                morientis ori.

tunc cantabunt letius              angelorum chori:

„Sit deus propitius                   huic potatori.“

 

Dieses Carmen hat auch Carl Orff unter seine Vertonungen aufgenommen: es leitet dort mit seiner ersten Halbzeile Estuans interius und den Strophen 1-5 die vierteilige Folge In taberna ein. Eine zeitgenössische, textlich freie Adaptation der Strophen 1, 3 und 12 legt 2001 die Mittelalter-Rock-Gruppe ‚In Extremo‘ vor: Schäume nur, mein wildes Herz (– zeigt der Sinn …, auf dem Album Sünder ohne Zügel)[18].

Das Bittgedicht (CB 220, in vier Vagantenstrophen) an die viri litterati, die Musenfreunde (v. 2), wird das Bild unseres unverschuldet (v. 8) armen, aber aufrichtigen scolaris in der Nachfolge Vergils (v. 12) abrunden, welcher doch bloß seine Dichterexistenz leben möchte, da er zum Landmann so wenig tauge wie zum Soldaten – und (v. 15 f.) zum Betrüger oder gar Dieb nicht werden (müssen) will …:

 

[Bittgedicht (CB 220) Saepe de miseria …]

 

S(a)epe de miseria                   me(a)e paupertatis

conqueror in carmine             viris litteratis;

laïci non capiunt                    ea, qu(a)e sunt vatis,

et nil mi(c)hi tribuunt,                       quod est notum satis.

 

Poeta pauperior                      omnibus poetis

ni(c)hil prorsus habeo             nisi quod videtis,

unde s(a)epe lugeo,                 quando vos ridetis;

nec me meo vitio                     pauperem putetis.

 

Fodere non debeo,                   quia sum scolaris

ortus ex militibus                   pr(o)eliandi gnaris;

sed quia me terruit                 labor militaris,

malui Virgilium                     sequi quam te, Paris.

 

Mendicare pudor est,             mendicare nolo;

fures multa possident,                        sed non absque dolo.

Quid ergo iam faciam,                        qui nec agros colo

nec mendicus fieri                  nec fur esse volo ?

 

Als nicht ganz ernst gemeinte Zusatzlektüre zum Abschluß zeigt sich denudata veritate der vergnügliche Disput zwischen Wein und Wasser (CB 193 succinctaque brevitate [!], in 29 sechszeiligen Stabat-mater-Strophen) eines gewissen Petrus über den soziokulturellen Beitrag des Einen wie des Anderen zu einem gepflegten Menschsein … kurz: das Wasser wird zum Schweigen gebracht und trollt sich unter Tränen, der große terminator droht dem mit Fluch, welcher Beide mischt (miscens execretur). Das tut vielmehr Hugo Primas von Orléans (12. Jh.) in den Distichen des darauffolgenden Epigramms[19], um es aber sogleich und mit der Autorität des Herrn an der Hochzeit zu Kana (Joh. 2, 1-11) wieder zu verwerfen.

 

3.3. Staats- und Gesellschaftstheorie: – Polybios und Cicero über den Kreislauf der Verfassungen und die Mischverfassung als die beste Staatsform

 

Ein Grundlagentext jeder politischen Debatte ist zweifellos Ciceros De re publica, und hier vor Allem das erste Buch, mit welchem die staatstheoretische Diskussion des Hellenismus, namentlich im Peripatos, zusammengefasst wird. Das Werk[20] stellt sich mit seinem Titel in die Nachfolge von Platons Politeia (ebenso wie seine gleichsam praktische Nachfolgeschrift de legibus zu dessen Nomoi); eine Antwort aus christlicher Sicht gibt der Kirchenvater Augustinus in seiner Civitas Dei. Schon der Apologet Laktanz setzt sich in B. 5 und 6 seiner Divinae institutiones (304 ff.) mit Ciceros Schrift auseinander. Weitergeführt werden die staatstheoretischen Entwürfe durch Thomas Morus‘ Utopia (1516), Thomas Hobbbes‘ Leviathan (1651) oder John Lockes (zweiten der) Two treatises of government (1690), aber auch in Charles de Montesquieus Prinzip der Gewaltenteilung De l’esprit des lois (1748), J.J. Rousseaus Contrat social (1762) sowie den Rechtsphilosophien Immanuel Kants (1785 ff.) und G.F.W. Hegels von 1820.

Kerngedanken des ersten Buchs sind der Kreislauf der wechselnden Verfassungen und die Mischverfassung als die beste Staatsform, verwirklicht im besten empirisch existenten Gemeinwesen – Rom: dies jedenfalls die Überzeugung des griechischen Historikers Polybios (um 200 bis nach 120 v. Chr.), kriegsgefangener Offizier aus dem Achäischen Bund und in Rom sodann Mitglied des legendären ‚Scipionenkreises‘[21] um den jüngeren Africanus (185-129); dessen Gespräch an den Feriae Latinae des Jahres 129 mit Freunden (Laelius, L. Furius Philus, Manilius u.a.) will den Brüdern Cicerones durch den letzten noch lebenden Teilnehmer P. Rutilius Rufus 78 v. Chr. im kleinasiatischen Smyrna übermittelt worden sein (rep. I 13). Tatsächlich ist der Dialog zwischen 54 und 51 entstanden.

Der Gedanke der Mischverfassung, welche Elemente der drei ‚klassischen‘ Staatswesen Monarchie, Aristokratie und Demokratie (Aristoteles, Politiká 1279 a 22 ff.) in sich vereint[22], um ihre (gleichfalls drei) Entartungsformen zu vermeiden, wird auf Dikaiarchos, Aristoteles-Schüler und praktischer Politiker seiner Heimatstadt Messene (* vor 340 v. Chr.), zurückgeführt. Polybios entwickelt ihn zusammen mit der Auffassung von der Anakýklōsis[23], dem Kreislauf der Verfassungen (Arist. Pol. 1286 b 10-22), ausführlich in Buch VI seiner Historien (c. 3-9) und liefert somit die Grundlage für die entsprechenden Partien in Scipios bzw. Ciceros Verfassungsentwurf (rep. I 42-53: die Grundformen und ihre Entartungen; 65-68: der Kreislauf; 69: die gemischte Form): Verfassungen kommen und gehen, sind vorbildlich, geraten aus den Fugen und außer Kontrolle, und vor Entartung und Zerfall schützt alleine die vernunftgesteuerte Mischung aus Allen, indem sie die Vorzüge einer Jeden nutzt und ihren Schwächen keinen Raum gibt.

Wie es hingegen in einer Bürgerschaft schon bald zugehen kann, wenn etwa das Volk den ungerechten König, den Tyrannen stürzt, die Macht übernimmt, doch dann nicht über sich selbst zu herrschen vermag, beschreibt Scipio mit den drastischen Worten Platons[24] – und diese sprechen für sich …:

 

(66) „Cum inexplebiles populi fauces exaruerunt libertatis siti, malisque usus ille ministris non modice temperatam sed nimis meracam libertatem sitiens hausit, tum magistratus et principes, nisi valde lenes et remissi sint et large sibi libertatem ministrent, insequitur insimulat arguit, praepotentes reges tyrannos vocat. […] (67) eos, qui pareant principibus, agitari ab eo populo et servos voluntarios appellari; eos autem, qui in magistratu privatorum similes esse velint, eosque privatos, qui efficiant, ne quid inter privatum et magistratum differat, efferunt laudibus et mactant honoribus, ut necesse sit in eius modi re publica plena libertatis esse omnia“.

 

Der Durst nach Freiheit macht empfänglich für einen allzu reinen, nicht maßvoll gemischten Trunk, von schlechten Mundschenken gereicht, und lässt das Volk jede Art von staatlicher Autorität (principes) sogleich wieder als Tyrannis, Gehorsam indes und Trennung von Amt und Person als freiwillige Knechtschaft beklagen, Laissez-faire zum Maß aller Dinge erklären. Und der Beschreibung dieser neuen Gesellschaft muss eine – soziologisch korrekt bereinigte – Wertung nicht eigens angefügt werden:

 

„ … ut et privata domus omnis vacet dominatione et hoc malum usque ad bestias perveniat, denique ut pater filium metuat, filius patrem neclegat, absit omnis pudor, ut plane liberi sint, nihil intersit civis an peregrinus, magister ut discipulos metuat et iis blandiatur, spernantque discipuli magistros, adulescentes ut senum sibi pondus adsumant, senes autem ad ludum adulescentium descendant, ne sint iis odiosi et graves; ex quo fit ut etiam servi se liberius gerant, uxores eodem iure sint quo viri, inque tanta libertate canes etiam et equi, aselli denique libere sic incurrant, ut iis de via decedendum sit. ergo ex hac infinita licentia haec summa cogitur, ut ita fastidiosae mollesque mentes evadant civium, ut si minima vis adhibeatur imperii, irascantur et perferre nequeant; ex quo leges quoque incipiunt neclegere, ut plane sine ullo domino sint [– recht frei nach Politeía 562 c 8 – 563 e 1).

 

Am Ende steht die Einebnung aller vernunftgegebenen Unterschiede, Anbiederung und Verhöhnung jeglichen Ansehens, Unfähigkeit zu Loyalität gegenüber einer Staatsgewalt (imperium) und ihren Gesetzen, ist aus der radikalen Freiheit (nimis meraca libertas) eine ins Lächerliche übersteigerte Schrankenlosigkeit (infinita licentia) geworden, welcher jede gesellschaftliche Struktur abhanden gekommen ist.

 

3.4. Migration (II): Flüchtlinge aus Kleinasien im Abendland

 

Die Konstellation der Geschichte mutet sonderbar vertraut an: eine blühende Metropole wird – aus einer politisch gewollten Kombination vorgeschobener und wahrer Gründe – zerstört, geplündert, niedergebrannt, ihre männlichen Einwohner massakriert, die weiblichen einer ihrer nicht gemäßen Bestimmung zugeführt; einer kleinen Schar begünstigter Überlebender gelingt auf abenteuerliche Weise die Flucht auf eine ‚Reise‘ ins Ungewisse … soweit aus dem Epischen Kyklos wohlbekannt; die Irrfahrten erstrecken sich über ein Meer, welches seinerzeit die Oikūménē Gḗ miteinander verband und auch in heutiger Zeit wieder zu einem Schicksalsmeer zwischen drei Kontinenten geworden ist, das mare nostrum im eigentlichen Wortsinne …

Wir reden von Aeneas und seinen troianischen Schicksalsgenossinnen und -genossen; in einem odysseischen Kontext treten sie nach ihrer Flucht aus dem brennenden Ilion in unseren Gesichtskreis, vor der Küste des heutigen Tunesien. Dort finden die schiffbrüchigen Flüchtlinge zum ersten Mal eine gast- und freundschaftliche Aufnahme – Dido, Königin des gerade erstehenden Karthago, mit eigenständigem Migrationshintergrund, nimmt den (durchaus nicht unbekannten) Ankömmlingen gleich zu Beginn die Furcht vor den – notwendigen – Grenzsicherungsmaßnahmen (Vergil, Aeneis I):

 

„Solvite corde metum, Teucri, secludite curas.

Res dura et regni novitas me talia cogunt

moliri, et late finis custode tueri.

Quis genus Aeneadum, quis Troiae nesciat urbem, (565)

virtutesque virosque, aut tanti incendia belli ?

Non obtusa adeo gestamus pectora Poeni,

nec tam aversus equos Tyria Sol iungit ab urbe.

Seu vos Hesperiam magnam Saturniaque arva,

sive Erycis finis regemque optatis Acesten, (570)

auxilio tutos dimittam, opibusque iuvabo.

Voltis et his mecum pariter considere regnis;

urbem quam statuo vestra est, subducite navis;

Tros Tyriusque mihi nullo discrimine agetur.

 

Erkennbare Motive der Aufnehmenden sind die Prominenz der Flüchtlinge (565 f.), Mitgefühl (567), nicht zuletzt die Aussicht auf Bündniszuwachs (572-74). Um das gemeinsame Flüchtlingsschicksal weiß Aeneas von seiner Mutter (340-68), Dido lässt es anklingen (628-30). Die Liebe der infelix (749) zum rex ipse kommt – tragisch und gesteuert allerdings von außen – in der Folge hinzu … Doch die Aufgenommenen ziehen weiter – nicht, weil sie in Karthago nicht bleiben wollten, es ihnen dort (gefühlt oder tatsächlich) nicht gut genug erginge, sondern weil sie ihrem Anführer an einen anderen Ort folgen müssen – die fata

Nach einem dramatischen Abschied aus Karthago (Aen. IV), welcher Grundlage für eine kommende Erbfeindschaft sein wird, segeln die Migranten von ihrem sicheren Erstaufnahmeland in Nordafrika aus Richtung Italien, welches sie über einen Zwischenstopp in Sizilien (V) – auch dort vom heimischen, troiastämmigen (61) Regenten willkommen geheißen – ungefährdet erreichen. Am Strand von Cumae gelandet, muss ihr Anführer wie weiland Odysseus[25] zunächst der Unterwelt (VI) einen Orientierungsbesuch abstatten, bevor (VII) zeichengestützt (116-29) Latium als Ort dauerhafter Ansiedlung feststeht. Und auch dort wendet sich der ortsansässige König Latinus gastfreundlich und verständnisvoll (199 f.) den hilfesuchenden und vom Hörensagen angekündigten (195 f.) Neuankömmlingen aus einem fernen Land (198) zu – einer der Gründerväter Troias war von eben hier (206 f.) zu seiner Wanderung ins kleinasiatische Phrygien aufgebrochen:

 

„dicite, Dardanidae (neque enim nescimus et urbem (195)

et genus, auditique advertitis aequore cursum),

quid petitis? quae causa rates aut cuius egentis

litus ad Ausonium tot per vada caerula vexit ?

sive errore viae seu tempestatibus acti,

qualia multa mari nautae patiuntur in alto, (200)

fluminis intrastis ripas portuque sedetis,

ne fugite hospitium, neve ignorate Latinos

Saturni gentem haud vinclo nec legibus aequam,

sponte sua veterisque dei se more tenentem.

atque equidem memini (fama est obscurior annis) (205)

Auruncos ita ferre senes, his ortus ut agris

Dardanus Idaeas Phrygiae penetrarit ad urbes

Threiciamque Samum, quae nunc Samothracia fertur.“

 

Und es ist eigener Antrieb, welcher die Latiner die Fremdlinge aufnehmen lässt, noch nicht einmal gesetzlich geregeltes Gastrecht, sondern alter Götterbrauch (203 f.) – auf welchen auch Odysseus sich beruft, und welchen der Kyklop Polyphem lauthals missachtet (Homer, Od. IX 266-78). Überhaupt ist dieser homerische Irrfahrer (zusammen mit seinen Gefährten) eine Dauerexistenz als Fremdling und Flüchtling: bei den Phaiaken gestrandet, wird er (Od. VI) von der Königstochter Nausikaa selbstverständlich (191-93) und mit Verweis auf Zeus (206-10) erstversorgt – und nach gestalterischem Eingriff Athenes gar als Ehemann erwünscht (244 f.) –, sodann von Kronrat (VII 159-66) und Königspaar (179 ff.) willkommen geheißen. Endlich in der Heimat gelandet, ist es der göttliche Schweinehirt Eumaios, welcher dem zunächst Unbekannten Zuflucht und Obdach gewährt (Od. XIV 45 ff.), auch er nicht ohne Zeus als Gewährsmann (56-58). Die Stationen bei Kirke auf der ostwärts gelegenen Märcheninsel Aiaia im zehnten (308 ff.) und bei Kalypso auf der westlichen Ogygia im fünften Buch (dazu VII 244-66) der Odyssee sind von anderer, speziellerer Situation, überspannen freilich das gesamte Mittelmeer – und darüber hinaus … am Ende werden – und sollen humoris causā der Abrundung dieser von Epos zu Tragödie zu Komödie mehr als schillernden Figur halber auch hier nicht vorenthalten werden – aus Flüchtlingen gar Abenteurer: in der Divina Commedía des Florentiners Dante Alighieri (1265-1321) schildert der im Inferno für seine Listen vor Troia büßende Odysseus dem Dichter und seinem Cicerone Vergil (XXVI 91-142) ihre letzte Fahrt jenseits der Säulen, welche Herakles den Menschen als Grenze gesetzt hatte (109 f.)[26]:

 

(85) […] „Nachdem ich mich getrennt hatte von Kirke, die länger als ein Jahr mich an sich zog dort bei Gaeta, bevor Aeneas der Stadt diesen Namen gab, da konnten weder die Süßigkeit meines kleinen Sohns noch die Pietät für den alten Vater, noch die Liebe, die ich, sie heiter zu machen, Penelope schuldete, die Glut besiegen, die in mir war, die Welt zu erfahren, Menschenwert und Menschenunwert. Sondern ich segelte hinaus aufs hohe offene Meer mit einem einzigen Boot und mit der kleinen Schar, die mich nie im Stich ließ. Beide Ufer sah ich, bis hin nach Spanien, bis hin nach Marokko, und die Insel der Sarden und die anderen, die dieses Meer rings umspült. [d.h.: es entfallen alle Abenteuer, die in der homerischen Odyssee nach dem 10. Gesang erzählt werden, dazu die dramaturgisch vorangestellten Ogygia- und Phaiaken-Episoden].

(106) Ich und die Gefährten, wir waren alt geworden und zögernd, als wir zu dem engen Durchlass kamen, wo Herkules seine Warnung gesetzt hat, dass der Mensch nicht weitergehe [= Meerenge von Gibraltar]. Rechts ließ ich Sevilla liegen, links hatte ich Ceuta gelassen.

(112) ‚O Brüder‘, sagte ich, ‚nun seid ihr durch hunderttausend Gefahren zum Westen gelangt, verweigert doch nicht der, ach, so kurzen Nachtwache unserer Sinne, die uns noch bleibt, die Erfahrung der Rückseite der Sonne, der Welt ohne Menschen. Schaut auf euern Ursprung: Ihr seid nicht geschaffen, zu leben wie die Tiere, sondern für richtige Tat und Erkenntnis.‘

(121) Mit dieser kleinen Rede machte ich meine Gefährten so begierig auf die Fahrt, dass ich sie hätte kaum noch zurückhalten können. Wir kehrten unser Heck gen Osten, machten aus unseren Rudern Flügel zum irr-gewagten Flug und kamen zur linken Hand hin immer weiter voran. Schon sah ich des Nachts alle Sterne des anderen Pols [also des Südpols], und unsrer lag so tief, dass er sich über die Meeresfläche nicht mehr erhob.

(130) Das Mondlicht war fünfmal neu aufgegangen und erloschen, seit wir die hohe Fahrt begonnen, da erblickten wir einen Berg, in der Entfernung dunkel und so hoch, wie ich noch keinen gesehen hatte. Wir freuten uns, doch bald kam der Jammer, denn von dem neuen Land her brach ein Wirbelsturm los und traf vom Schiff den Bug. Dreimal wirbelte er es herum mit dem Strudel. Beim vierten Mal hob er das Heck und versenkte den Bug, wie Einer es wollte. Bis das Meer sich über uns schloß.“

 

Der Epische Kyklos hält zwei weitere Versionen vom Ende des Rastlosen bereit, welche allerdings das Odyssee-Geschehen erst geschehen lassen, bevor sie dessen noch ‚offene Enden‘ (Kirke, Telégonos und Telemach) zusammenführen (die Thesprotis behält eher regionalen Charakter). Waren es bei Dante Tatkraft und Entdeckungslust, so lässt auch bei seinem Landsmann Nikos Kazantzakis, welcher die Odissia (1938) forterzählt, unbändiger Freiheitsdrang dem von der vorgefundenen Enge seiner wiedergewonnenen Heimat Enttäuschten keine Ruhe. Jean Giono, Naissance de l‘Odyssée (1930) und Walter Jens, Das Testament des Odysseus (1957) heben die Geschichte des Heimkehrers auf eine sublimere Ebene – und von unserer Thematik endgültig weg …

 

Wie sehr erzwungener Heimatverlust[27] den Vertriebenen, den Flüchtling, den ‚Ausländer‘ leiden lassen kann, hat in der Antike kaum Jemand eindringlicher beschrieben als der tenerorum lusor amorum, der römische Stadtdichter Ovid in seinen Tristien. In der X. Elegie des vierten Buches beklagt er – autobiographisch und durchaus subtil, daher aber auch wenig konkret – eine angeordnete (90), in allen Zumutungen (102 ff.) standhaft ertragene Flucht aus Italien und sein trauriges Exilantendasein in der provinziellen Ferne der westlichen Schwarzmeerküste:

 

tacta mihi tandem longis erroribus acto

iuncta pharetratis Sarmatis ora Getis. (110)

hic ego, finitimis quamvis circumsoner armis,

tristia, quo possum, carmine fata levo.

quod quamvis nemo est, cuius referatur ad aures,

sic tamen absumo decipioque diem.

ergo quod vivo durisque laboribus obsto, (115)

nec me sollicitae taedia lucis habent,

gratia, Musa, tibi: nam tu solacia praebes,

tu curae requies, tu medicina venis.

tu dux et comes es, tu nos abducis ab Histro,

in medioque mihi das Helicone locum. (120)

tu mihi, quod rarum est, vivo sublime dedisti

nomen, ab exequiis quod dare fama solet.

nec, qui detrectat praesentia, Livor iniquo

ullum de nostris dente momordit opus.

nam tulerint magnos cum saecula nostra poetas, (125)

non fuit ingenio fama maligna meo,

cumque ego praeponam multos mihi, non minor illis

dicor et in toto plurimus orbe legor.

si quid habent igitur vatum praesagia veri,

protinus ut moriar, non ero, terra, tuus. (130)

 

Auch wenn hier kein Köcherträger (pharetratus) seiner Dichtung ein Ohr leiht (110-13), er reell am Unterlauf der Donau (Hister), in Tomi (97, dem heutigen Constantza in Rumänien) und nicht wie Hesiod (theog. 1-35) am Musenberge Helikon weilt (119 f.), so trösten ihn doch zu Lebzeiten (!) und unter Gleichrangigen das Ausbleiben von Neid, der Weltenruhm und die Ewigkeit (121-30), erfährt er Halt durch die Tochter Iuppiters, behauptet er sich an ihrem heiligen Hügel gegenüber dem palatinischen in Rom (115-20). Gleichwohl verweigert der prominente Relegat auf Erden nicht die Integration in der Fremde – er unterzieht sich dichterischen Übungen auch in der Sprache der einheimischen Geten, aber das lässt ihn nicht wirklich zum Landeskind werden …

 

Lebensgefühl und gesellschaftspolitische Debatte, der Umgang mit Fremdheit und Ferne, das Ringen um die neue Kultur (und Sprache) – Verfremdung oder bereichernde Ergänzung ? – , die Vertrautheit der gewohnten, weil gewachsenen Lebensumwelt und die Erfahrung ihres Verlustes, die Bemühungen ‚anzukommen‘ wie das Streben nach einem Neuanfang, ferner Einrichtung, Gestaltung, Entwicklung des sozialen Umfelds und die (Selbst-)Behauptung darin, das Finden des eigenen Lebensstandpunktes: auf der Grundlage von Kompetenzen in den Bereichen Sprache (Wortschatz und Grammatik), Text (Erschließen – Übersetzen – Interpretieren) und Kultur werden damit angesprochen im Rahmen gegenwärtiger (Allgemein-)Bildungsdebatte(n) interkulturelle Kompetenz (nach außen in der Begegnung mit dem Fremden – Mundus Novus) wie personale in Verbindung mit sozialer Kompetenz (nach innen in der Begegnung mit den Grundstrukturen des eigenen Gemeinwesens – Politeía / De re publica), das Bewusstsein um die persönliche historische Dimension in der Begegnung mit der Lebenswelt des Hochmittelalters (Carmina Burana) wie die Erkenntnis oder wenigstens doch der Blick auf die Condicio humana in der empathischen Begegnung mit dem Schicksal des Flüchtlings (Vergils Aeneas) und dem Dasein als Exilant (Ovid). Diese erweitern sich und repräsentieren in der Folge allesamt existentielle Fragestellungen antiker wie heutiger Schülerwelten – diese in unterschiedlichen literarischen Ausdrucksformen beispielhaft nachvollziehbar zu machen, ist das gemeinsame und zugleich übergeordnete Anliegen der hier vorgeschlagenen Ergänzungen des ‚klassischen‘ schulischen Lektüreangebots.

 

Universität Koblenz / PTHV Vallendar

m.p.schmude@gmx.de  

[1] Gemeinsamer Europäischer Referenzrahmen für Sprachen: lernen, lehren, beurteilen (Berlin 2001), insbes. zur „Sprachmittlung“ (Übersetzen, Dolmetschen) S. 89 f. – Vgl. auch G. Hille-Coates: Der GER und mündliche Leistungsmessung im Lateinunterricht, in: DAU 47/6 (2004), S. 16-26.

[2] H. Meusel: Wortschatzarbeit, in: W. Höhn, N. Zink: Hb. für den Lateinunterricht, Sek I (Frankfurt a.M. 1987), S. 139-60; I. Singer-Neumaier: Wortschatzarbeit im Anfangsunterricht Latein, in: MDAV-Niedersachsen 56/1 (2006), S. 24-31; Th. Wirth, Chr. Seidl, Chr. Utzinger: Sprache und Allgemeinbildung. Neue und alte Wege für den alt- und modernsprachlichen Unterricht am Gymnasium, Zürich 2006, S. 108-12, 153-62, 201-22. Einige Hefte des Altsprachlichen Unterrichts (DAU) haben die Wortschatzarbeit als Schwerpunktthema – zuletzt zuletzt DAU 42/4 (1999), 48/6 (2005). Themenhefte Englisch und Latein DAU 45/1 (2002), Latein und Romanische Sprachen DAU 48/4 (2005). S. Doff, St. Kipf: „When in Rome, do as the Romans do …“ – Plädoyer und Vorschläge für eine Kooperation der Schulfremdsprachen Englisch und Latein, in: Pegasus 7/2 (2007), S. 1-14 sowie Forum Classicum 50 (2007), S. 256-66; dies.: English meets Latin: Unterricht entwickeln – Schulfremdsprachen vernetzen (Bamberg 2013); G. Hille-Coates: Crossover Englisch – Latein (Göttingen 2013); D. Schmitz: Latein und Griechisch als Basisfächer für das Erlernen der spanischen Sprache, in: Forum Classicum 47 (2004), S. 189-95; Th. Brückner: Von Romulus zu Berlusconi – Latein und seine Tochtersprachen, in: Forum Classicum 47 (2004), S. 271-73; C. Wurm: Latein und romanische Sprachen – Dantes De vulgari eloquentia und der Diálogo de la lengua des Juan de Valdés, in: Forum Classicum 58 (2015), S. 111-17. M. Mader: Lateinische Wortkunde für Alt- und Neusprachler. Der lateinische Grundwortschatz im Italienischen, Spanischen, Französischen und Englischen (Stuttgart 32005); D. Stratenwerth: Lateinische Vokabeln in heutiger Gestalt, in: Pegasus 6/2+3 (2006), S. 13-27; K. Siebel: Lateinischer Wortschatz als Brücke zur Mehrsprachigkeit. Eine Durchsicht des Aufgabenspektrums aktueller Lateinlehrwerke, in: Pegasus 11/1 (2011), S. 102-32. St. Natzel-Glei: „Hier werden Sie geholfen !“ Latein und muttersprachliche Kompetenz, in: Pegasus 5/1 (2005), S. 46-58; P. Kuhlmann: Der lateinische Einfluss auf Lexik, Morphologie und Syntax des Deutschen – ein Überblick, in: Forum Classicum 53 (2010), S. 218-26; C. Helm: Das Lateinische als gebende und nehmende Kontaktsprache, in: Forum Classicum 54 (2011), S. 123-30. Zum Verhältnis zwischen der Mutter- bzw. Herkunftssprache Türkisch und Latein in der Schule H.-J. Schulz-Koppe, in: Forum Classicum 57 (2014), S. 46-50 und M. Pait: Türkisch – eine Herkunftssprache im Vergleich, in: St. Kipf, (2014), S. 43-58. St. Kipf: Integration durch Bildung – Schülerinnen und Schüler nichtdeutscher Herkunftssprache lernen Latein, in: Forum Classicum 53 (2010), S. 181-97; ders. (Hg.): Integration durch Sprache. Schüler nichtdeutscher Herkunftssprache lernen Latein, Bamberg 2014.

[3] Zu den verschiedenen Satz- und Texterschließungsverfahren (in Auswahl): D. Lohmann: Die Schulung des natürlichen Verstehens im Lateinunterricht, in: DAU 11/3 (1968), S. 5-40; H.-J. Glücklich: DAU 30/1 (1987), S. 5-36; W. Heilmann und D. Lohmann: Texterschließung – ein Ratespiel oder mehr?, in: DAU 33/3 (1990), S. 6-23; W. Meincke: DAU 36/4+5 (1993), S. 69-84; H.-J. Glücklich: Lateinunterricht. Didaktik und Methodik (Göttingen 31996, ND), S. 57-83; P. Kuhlmann: Fachdidaktik Latein kompakt (Göttingen 2009), S. 94-119; M. Keip, Th. Doepner: Übersetzung und Texterschließung, in: M. K., Th. D.: Interaktive Fachdidaktik Latein (Göttingen 2010), S. 81-112; M. Gucanin: Über die Herkunft des Konstruierens. Eine Betrachtung aus fachdidaktischer Perspektive, in: Pegasus 13/1+2 (2013), S. 16-32. Themenheft Texterschließung DAU 56/6 (2013). Nützliche Übersicht von R. Frölich, in: K. Sundermann (Hg.): Die Weiterbildungslehrgänge Latein (Mainz 2013 [Impulse 15]), S. 178.

[4] E. Hermes: Verstehen und Übersetzen, in: DAU 9/2 (1966), S. 5-14; M. Fuhrmann: Die gute Übersetzung. Was zeichnet sie aus, und gehört sie zum Pensum des altsprachlichen Unterrichts ?, in: DAU 35/1 (1992), S. 4-20; H. E. Herkendell: Überlegungen zu Textverstehen und Übersetzen, in: DAU 38/1 (1995), S. 19-32; ders.: Textverständnis und Übersetzung, in: DAU 46/3 (2003), S. 4-13; J. Bertram: Zu Paraphrase und Übersetzung von Texten, in: ebda. (Themenheft Übersetzung), S. 34-39; M. Krell: Kein Leseverstehen ohne Sprechen und Schreiben !, in: Forum Classicum 49 (2006), S. 109-21; D. Lohmann: Auf Neues habe ich Lust – über die Bedeutung der Reihenfolge für das Verstehen und Übersetzen, in: Forum Classicum 50 (2007), S. 164-75; L. Florian: Übersetzen und Verstehen im Lateinunterricht. Eine empirische Untersuchung, in: Pegasus 13/1+2 (2013), S. 1-15; P. Kußmaul: Verstehen und Übersetzen (Tübingen 32014); P. Kuhlmann: Lernpsychologische Voraussetzungen für das Verstehen von Texten und Übersetzungs- sowie Erschließungsverfahren, in: Scrinium 59/1, 2014, S. 3-24. Themenheft Textübersetzung DAU 58/5 (2015). Zur Entwicklungsgeschichte St. Kipf: Historia magistra scholae. Historische Bildungsforschung als Aufgabe altsprachlicher Didaktik, in: Pegasus 9/1 (2009), S. 1-19.

[5] W. Kempkes: „Lepus ein Has sedebat er saß in via auf der Straße…“. Kolometrisch-synoptisches Lesen, in: DAU 47/1 (2004), S. 64-67.

[6] H.-J. Glücklich: Lineares Dekodieren, Textlinguistik und typisch lateinische Satzelemente, in: DAU 19/5 (1976), S. 5-36.

[7] Zur Dependenzgrammatik H. Happ: DG und Latein-Unterricht, Göttingen 1977; zur generativen Transformationsgrammatik im altsprachlichen Unterricht J. Klowski: DAU 14/2 (1971), S. 5-19; W. Heilmann ebda. 16/5 (1973), S. 46-64; H. Steinthal: Zur Praxis einer transformationell-generativen Grammatik im Lateinunterricht, in: Gymnasium 80 (1973), S. 101-28. Die valenzgrammatische Übersetzungsmethode und ein linguistisch fundiertes Analyseinstrumentarium zur Durchdringung der syntaktischen Struktur lateinischer Sätze stellt (mit weiterer Literatur seit den 70er Jahren) K. Tummuseit vor: Zur Förderung der Übersetzungskompetenz – Valenzgrammatische Satzbaupläne im Lateinunterricht der Sekundarstufe II, in: Pegasus 10/1 (2010), S. 114-35.

[8] H.-E. Pester: Kritischer Blick auf die „ganzheitliche Vorerschließung“, in: DAU 38/1 (1995), S. 37-47.

[9] Verfahren also der Textgrammatik, hierzu K. Elsner: Vordergrund und Hintergrund im Lateinischen, in: DAU 16/2 (1973), S. 56-61; H.-J. Glücklich, R. Nickel, P. Petersen: Interpretatio. Neue lateinische Textgrammatik, Freiburg 1980; H. Vester: Zum Umgang mit den Erzähltempora, in: DAU 30/1 (1987), S. 50-63; K. Weddigen: Thema und Rhema. Überlegungen zu einer Methode der Texterfahrung, in: DAU 31/6 (1988), S. 7-28; Glücklich: Lateinunterricht (31996), S. 99 f.; G. Fink, F. Maier: Konkrete Fachdidaktik Latein (München 1996, ND), S. 122 f., 127 f.

[10] Zur Interpretation Glücklich, Schindler und Siebenborn: DAU 30/6 (1987) sowie Barié, Heilmann und Nickel: DAU 36/4+5 (1993).

[11] Gekürzte Fassung meiner Einleitung zu: Der Blick von außen auf das Andere: Entdecker und Eroberer über fremde Menschen und ihre Kulturen, in: Pegasus 12/1 (2012), S. 33-49, hier 36 f. Auf den Nachbarkontinent und sein Bild in der Reiseliteratur des 18./19. Jh. richtet sich der Blick von A. Fischer-Kattner: Spuren der Begegnung. Europäische Reiseberichte über Afrika 1760-1860 (Göttingen 2015); auch hier mündet die Sicht auf die „eingeborenen Wilden“ nach differenzierendem, durchaus auch wissenschaftlich begründetem Beginn letztlich in den Kolonialismus des frühen 20. Jh.

[12] J. Klowski: Mundus Novus. Einleitung, Text und Kommentar zu Amerigo Vespuccis Schreiben, in: DAU 30/2 (1987), S. 47-68 (Themenheft); Mundus Novus – Lateinische Texte zur Eroberung Amerikas, ausgew. u. erl. von J. Klowski, E. Schäfer (Stuttgart 1991), S. 5-13; Mundus Novus, lat.-dt., übers. von R. Wallisch (Wien 2002 [WSt Beiheft 27]). E.-M. Kioscha: Mundus Novus als Übergangslektüre, in: DAU 43/4+5 (2000), S. 57-61; J. Klowski: Wie gelangte Amerigo Vespucci zur Annahme der Existenz des Mundus Novus ?, in: Forum Classicum 52 (2009), S. 131-38. Unterrichtsreihe zur Darstellung fremder Völker bei Caesar, Kolumbus und Vespucci von G. Laser in den RAAbits Latein II C.1 Autoren 3 (Stuttgart 2010), S. 1-42.

[13] E. Schäfer: Die Indianer und der Humanismus. Die spanische Conquista in lateinischer Literatur, in: DAU 27/6 (1984), S. 49-70; Petrus Martyr / Juan Ginés de Sepúlveda / Bartolomé de Las Casas: Über die Indianer, ebda. S. 82-91; E. Schäfer: Lateinische Literatur – Amerika und die Indianer, in: Gymnasium 100 (1993), S. 323-41.

[14] Text in Klowski/Schäfer: Mundus Novus (1991), S. 17-23; Schmude (2012), S. 47-49. U. Blank-Sangmeister: Wir und die anderen (Göttingen 2009)[Clara 27], insbes.: Kolumbus über die Eingeborenen der Neuen Welt sowie Isidor v. Sevilla (6. Jh.), Cicero, der Kirchenvater Augustinus und der Stoiker Seneca zum bellum iustum – F. Maier, in: Anregung 43 (1997), S. 320-23 [vgl. Themenheft DAU 58/2+3 (2015)]. Christoph Kolumbus: Der erste Brief aus der Neuen Welt, lat.-dt., übers. von R. Wallisch (Stuttgart 2006).

[15]Briefe aus der Türkei“: der Gesandte Ogier de Busbecq im Reich Sultan Süleymans des Prächtigen (Antwerpen 1581), hg. von J. Behrens (Bamberg 1998, ND) [Studio 7]. Schmude (2012), S. 45; H. Wiegand: Imago Turcae. Das Türkenbild der frühen Neuzeit im Lateinunterricht der Oberstufe, in: DAU 36/6 (1993), S. 12-36. Mit seinen Briefen ist Busbecq ein ‚Vorläufer im Geiste‘ des Kulturvermittlers und ‚letzten Osmanisten‘ zwischen deutschem Kaiserreich und Jungtürken, Friedrich Schrader (1865-1922): Konstantinopel in Vergangenheit und Gegenwart (Tübingen 1917).

[16] Kritische Ausgabe (in 3 Textbdn.) von A. Hilka, O. Schumann u. B. Bischoff (Heidelberg 1930-71); zweisprachige Textsammlungen von C. Fischer, H. Kuhn, G. Bernt (Zürich/München 1974, ND 1979) und von B.K. Vollmann (Frankfurt a.M. 1987 [Bibl. des MA 1]). Nützlicher Vergleich der Textausgaben von J. Bumke, in: FAZ v. 14.04.87.

[17] Vgl. P. Klopsch, in: DAU 12/4 (1969), S. 31-47; K. Langosch, Mittellatein und Europa – Führung in die Hauptliteratur des MA (Darmstadt 1990), S. 264-66; D. Schaller, in: LexMA I (1999), Sp. 899 f.; Die Gedichte des Archipoeta, bearb. u. hg. von H. Watenphul, H. Krefeld (Heidelberg 1958, dazu D. Schaller, in: Gnomon 32 [1960], S. 656-60), zur Vagantenbeichte S. 140 ff.; Der Archipoeta, lat.-dt., übers. von H. Krefeld (Berlin 1992); Bischoff I 3 (1970), S. 6-21; Bernt (1974), S. 950 f.; Vollmann (1987), S. 604-14. Die Strophen 14-19 des CB 191 entstammen einem älteren, 11/12 u. 16 einem jüngeren Trinklied, Bischoff S. 11, 19 f. u. 77 f. (zu CB 220, das seinerseits Teil des carm. IV an den Archicancellarius ist).

[18] Ein weiterer reizvoller Vergleich musikalischer Rezeption läßt sich für das CB 136 (aus dem Zyklus der Liebeslieder) Omnia sol temperat anstellen – auch dieses von C. Orff als zweites Stück der Sequenz Primo vere sowie (gleichfalls lateinisch) von In Extremo (Sünder ohne Zügel) bearbeitet – dazu eine Unterrichtsreihe von K.-Th. Sonderfeld in den RAAbits Latein II B.7 Fortwirken der Antike 1 (Stuttgart 2006), S. 1-22.

[19] CB 194 – Bischoff I 3 (1970), S. 28-31; zu Hugo (50) D. Schaller, in: LexMA V (1999), Sp. 174 f. Ganz ähnlich in der Intention CB 202 (Str. 4-7).

[20] Textausgaben von K. Ziegler (Leipzig 71969 [Bibl. Teubn.] und lat.-dt. Berlin 1974, ND 1979 [SQAW 31]); Kommentare von H. Schwamborn (Paderborn 1958, ND) und von K. Büchner (Heidelberg 1984) – dazu E. Heck, in: Gnomon 60 (1988), S. 684-91.

[21] Als geschlossener (literarischer) Salon geht er auf Ciceros Beschreibung in rep und im Laelius zurück, wird unterdessen aber seit H. Strasburger: Der Scipionenkeis, in: Hermes 94 (1966), S. 60-72 in Frage gestellt – J.E.G. Zetzel: Cicero and the Scipionic Circle, in: Harvard Studies in Classical Philology 76 (1972), S. 173-79; S.M. Goldberg: Understanding Terence (Princeton 1986), S. 13; E.S. Gruen: Culture and National Identity in Republican Rome (Ithaca N.Y. 1992), S. 20291; R. Hanulak: Der Scipionenkreis – Untersuchungen zum Freundeskreis des Scipio Aemilianus (München 2007).

[22] Kritisch zu ihr bereits Tacitus, Ann. IV 33, 1; W. Nippel: Mischverfassungstheorie und Verfassungsrealität in Antike und früher Neuzeit (Stuttgart 1980); K. Bringmann: Cicero (Darmstadt 2010), hier S. 165; zum Unterschied zwischen Verfassungstheorie und politischer Praxis Chr. Meier: Res publica amissa (Berlin 21980 ), insbes. S. 165-67, 302-06, 318-20.

[23] Darstellung der einzelnen Verfassungsformen bekanntlich schon bei Herodot, Hist. III 80-82 und Platon, Politeía 544 c – 569 c (= Buch 8). Aristoteles skizziert die Politeíai und ihre Metabolaí in EN 1160 a 31 – 1161 a 9 und Rhet. 1365 b 28 – 1366 a 22; grundlegend Politiká 1284 b 34 ff. und Polybios VI 5, 4 – 9, 10. W. Blösel: Die Anakyklosis-Theorie und die Verfassung Roms im Spiegel des 6. Buches des Polybios und Ciceros De re publica, in: Hermes 126 (1998), S. 31-57. Unterrichtsreihe zu De re publica mit Schwerpunkt auf Verfassungstypen, Kreislauf und Mischverfassung von G. Laser in den RAAbits Latein III B.1 Philosophie 4 (Stuttgart 2012), S. 1-44.

[24] Plat. Pol. 555 e 1 – 558 c 5 / 562 a 3 – 563 e 1; Polyb. VI 9, 1-9.

[25] G.N. Knauer: Die Aeneis und Homer – Studien zur poetischen Technik Vergils, mit Listen der Homerzitate in der Aeneis (Göttingen 21979 [Hypomnemata 7]); Übersicht bei M.P. Schmude: Homerische Motive in Vergils Aeneis, in: DAU 49/2+3 (2006), S. 104-07.

[26] Originalausgabe La Comedia (Mantua 1472); Dante Alighieri: die Göttliche Komödie, übers. von W.G. Hertz, Anm. von P. Amelung (München 1978), S. 117-19, 499; Commedia, in deutscher Prosa von Kurt Flasch (Frankfurt 2013), S. 119 f., 502 f.

[27] Eine exilphänomenologische Untersuchung des Jahrhundertthemas Flucht und Vertreibung im Kontrast zwischen antiker (neben Ovid Cicero, bei Vergil und in mythischen Figuren wie Medea und Polyneikes) und der deutschen Exilliteratur (namentlich der Jahre 1933-45) unternimmt interdisziplinär E. Doblhofer: Exil und Emigration – zum Erlebnis der Heimatferne in der römischen Literatur (Darmstadt 1987 [Impulse der Forschung 51]); Forschungsbericht S. 1-20; zu Tristien IV 10: S. 203, 259, 261, 263, 276.