Platon-zwischen-Apologie-und-Politeia

Platon-zwischen-Apologie-und-Politeia

Platon zwischen Apologie und Politeía

eine Einführung in seine Schriften

 

Platon, als Sohn des Ariston und der Periktione (Cousine des Sokratesschülers und späteren Oligarchen Kritias) aus vornehmer Familie, *428/7 v. Chr. in Athen (oder Ägina), griechischer Philosoph, † 348/7 in Athen.

I. Platons Apologie des Sokrates

Sokrates, ca. 470-399 v. Chr., war von Beruf eigentlich Steinmetz, betätigte sich aber als praktischer Philosoph seiner Heimatstadt im Athen des perikleischen Zeitalters. Als solcher ist er zu einer Art Wendepunkt in der Geschichte der griechischen Philosophie geworden – als Vor-Sokratiker bezeichnen wir gemeinhin die Ionischen Natur,spekulanten‘ [speculari = durch Beobachtung erforschen] seit dem 6. v. Chr. (von Thales v. Milet und Pythagoras v. Samos bis zu den Sophisten) und dementsprechend als Nach-Sokratiker insbes. die hellenistischen Philosophenschulen seit Platons Akademie, Aristoteles‘ Peripatos und der Stoa des Zenon von Kition. – Eine ‚Apologie‘ [apolégein = freisprechen von] ist eine Verteidigungsrede (vor Gericht).

Wie verfährt man mit einem Querulanten, einem notorischen Unruhestifter, der alle ‚bürgerlichen‘ Gewissheiten in Frage stellt, von der staatlich organisierten Religion bis zur überkommenen political correctnes, in welcher man sich bisher so behaglich einrichten konnte? Der Tag für Tag, statt selbst seiner erlernten Erwerbsarbeit nachzugehen, auf dem Marktplatz Athens herumläuft und die beruflich etablierten Bürger auf ihre ‚tiefere Einsichten‘ hin befragt? Und ebendiese ganz schlecht aussehen lässt, ja, bis auf die Knochen blamiert, weil sie damit nicht aufwarten können? Und der insbesondere die jungen Leute dazu anstachelt, mit ihren des Abends müde von der Arbeit nach Hause kommenden Eltern genauso zu verfahren? Wie mag ein solches Gespräch zwischen Jung-Perikles und Alt-Perikles wohl vonstatten und ausgegangen sein? Wird nicht blanke Begeisterung aufkommen für einen solchen Zeitgenossen?

Der historische Sokrates ist oft mit Jesus von Nazareth verglichen worden – Beide betrieben die Veränderung ihrer Gesellschaft, wandten sich gegen bestehende Ordnungen und Gesetze, Beide scharten eine Jüngerschaft um sich, die sie mitten aus ihren Familien herausgezogen hatten, Beide haben nichts Schriftliches selbst hinterlassen, so dass wir für Beide auf Zeugnisse ihrer Umgebung angewiesen sind, um zu den historischen Gestalten hinter ihren eigenen Legenden zu gelangen …

Mit dem Athener Platon haben wir die zentrale Figur der Geschichte der griechischen Philosophie vor uns; über seinen Werdegang privat, als Philosoph und als Politiker sind wir, nicht zuletzt aus Selbstzeugnissen (7. Brief), recht gut informiert. Seinem Lehrer Sokrates aber stehen wir genau so gegenüber wie Jesus Christus – einigermaßen ratlos, denn über die reale Person wissen wir wenig, jedenfalls aus gesicherten Quellen: bei Beiden ist es so, dass alle Nachrichten über das, was sie getan oder gesagt haben, von ihren Schülern / Jüngern aufgeschrieben oder ihnen in den Mund gelegt worden und in dieser Form dann erst auf uns gekommen sind. Und Schüler*innen aller Zeiten verfolgen ihre eigenen Absichten. Von daher sind die literarischen Denkmäler, die seine Schüler Platon und Xenophon von Athen (426 – nach 355) dem Meister in ihren Schriften (Platon in seinen Dialogen, Xenophon in seinen MemorabilienApomnēmoneúmataErinnerungen an Sokrates) gesetzt und ihn hierbei aus unterschiedlichen Blickwinkeln heraus stilisiert und idealisiert haben, historisch eher wenig verlässlich. Die Sokrates-Komödie Wolken (423) seines etwas jüngeren Zeitgenossen Aristophanes zeichnet das damals umlaufende Klischeebild eines Intellektuellen, dürfte aber realistischer und an diesem Kauz samt seiner Umgebung schon etwas ‚näher dran‘ sein.

a. Lebensumstände

Gesichert wissen wir, dass Sokrates aus einer Handwerkerfamilie stammte; er war verheiratet mit (der möglicherweise vornehmen) Xanthippe, deren Beschreibung unter seinen Nachfolgern von besorgt (Aischines) bis schwer erträglich (Antisthenes, Kyniker) reicht. Mit ihr hatte er drei Söhne, von denen in der Apologie (34 d) und anfangs des Dialoges Kriton (45 d) die Rede ist; den Jüngsten auf dem Arm lässt Platon Xanthippe im Vorfeld des Phaidon (60 a) auftreten (noch einmal 116 b). Im Peloponnesischen Krieg (431-404) kämpfte Sokrates dreimal als Hoplit (Schwerbewaffneter), mit erwiesener Tapferkeit (Laches 181 b, Symposion 221 a), u.a. bei der erfolgslosen Verteidigung von Amphipolis, welche den Historiker Thukydides sein Strategen-/Nauarchenamt kostete und die zeitweilige Verbannung eintrug. 406 hatte er als vorsitzender Prytane (Ratsherr) im Stadtrat (boulé) von Athen zeitweise Regierungsverantwortung inne. Das Jahr 399 zeigt ihn als Angeklagten im Prozess, da er nicht an die Götter der Stadt glaube, sondern neue Gottheiten (daimónia) einführe, und da er die Jugend verderbe.

b. Sokrates vor Gericht und in der Apologie

Eine professionelle Verteidigungsrede, in Auftrag gegeben wohl von seinen Schülern, stand Sokrates für die Gerichtsverhandlung durchaus zur Verfügung, kunstvoll gesetzt von dem Logographen (Redenschreiber) Lysias. Geblieben sind uns diejenigen Platons und Xenophons; gehalten hat der historische Sokrates keine davon. Gleichwohl sucht die platonische, die wohl zwischen 395 und 390 v. Chr. entstanden und unter den frühen Schriften des Philosophen überliefert ist, ein anschauliches Bild von seiner Tätigkeit auf dem Marktplatz von Athen, der Agora, zu zeichnen: im vorgegebenen Rahmen der attischen Gerichtsrede lässt Platon in literarischer Form seinen Lehrer Rückschau halten, im Besonderen auf seine Rolle als unbequemer Fragensteller, der seine Mitbürger aus ihrem selbstgefälligen Scheinwissen wachrüttelt. Von dieser Inszenierung als Mahner und Ermunterer zu einer philosophischen Lebensweise dürfte auch der historische Sokrates nicht allzu weit entfernt sein.

Insgesamt ‚ist‘ die Apologie des Sokrates, wie Platon sie ihn vortragen lässt, eigentlich drei Reden, der Gerichtspraxis vor Ort entsprechend: die erste (17 a – 35 d) handelt vom Wirken des Meisters in der Stadt, den davon herrührenden Vorwürfen und Angriffen auf ihn bis hin zur offiziellen Klageschrift und mündet in die Frage, ob hier strafwürdiges Verhalten vorliege. Nachdem dieses festgestellt worden ist, erwidert (35 e – 38 b) und begründet Sokrates schließlich den ihm als verurteiltem Angeklagten zustehenden Antrag zum Strafmaß. Die dritte Rede (38 c – 42 a) würdigt das nunmehr ergangene Todesurteil und seine Richter.

Die erste, eigentliche Verteidigungsrede wendet sich zunächst aus der Gegenwart vor Gericht wider bereits seit Längerem umlaufende Anklagen: diese entsprängen dem schwerer fassbaren Volksmund und seien gefährlicher als die offizielle Anklageschrift, welche man derzeit gegen ihn eingebracht habe: da gebe es einen ‚weisen‘ Sokrates, welcher den Dingen am Himmel und denen unter der Erde nachstöbere (so bildhaft auch Aristophanes in den Wolken) und der das schwächere Wort stärker mache. Daraus sei, zumal bei einem leichtgläubigen jugendlichen Publikum, seit alters her schnell der Verdacht entstanden, dass der auch nicht an Götter glaube. Tatsächlich stehe sein Wirken im Dienst des Gottes von Delphi: auf dessen Orakel hin, Sokrates sei der Weiseste (21 a), habe er es unternommen, seine Mitbürger in Berufsgruppen (Staatsmänner, Dichter, Handwerker) geordnet nach wahrer Erkenntnis und Weisheit zu befragen. Und dabei habe er zum großen Ärger der Betroffenen Nichts gefunden, was über ein Fachwissen im engeren Sinne hinausgehe, dafür aber jede Menge Einbildung und – begeisterte Nachahmer: die Söhne der Reichsten der Stadt, die hierfür auch über die nötige Mußezeit verfügten. Er selbst indes sei um genau diese eine Einsicht weiser als Andere, „dass ich, was ich nicht weiß, auch nicht zu wissen glaube“ (21 d 5-7). Und der Zorn der ihrer Scheinbildung Überführten falle auf ihn zurück, dass er die Jugend anstifte und verderbe, und entlade sich nunmehr in der aktuellen Anklage des Meletos als Vertreter der Dichter, Anytos wegen der Handwerker und Politiker und Lykon wegen der Redner (24 a).

Eine kurze Entgegnung auf deren Lautsprecher Méletos, Sokrates führe neue Gottheiten ein und verführe die Jugend, leitet zum Kerngedanken seiner gesamten Verteidigung: verpflichtet allein ‚dem Gott‘ und seinem Auftrag und angetrieben von seinem daimónion, der inneren Stimme, dient sein gesamtes Dasein der Ergründung von Einsicht und Wahrheit für Stadt und Mitbürger. Nach dieser zentralen Partie (29 d/e) spiegelt das Folgende den Aufbau der ersten Hälfte: zunächst beispielhaft gesetzestreues Verhalten des Sokrates während der vergangenen Zeit der Demokratie (Arginusen-Prozess) sowie unter den ‚Dreißig Tyrannen‘ (Leon aus Salamis). Und in der Gegenwart wiederum, angesichts von Unverständnis und zu erwartender Verurteilung, lehnt er ausdrücklich jede Art von Jammern und Flehen ab und zeigt ein letztes Mal Achtung vor dem Geist der Gesetze.

Und so kommt es. Seine Antwort auf den Schuldspruch ist ein eigener Antrag zum Strafmaß: Speisung im Prytaneíon (dem Amts- oder Stadthaus), sozusagen eine lebenslange Rente, wie sie denen zukommt, die sich um das Gemeinwesen wahrhaft verdient gemacht haben (36 d 4 – 37 a 1). Gäbe er diese lebenslang geübte Weise der Selbsterforschung und Ermahnung seiner Mitbürger zur Tugend auf, bedeute dies Ungehorsam gegenüber dem Gott. Die letzte Rede, mit welcher Sokrates das Todesurteil annimmt, den Prozess, seine Rolle darin und die seiner Richter – der verurteilenden wie der freisprechenden – bewertet und das daimónion zum Zeugen für die Richtigkeit seines Verhaltens macht (40 a/b), mündet in seine Vorstellung vom und in seine Einstellung zum Tod: entweder ein langer, traumloser Schlaf oder der Übergang auf eine viel höhere, glückselige Stufe seiner bisher gewohnten Lebensform – das philosophische Gespräch mit den wahrhaft großen Menschen über die Themen seines Lebens …

c. Nachwirken

Gerade in der bewussten Hinnahme seines ungerechten Urteils und Todes wird neben der biographischen Parallele der menschliche Kontrast zum Begründer der christlichen Religion deutlich: der Demut und dem stellvertretenden Leid des späteren Erlösers steht in Sokrates die stolze Selbstbehauptung einer in ihrer Überlegenheit unabhängigen, allein ‚dem Gott‘ verpflichteten Existenz gegenüber, die Platon zur Verwirklichung des Menschseins an sich erhebt.

Völlig anders gelagert ist die gleichnamige (wohl zwischen 370 und 360 verfasste) Schrift des Xenophon: eine Schilderung der letzten Tage des Meisters, darin eingebettet der Prozess und das unverständliche Auftreten des Angeklagten, welches diese Apologie zu erklären sucht. Dies war einmal mehr notwendig, nachdem der Sophist Polýkrates Ende der 390er Jahre in seiner (verlorenen) Kategoría Sokrátous diesen erneut heftig im Sinne der offiziellen Klageschrift angegriffen hatte. Jedenfalls erwidert auf die Anklage des Polykrates (auch zeitlich) unmittelbar eine (gleichfalls verlorene) Apología des attischen Rhetors Lysias (ca. 445-380 v. Chr.), bei welchem als berufsmäßigem Redenschreiber für das tatsächliche Verfahren zuvor schon eine Verteidigung bestellt worden sein soll. Sokrates habe sie, wie Cicero (De or. I 231-33; Quint. Inst. II 15, 30 und XI 1, 11) berichtet, als ‚wohlgesetzt, aber zu rhetorisch‘ beiseitegelegt (möglicherweise sind diese beiden Apologien identisch). Über das Verhältnis der xenophonteischen Schrift zu derjenigen des Polykrates kann ebenso Wenig gesagt werden wie zu derjenigen des Lysias. Indes setzt von hier an zwischen Sokratikern (Demetrios von Phaleron, Plutarch von Chaironeia) und Anti-Sokratikern (Aristóxenos von Athen) eine regelrechte ‚Apologien-Schriftstellerei‘ als eigenes Genre ein, und noch im 4. Jh. n. Chr. gaben die Angriffe des Polykrates dem Redner Libanios aus Antiochia Anlass zu einer declamatio (übungstechnischen Schulrede) für Sokrates.

Im Mittelalter waren die originalen Quellen zu Sokrates weitgehend verloren gegangen. Er überdauert in bebilderten Handschriften sowie in gelehrten Lexika – als Heide zwar ohne Zugang zum wahren Heil, als Ethiker aber anerkannt und wertgeschätzt, im 14. Jh. besonders von dem führenden Früh-Humanisten und italienischen Nationaldichter Francesco Petrarca aus Arezzo. Mit der Wiederentdeckung der antiken Autoren in der Renaissance treffen wir im Falle des Sokrates auch wieder auf den antiken Kopf: in der Schule von Athen (1511), einem Fresko Raffaels, des italienischen Malers der Renaissancezeit aus Urbino (zu sehen in den Stanzen, ehemals päpstlichen Privatzimmern, der Vatikanischen Museen in Rom) – auch dort ist er in seiner Paraderolle als hartnäckig Fragender (im Gespräch mit dem jungen Xenophon) der umtriebige Bohrer, die zeitlose ‚Laus im Pelz‘ gegenüber den Zeitgenossen auf dem Markt.

Noch in unseren Tagen kommt keine Philosophiegeschichte ohne Sokrates aus, die Forscher, die vor ihm (vom 7. Jh. v. Chr. an) als Naturbetrachter ‚unterwegs‘ gewesen sind, werden unter dem Sammelbegriff der ‚Vor-Sokratiker‘ zusammengefasst; er gilt als Wendepunkt zur Ethik. Zugleich begegnen wir Sokrates aber auch als gern bemühter Kunstfigur, so in der populären Reihe von Klaus Bartels, Sokrates im Supermarkt – (Neue) Streiflichter aus der Antike (seit 1986). Und darum ein letzter ‚Spruch‘, denn auch das ‚ist‘ Sokrates, wenngleich – wie stets – ‚nur‘ nach Ausweis seiner Stimme Platon (sinngemäß Politeia 563 a 4 – b 2): „Unsere Jugend liebt den Luxus, sie hat schlechte Manieren, missachtet Autorität und hat keinen Respekt vor dem Alter. Die heutigen Kinder sind Tyrannen, sie stehen nicht auf, wenn ein älterer Mensch das Zimmer betritt, sie widersprechen ihren Eltern, schwätzen beim Essen und tyrannisieren ihre Lehrer …“

II. Platons Politeía

Wenn wir heute von ‚Politik‘ und ‚Politikern‘, von ‚Staatskunde‘ und ‚Staatsmännern‘ (und –frauen) sprechen, so verwenden wir den gleichen Wortstamm wie der Athener Philosoph Platon im Titel seines Hauptwerkes, welches er in den 70er Jahren des 4. Jh. v. Chr. verfasste: Politeía heißt ‚Staatswesen‘, und dieses bildet auch den Gesamtrahmen seiner Schrift. Das eigentliche Thema aber ist – die Gerechtigkeit (und mit diesem Untertitel ist sie auch in Handschriften überliefert).

Was ist Gerechtigkeit? Über welche Eigenschaften muss ein Mensch verfügen, damit wir ihn ‚gerecht‘ nennen können? Gibt es überhaupt eine absolute Gerechtigkeit, und ist eine solche im praktischen Leben verwirklichbar? Oder ist gerecht vor Allem, was mir nutzt (also relativ)? Und wie wirkt sich das dann auf meine Umgebung, mein soziales Umfeld aus? Auf welcher Grundlage entsteht eigentlich menschliche Gemeinschaft, ein Staatswesen also, und welche Eigenschaften machen den Zusammenhalt erst möglich? Wann ist ein Staat ein gerechter Staat? Ist ein – zumal für Alle – gerechter Staat in dieser Welt überhaupt ‚zu machen‘, oder bleibt das blanke Utopie?

Die Politeía geht sozusagen den umgekehrten Weg: Ziel bleibt die Gerechtigkeit im Menschen, aber Platon wählt zunächst das größere Format, die Gemeinschaft von Menschen, um daran zu untersuchen und aufzuzeigen, was Gerechtigkeit an sich ist. Danach kann er diese auf den kleineren Maßstab rückübertragen und am Einzelmenschen nachweisen.

a. Einordnung und Biographisches

Mit Platon, der in jungen Jahren einmal Tragödien schrieb, haben wir – untrennbar verbunden mit seinem Lehrer Sokrates – die zentrale Gestalt der griechischen Philosophiegeschichte vor uns, und hierin den Begründer der philosophischen Disziplin ‚Ethik – vom sittlichen Verhalten des Menschen‘. Der deutsche ‚Groß-Philosoph‘ Immanuel Kant (1724-1804) ist ohne Platon nicht denkbar, nach dem bekannten englischen Mathematiker und Philosophen Alfred North Whitehead (1861-1947) besteht die gesamte europäische Philosophie letztlich aus einer „series of footnotes to Plato“, und an der für uns historisch schwer fassbaren Figur des Sokrates wird gar die erste Epocheneinteilung der Philosophiegeschichte festgemacht (s.o.). In der Lehre selbst ist eine klare Grenzziehung zwischen Platon und Sokrates, der in den Schriften seines Schülers als Gesprächsführer überall auftaucht, seinerseits aber nichts Schriftliches hinterlassen hat, kaum zu ziehen.

Platon gründete 388/7 die ‚Akademie‘, eine Vorläuferin unserer Universitäten. Nach ihr nannten sich seine Schüler ‚Akademiker‘; geschlossen wurde diese Schule erst vom römischen Kaiser Justinian im Jahre 529 n. Chr., dem Ende der Antike. Eine Umsetzung seines staatstheoretischen Entwurfs in praktische Politik versuchte der Philosoph in Syrakus auf Sizilien: den dortigen Tyrannen Dionysios I. hatte er bereits im Rahmen einer Bildungsreise (390-388) kennengelernt und dessen Schwager und Ratgeber Dion für sein Konzept einer Philosophenherrschaft zu begeistern vermocht. Aber wie zuvor den Vater konnte er auch den Sohn und Nachfolger Dionysios II. bei Aufenthalten 367/6 sowie 361/0 letztlich unter politischem Gegendruck nicht in seinem Sinne beeinflussen.

Während die vor-sokratischen Philosophen ihr Augenmerk vor Allem auf Gegebenheiten und Gesetze der Natur (Physik) gerichtet hatten, holten laut Zeugnis Ciceros (Tusculanen V 10 f.) Sokrates und Platon das Denken von den Erscheinungen des Himmels herab in die Hütten der Menschen und stellten die Frage nach einem gerechten Leben in der Gemeinschaft (Ethik). Die Politeía gehört innerhalb des Corpus Platonicum der mittleren Schaffensperiode (387-367 v. Chr.) an, eine genauere (absolute) Datierung ist nicht möglich. Platons frühe Dialoge (etwa 399-390) waren (sokratische) Gespräche über ethische Einzelfragen bzw. –tugenden: Was ist Besonnenheit? (Charmides), Was ist Tapferkeit? (Laches), Was ist Frömmigkeit? (Eutyphron); sie blieben in der Regel ergebnisoffen, jedenfalls ohne Festlegung im Sinne einer Definition. Das Spätwerk (nach 365) behandelt das Verhältnis von Einheit und Vielheit zueinander in dialektischem (gedanklichem Für und Wider) wie ontologischem (seins-mäßigen) Sinne (Parmenides) und führt zur Frage nach einer umfassenden Gliederung der Welt als Ganzheit (Timaios). Grundlage in Platons Schriften ist, dass hinter jedem Element der uns umgebenden, wahrnehmbaren Welt eine (nur) denkbare Idealform, ein Begriff davon, steht. Und während die innerweltlichen (immanenten) Elemente wandelbar und vergänglich seien, hätten allein die Begriffe, welche das menschlich-sinnliche Wahrnehmungsvermögen übersteigen (transzendieren), wirkliche und eigentliche Existenz an und für sich: die platonische Ideenlehre (Phaidon).

b. Aufbau und Rahmenhandlung des Dialogs

Die Schrift Politeía (oder Über das Gerechte) besteht aus zehn Büchern. Das einleitende erste entwickelt zunächst die Rahmenhandlung: Sokrates (hier und im Folgenden der Ich-Sprecher) wandert mit Glaukon, einem Bruder Platons, am Festtag der thrakischen Göttin Bendis hinunter zum Hafen; als sie nach dem Umzug wieder zur Stadt zurück gehen wollen, werden sie von Polemarchos, dem Sohn des reichen Kaufmannes Kephalos, ‚abgefangen‘ und mit anderen Festgästen in dessen Haus im Piräus geleitet, wo sie einen weiteren Personenkreis antreffen. Das in dieser Runde einsetzende Gespräch behandelt zunächst drei Ansichten über die Gerechtigkeit und ihren Nutzen. Ein erster Hauptteil (Bücher 2-4) bestimmt die Gerechtigkeit am Modell einer Stadt – der Wächterstaat (und die Pädagogik für die Wächter). Der zweite Hauptteil (Bücher 5-7) nennt die Bedingungen für die Verwirklichung des gerechten Staates – der Philosophenstaat (und die Pädagogik für die Philosophen). Im Zuge einer Ringkomposition charakterisiert der dritte Hauptteil (Bücher 8-9) die Ungerechtigkeit. Der Schluss (Buch 10) stellt im Besonderen den Lohn der Gerechtigkeit (im Leben wie nach dem Tod) in Aussicht. Hauptredner sind neben Sokrates die Brüder Platons, Glaukon und Adeimantos.

c. Inhaltsübersicht

Seine Vision von einem Staat gründet Platon auf einen Begriff von Gerechtigkeit, welcher den Nutzen für Alle zugleich mit einschließt. Sokrates hatte gemäß Cicero (De legibus I 33) die Trennung von Recht und Nutzen als Wurzel allen Übels in der Gemeinde beklagt. Platon lehnte eine Gründung des Staates einseitig auf dem Nutzen (zumal Einzelner) stets ab, weil dann die Gerechtigkeit verletzt wäre. Cicero hingegen, der Platons Politeía über dreihundert Jahre später als Folie für seine Vorstellung vom römischen Staat nimmt, wird (De re publica I 39) gemeinsames Rechtsempfinden und Nutzengemeinschaft zu zwei durchaus eigenständigen Grundpfeilern des Gemeinwesens erklären.

Am Beginn der Politeía steht indes ein Dialog, welcher vom Recht des Stärkeren handelt und den man aufgrund seiner inneren Geschlossenheit für ursprünglich unabhängig von der Staatsschrift gehalten hat. Der Sophist (selbsternannter Weisheitslehrer) Thrasymachos vertritt (Buch 1) innerhalb einer Gesprächsrunde im Hause des reichen Kephalos im Piräus, dem Hafen von Athen, gegenüber Sokrates die Auffassung, dass Gesetze vor Allem dafür da seien, die starke und eigenständig ihren Vorteil betreibende Persönlichkeit durch Vorschriften einzuhegen und zu bändigen. Dementsprechend stellt er die Ungerechtigkeit auf die Seite der Tugend und Weisheit (348 e 1-4). Übergeordnete Zielsetzung wird daher im Folgenden sein, die überlegene Rolle der Gerechtigkeit bei der Suche des Menschen nach Glück und damit ihren höheren Nutzen gegenüber der Ungerechtigkeit zu bestimmen (427 d 4-6; 445 a 1 – b 4). Grundlage hierfür sind die Kardinaltugenden Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit – im Staat wie in jedem Einzelnen: und wenn in der Gemeinschaft Jeder auf der Grundlage der genannten Tugenden ‚das Seine‘, das ihm von seinem Naturell her Zukommende tut, dann ist als vierte die Gerechtigkeit gegeben (433 a 4 – c 2).

Sokrates entwickelt nun im Dialog mit Glaukon und Adeimantos zunächst (Buch 2) einen – pyramidenförmig aufgebauten – Ständestaat in drei Schichten, die sich jeweils den genannten Tugenden zuordnen lassen: die unterste und ausgedehnteste Schicht ist die der Bauern und Handwerker, welche die gesamte Spannbreite der materiellen Lebensbedürfnisse einer Stadt (pólis) bedienen. Die Wächter besorgen die Ordnung nach innen wie die Sicherheit nach außen, und die ‚vollkommenen‘ Wächter an der Spitze, die Herrscher, lenken die Geschicke Aller und des Ganzen. Deren Kerntugend ist darum die Weisheit, bei den Wächtern rückt die Tapferkeit in den Vordergrund, und zur allgemeinen Bedürfnisbefriedigung sind Besonnenheit und Maß gefordert (Buch 4). Die Gerechtigkeit – als übergeordnete Gemeinschaftstugend – besteht darin, dass jeder Stand die ihm zukommende Tugend verinnerlicht, die Ordnung als ganze auch für sich selbst annimmt und dadurch das harmonische Zusammenspiel erst möglich macht. Dies zu erreichen, ist Sache einer angemessenen Pädagogik, je leitender die Betroffenen, desto notwendiger: besonderes Gewicht liegt (Buch 2 und 3) auf der musischen wie gymnastischen Erziehung und Bildung der Wächter als künftigem Sicherheits- wie Führungspersonal, zumal aus den Reihen der begabtesten Wächter schließlich die Herrschenden im Staate hervorgehen sollen (Buch 3). Die Frage nach der ‚sozialen Gerechtigkeit‘ und der Teilhabe Aller am Leitmotiv ‚Glückseligkeit‘ beantwortet sich für Platon insofern von selbst, als bei idealer, also gerechter Verfassung seines Staatsmodells ein Jeder vom untersten bis zum obersten Stand das höchste ihm erreichbare Maß an Glück verwirklicht. In Buch 4 überträgt Platon, der Ähnlichkeit von Staat und Mensch folgend (435 b 1 f), die Stände im neugegründeten Staat wiederum auf den Einzelmenschen – ihnen entsprechen die drei Teile seiner Seele: der vernunftbegabte (logistikón oder philósophon) Teil den Herrschenden, der muthafte (thymoeidés) den Wächtern und der triebhafte (epithymētikón) den Arbeitern.

Zwei Besonderheiten in den Lebensverhältnissen des Wächterstandes werden (Buch 5) nachgeschoben: die Aufhebung von persönlichem Eigentum bis hin zu Frauen- und Kindergemeinschaft sowie die grundsätzliche Gleichheit von Mann und Frau. Der Rückübergang wiederum von der Seelenlehre zur Verfassungslehre führt zum Philosophen-Könige-Satz: ein solcher Staat ist nur möglich, wenn die Philosophen Könige oder die Könige zu Philosophen werden (473 c 11 – e 2). Den zuvor nicht thematisierten Bildungsgang des kommenden Philosophenherrschers zeichnet, vorbereitet durch Sonnen– (506 b 2 ff.) und Liniengleichnis (509 d 1 ff.), zu Beginn von Buch 7 das berühmte Höhlengleichnis (514 a 1 ff.): als Aufstieg vom Blick auf die sichtbaren (visiblen) Abbilder der Ideen in der diesseitigen Welt (Immanenz) bis hin zur Erkenntnis der hinter diesen stehenden Begriffe in der nur denkbaren (intelligiblen) Ideenwelt (Transzendenz), gipfelnd in der Schau und damit Teilhabe an der Idee des Guten.

Der dritte Teil (Buch 8 bis 10) der als Ringkomposition angelegten Politeía greift den Gedanken von Ende Buch 4 auf – ‚wie viele Gestalten der Seele, so viele Arten der Staatsverfassungen‘ (445 c 9 ff.): in den ersten Büchern war am größeren Modell eines idealen, ständisch gegliederten Staates das Wesen der Gerechtigkeit aufgezeigt und auf das kleinere, die menschliche Einzelseele, zurückbezogen worden. Hier wird jetzt, nach der zentralen (ihrerseits ringkompositorisch angelegten) Partie über die Philosophenkönige, mittels der vier entgleisten, von Platon dergestalt bezeichneten Verfassungsformen Timokratie (Macht je nach Ehrgeiz), Oligarchie (entsprechend dem Vermögen), Demokratie (hier: Pöbelherrschaft) und Tyrannis (des Autokraten) und mittels ihrer Rückübertragung wiederum auf die jeweils parallelen Verfasstheiten der menschlichen Seele das Wesen der Ungerechtigkeit und ihre Rolle im Streben nach Glück bestimmt. Der Lohn der Gerechtigkeit während des Lebens sowie der gerechten, unsterblichen Seele nach dem Tode in der Jenseitserzählung des zehnten Buches (614 b 2 – 621 b 7) spiegelt das Lob der Ungerechtigkeit im ersten durch Thrasymachos.

d. Nachwirkung

Platons Staatsentwurf wird im Rom der ausgehenden Republik noch einmal Vorbild, und es sind diese letzten Bücher, welche der Redner, Politiker und Philosoph Cicero zwischen 54 und 51 v. Chr. in der Schrift über den römischen Staat De re publica aufnimmt. Mit dem Somnium Scipionis, dem Traum des jüngeren Scipio Africanus am Ende des sechsten Buches, krönt er sein Werk durch den Schlussmythos vom Lohn des gerechten Staatsmannes im Jenseits ebenso wie Platon seine Politeía. Indes hatte schon Platon mit seinen Bemühungen auf Sizilien deutlich gemacht, dass er seinen Entwurf eines idealen Staates durchaus an eine Verwirklichung knüpft. Das unterscheidet ihn grundlegend von den frühneuzeitlichen Staats-Utopien (als eigener literarischer Gattung) seit der egalitären Städteverfassung und Einheitsgesellschaft auf der Insel Utopia des Thomas Morus (1516), welche Elemente der Polistradition platonischer Zeit gleichwohl aus der Ferne weiterführt. Auch der theokratisch-sozialistische Sonnenstaat Città del Sole (1623) des Tommaso Campanella folgt dem Primat des Allgemeinwohls und sichert die innere Eintracht durch Gütergemeinschaft, Einheitspädagogik und Gleichberechtigung Aller. Die monarchische Nova Atlantis (1624/27) des Francis Bacon bettet den Menschen in eine patriarchalische, sittenstrenge Gesellschaft, mit dem Ziel, durch naturwissenschaftliche Forschung die menschliche Herrschaft bis an die Grenze des überhaupt Möglichen zu erweitern. Zur Antiutopie gerät schließlich 1948 der ‚Große Bruder‘ George Orwells, welcher in der Parteidiktatur des totalitären Überwachungsstaates 1984 durch ganzheitliche Gedankenkontrolle jegliche Individualität ausschaltet und mit staatlicher Gewalt die völlige Unterwerfung des Einzelnen sichert.

Michael P. Schmude

 

Literatur

Bordt, M., Platon (Freiburg im Breisgau 1999).

Bormann, K., Platon (Freiburg im Breisgau 42003).

Erler, M., Platon (München 2006) [Beck’sche Reihe: Denker].

Neumann, U., Platon (Reinbek 2001) [Rowohlt Monographie].

Zehnpfennig, B., Platon zur Einführung (Hamburg 42011).

Figal, G., Sokrates (München 32006) [Beck’sche Reihe: Denker].

Martin, G., Sokrates (Reinbek 1967, ND 1994) [Rowohlt Monographie].

Meyer, Th., Platons Apologie (Stuttgart 1962).

Morré, C., Der Prozess des Sokrates (Freiburg i. Br. 1999).

Roeske, K., Nachgefragt bei Sokrates – Ein Diskurs über Glück und Moral.                                Text und Interpretation der Apologie Platons (Würzburg 2004).

Cicero-zwischen-politischer-Praxis-und-ethischer-Pflichtenlehre

Cicero-zwischen-politischer-Praxis-und-ethischer-Pflichtenlehre

Cicero zwischen politischer Praxis und ethischer Pflichtenlehre –

eine Einführung in seine Schriften De re publica und De officiis

 

Mit Marcus Tullius Cicero haben wir eine der schillerndsten Figuren der antiken Geschichte überhaupt vor uns, die in ihrer Person wie in ihrer öffentlichen Karriere ein Paradebeispiel für Politiker auch unserer Tage geblieben ist und bleibt. Was er zur Politik unserer Tage zu sagen hätte, können wir aus seinem Hauptwerk De re publica herausfiltern: Über das Staatswesen, wie es sein sollte und wie es ist … (da hatte seine eigene Laufbahn schon einen ersten, heftigen Knick bekommen), oder besser: über die unterschiedlichen Formen der Staatswesen, ihre Vorzüge und Stärken, ihre Nachteile und Gefahren. Ist die Demokratie als Staatsform heute wirklich die beste? Sollte vor dem Hintergrund aktueller Herrscher das Volk über Staatenlenker abstimmen? Was hielte Cicero von Volksbegehren, überhaupt – was würde Cicero zum Verhältnis von direkter zu repräsentativer Demokratie wohl anführen?

Neben Caesar ist Cicero für uns die zentrale Figur der ausgehenden römischen Republik, bei der wir stets zwei Seiten unterscheiden müssen: er war eine Person des öffentlichen Lebens – heute VIP – zum Einen als Rechtsanwalt in zivilen wie politischen Verhandlungen, zum Anderen als aktiver Politiker im Sinne der ursprünglichen res publica, der Sache des Volkes. Seinen Verdiensten auf beiden Gebieten steht eine gehörige Portion Eitelkeit im Blick auf die eigenen Leistungen gegenüber, seinem Erfolg letztlich ein zögerliches Hin-und-Her-Taktieren zwischen den wirklich Mächtigen der Zeit im Wege.

Daneben war er aber auch ein Schriftsteller, der in Zeiten unfreiwilliger Zurückgezogenheit vom Politbetrieb maßgebliche, insbesondere philosophische Schriften von den Griechen übernommen und für seine Landsleute bearbeitet und zugänglich gemacht hat. Hinzu kommen rhetorische Abhandlungen sowie eine umfangreiche Sammlung von Briefen an Familienangehörige, Freunde und Weggefährten, in denen er zu allen wichtigen Fragen des öffentlichen und literarischen Lebens Stellung genommen hat. Er lebte und wirkte in einer Zeit des totalen Umbruchs im gesamten Bereich des gesellschaftlichen Lebens seiner Heimat und Wirkungsstätte Rom.

 

I. Werdegang und politische Karriere

Marcus wurde als Spross der alten gens (Familie) Tullia mit dem cognomen (Beinamen) Cicero (Kichererbse) am 3.1.106 v. Chr. im Landstädtchen Arpinum (Latium) südöstlich von Rom geboren. Er gehörte dem zweiten, dem Ritterstand an. Seine durch Grundbesitz vermögende Familie ermöglichte ihm (und seinem jüngeren Bruder Quintus) Studienzeiten in Rom (bis 82), Athen und Rhodos (79-77).

Seinen Durchbruch als Anwalt schaffte der homo novus (= Newcomer) mit einem ausgesprochen heiklen Prozess, in welchem er den jungen Sextus Roscius aus Ameria i. J. 80 gegen den Vorwurf des Vatermordes verteidigte, den ein Günstlings des Machthabers Sulla erhoben hatte, um seinerseits in den Besitz der Familiengüter zu gelangen. Mit dem Verfahren gegen Gaius Verres (70), der als Prätor die Provinz Sizilien hemmungslos ausgeplündert hatte, wurde er Roms führender orator; Höhepunkt einer nunmehr durchgängigen Tätigkeit als öffentlicher Redner waren die Philippischen Reden (44/43) gegen Caesars Weggefährten Marc Anton (44/43), angelehnt an die Philippika seines berühmten athenischen Vorbilds Demosthenes gegen den Vater Alexanders d. Gr.

Cicero hat alle seine Reden (110 Gerichts- wie politische Reden seit dem Jahr 81, von denen 58 erhalten sind) im Nachhinein überarbeitet und durch seinen Verleger Atticus veröffentlichen lassen.

Nach der klassischen Ämterlaufbahn (cursus honorum) – 76 Quaestor, 69 Aedil, 66 Praetor – stand er auf dem Gipfel seiner politischen Macht als Konsul im Jahre 63 v. Chr., in welchem er den Umsturzversuch des heruntergekommenen Adligen Catilina aufdeckte und dessen gesamte Putschistenbande besiegte (Zeugnis geben seine Catilinarischen Reden aus dem Prozess). Allerdings leitete seine in den eigenen Augen bedeutendste Leistung, die Zerschlagung der catilinarischen Verschwörung, zugleich seinen politischen Niedergang ein: wegen der (nicht zuvor von der Volksversammlung bestätigten) Hinrichtung der Catilinarier wurde Cicero 58 aus Rom (ins nördliche Griechenland) verbannt.

Nach seiner ehrenhaften Rückberufung 57, einem Kurswechsel zu Caesar, seiner Wahl zum Augur (53) und dem Prokonsulat im kleinasiatischen Kilikien 51 wurde er besonders in der Folge des Bürgerkriegs zwischen Caesar und Pompeius (49-46) mehr und mehr zum Kopf der republikanischen bzw. Senatspartei (Optimaten) und stellte sich, weiterhin nicht ohne auch ein gewisses Arrangement mit dem Tyrannen, seit 46 gegen die Alleinherrschaftsansprüche Caesars und dessen Nachfolger. Mit dessen Ermordung (44) erhoffte er sich von Octavian die Wiederherstellung der früheren Senatsherrschaft, während er in M. Antonius den Erben von Caesars Diktatur sah. Doch verbündete sich Caesars Neffe nicht – wie von Cicero betrieben – mit den Caesarmördern um Brutus zur Erneuerung der libera res publica, sondern mit Antonius (und Lepidus) im zweiten Triumvirat des Jahres 43. Cicero wurde daraufhin von den Killern Marc Antons am 7.12.43 in der Nähe seiner Landvilla (Formianum) bei Gaeta (nordwestlich von Neapel) ermordet – auch dies eine bemerkenswerte Parallele zum Ende des ihm wesensverwandten Demosthenes.

 

II. Literarisches Werk – De re publica

In Zeiten erzwungener politischer ‚Muße‘ entwickelte Cicero den Ehrgeiz, griechische Kultur und philosophisches Denken in Rom ‚salonfähig‘ zu machen, ausgehend von der Grundüberzeugung, dass der verantwortlich handelnde Staatsmann die Fähigkeiten des Rhetors mit den Bildungsgütern des Philosophen in sich vereinen müsse (de or. 3, 63) – eine Tätigkeit allerdings, die er stets als zweitrangig hinter seiner öffentlichen Leistung ansah.

Seine Briefe (epistulae an seinen Verleger Atticus aus den Jahren 67-44, epistulae ad familiares 62-43, dazu ad Quintum fratrem 60-54 und ad M. Brutum aus dem Jahr 43), stellen einen unschätzbaren Quellenfundus zur Geschichte der ausgehenden Römischen Republik dar.

Die wichtigsten Arbeiten auf rhetorischem Gebiet sind (nach der Frühschrift de inventione um 86) de oratore (55), Brutus und der orator (beide aus dem Jahr 46), in denen er Geschichte und Ideal römischer Beredsamkeit im obengenannten Sinne zeichnet. Fragen der Erkenntnistheorie behandeln seine Academici libri (um 45). Im Mittelpunkt seiner ethischen Werke stehen die Frage nach dem höchsten Gut des Menschen (de finibus bonorum et malorum) und die Lehren der großen hellenistischen Schulen hierzu, nach den Bedrohungen des menschlichen Glücks und dem Beitrag der Philosophie zu seiner Bewahrung (Tusculanae disputationes), in seiner Spätschrift de officiis schließlich der Konflikt zwischen bonum/honestum und utile und die Ableitung ethisch begründbarer Maßstäbe für das menschliche Handeln. Im gleichen Zeitraum (um das Jahr 44) wurden auch seine religiösen Schriften herausgegeben: de natura deorum (in der Gegenüberstellung von Stoá, Akademie und Epikur), de divinatione (gegen den stoischen Glauben an die Weissagung) und de fato (über die Kausalität menschlichen Handelns).

a. Die Schrift De re publica

Seine wichtigste staatstheoretische Schrift über die beste Form des Gemeinwesens entstand, neben dem rhetorischen Hauptwerk über den idealen Redner (De oratore, 55), in einer Phase mehr gefühlten als tatsächlichen politischen Einflusses bis 52 v. Chr. Fiktive Spielzeit des (an Platon orientierten) Dialogs ist das Jahr 129 v. Chr. an drei Tagen der Feriae Latinae  (je 2 Bücher = 1 Tag). Cicero erinnert seinen Bruder Quintus an das Gespräch des P. Cornelius Scipio d. J. (185-129 v. Chr.) mit Freunden (Laelius, L. Furius Philus, Manilius u.a.), welches ihnen durch den letzten noch lebenden Teilnehmer P. Rutilius Rufus 78 v. Chr. im kleinasiatischen Smyrna übermittelt worden sein will (rep. 1, 13).

Gemäß Ciceros Staatsdefinition in rep. 1, 39 sind Grundlagen des Gemeinwesens gemeinsames Rechtsempfinden und Nutzengemeinschaft, Gedankengut, das ihn mit der Stoá verbindet. Antrieb des Menschen zur Bildung von Gemeinwesen ist seine natürliche Veranlagung, und damit folgt Cicero dem aristotelischen Bild vom Zōon politikón, das von Natur aus auf die staatliche Gemeinschaft angelegt sei, im Unterschied zu Platon, für welchen die individuelle Unzulänglichkeit den nicht-autarken Menschen zur Arbeitsteilung im Rahmen eines staatlichen Zusammenschlusses zwinge. Bücher 1 und 2 behandeln den besten Staat: B. 1 stellt die Verfassungsformen sowie ihre Entartungen nach Platon und Aristoteles dar, übernimmt von dem romfreundlichen, hellenistischen Historiker Polybios (Mitglied des ‚Scipionenkreises‘) den Kreislauf der Verfassungen (Anakýklōsis) und mündet in die Mischverfassung (rep. 1, 69), welche die Stärken der einzelnen Formen nutze, die Schwächen hingegen durch wechselweise Kontrolle meide – verwirklicht in der Geschichte des republikanischen Rom = Buch 2. Bücher 3 und 4 (nur stückweise erhalten) fragen nach dessen sittlichen Grundlagen; zentrale Frage hier die nach dem Wesen der Gerechtigkeit: Cicero referiert bzw. gestaltet in B. 3 zwei Reden des (skeptischen) Akademikers (die Akademie war die Schule Platons) Karneades an zwei aufeinanderfolgenden Tagen im Rom des Jahres 156/155 v. Chr. für und wider die Gerechtigkeit. Für die Zuhörerschaft verunsichernd und bestürzend, dass beide gleichermaßen überzeugend waren, so dass auf Betreiben des Älteren Cato diese ‚Philosophengesandtschaft‘ (es waren noch die Schulhäupter des Peripatos, der Schule des Aristoteles, sowie der Stoá aus Athen mit angereist) ausgewiesen wurden. Philosophisches Denken hatte sich gleichwohl damit in Rom unwiderruflich ‚eingebürgert‘. B. 4 geht der Verwirklichung der Gerechtigkeit in der Gesetzgebung nach und weist auf Ciceros wenig später erschienene, gleichsam praktische Nachfolgeschrift de legibus voraus. Bücher 5 und 6 zeichnen den Staatsmann, welchen der beste Staat erfordert: B. 5 definiert ihn als sapiens et iustus vir, und mit dem Somnium Scipionis in B. 6, einer getreuen Anlehnung an die Erzählung des Pamphyliers Er am Ende von Platons Politeía vom Lohn der Gerechtigkeit nach dem Tode, setzt Cicero seinem Vorbild eines klugen, gerechten, tapferen und besonnenen (die vier Kardinaltugenden) Staatsdieners, dem Jüngeren Scipio Africanus (Numantinus, † 129 v. Chr.) ein beeindruckendes Denkmal.

b. Nachwirken

Cicero stellte De re publica als Ganzes in die Nachfolge von Platons Politeía ebenso wie de legibus (um 52?) zu dessen Nómoi. Doch während Platons Werk eine ‚U-topía‘, ein (historischer) Nicht-Ort, bleibt, verankerte Cicero sein Staatsmodell fest im Ablauf der römischen Geschichte. Eine Antwort aus christlicher Sicht gab Augustinus, seit 395 bis zu seinem Tod 430 Bischof von Hippo Regius (Numidien), in seiner Civitas Dei: verfasst unter dem Eindruck der Eroberung Roms durch den Westgotenkönig Alarich (410), wird hier der Gottesstaat vor dem Hintergrund eines christlichen Humanismus entwickelt – als Antwort auf den Staatsentwurf des Heiden Cicero. Die Auseinandersetzung mit dessen Schrift setzte indes bereits in den Divinae institutiones (304-313) des christlichen Apologeten Laktanz ein, wie Augustinus aus Nordafrika und ab 290 Rhetor und Erzieher Konstantins (des späteren Großen), der eine einführende Religionslehre für die gebildete christliche Welt entwarf.

Weitergeführt wurden die staatstheoretischen Entwürfe seit dem Humanismus und in die Neuzeit hinein durch Thomas Morus‘ Utopia (1516), Thomas Hobbbes‘ Leviathan (1651) oder John Lockes (zweitem der) Two treatises of government (1690), aber auch in Charles de Montesquieus Prinzip der Gewaltenteilung De l’esprit des lois (1748), J.J. Rousseaus Contrat social (1762) sowie den Rechtsphilosophien Immanuel Kants (1785 ff.) und G.F.W. Hegels von 1820.

c. Überlieferung

Lange Zeit war von Ciceros de re publica nur das Somnium Scipionis zum Abschluss des sechsten Buches in der von dem Neuplatoniker Macrobius (Anfang des 5. Jh. n. Chr.) kommentierten Form erhalten. Der säkulare Staatsansatz des Heiden Cicero schien durch den christlichen Gegenentwurf des Kirchenvaters Augustinus nach dem 5. Jh. überholt. Erst 1820 fand der Präfekt der Vatikanischen Bibliothek, Kardinal Angelo Mai, einen Codex rescriptus des 5. Jh. aus Palimpsesten mit etwa einem Viertel des Werkes vor Allem aus den Büchern 1 und 2. Von den übrigen Büchern sind allerdings beträchtliche Teile durch Zitate und Referate (so für B. 3 das <Argumentum Augustini> vor rep. 3, 8.) insbesondere des Laktanz und Augustinus überliefert.

 

III. Literarisches Werk – De officiis

Die Schrift De officiis [„Über die Pflichten“, verfasst Ende 44 v. Chr.] des römischen Anwalts, Staatsmannes und Philosophen Cicero gilt bis heute als ein Handbuch ethisch begründeten, praktischen Handelns: Was ist das Sittlich-Gute? Welche Formen von Nützlichkeit gibt es? Ist das Nützliche immer auch gut, oder sind Situationen vorstellbar, in denen Nützlichkeit und Sittlichkeit einander widerstreiten? Diese Fragen leuchtet Cicero in De officiis von unterschiedlichen Standpunkten her aus.

Cicero ist somit nicht nur als Politiker und Redner beispielhaft auch für unsere Tage geblieben, sondern er ist darüber hinaus der philosophische Schriftsteller, welcher die geistigen Debatten seiner Zeit aus Griechenland nach Rom und zu uns gebracht hat. Und dafür musste er sie zuerst einmal aus dem Griechischen ins Lateinische über-tragen, die Lehren der stoischen, epikureischen und akademischen Schule aus Athen im Rom seiner Zeit aufeinandertreffen lassen.

a. Cicero als Philosoph

Hintergrund seines eigenen philosophischen Werdeganges ist nicht zuletzt die Studienreise (zusammen mit seinem Bruder Quintus) nach Griechenland und Kleinasien in den Jahren 79-77 v. Chr. In Rom hatte er früh den Epikureer Phaidros kennengelernt und seit 85 bei dem Stoiker Diodotos studiert. In Athen hörte er Vorlesungen des Schulhauptes der ‚Akademie‘, Antiochus von Askalon, sowie aus der epikureischen Schule (neben Phaidros) Zenon von Sidon (Palästina); auf Rhodos wurde er Schüler und Freund des Stoikers Poseidonios. Mit seinem eigenen philosophischen Standpunkt nimmt Cicero eine Art Mittelstellung ein: da ist zum Einen die ‚skeptische’ Akademie seines ersten wichtigen Lehrers in Rom, Philon von Larisa (in Thessalien), welcher i. J. 88 aus Athen geflohen war – dieser stellte die Möglichkeit gesicherter Erkenntnis in Frage; auf der anderen Seite steht seine zweiter Lehrer, der ‚Dogmatiker‘ Antiochus – er billigte der menschlichen Wahrnehmung Verlässlichkeit zu. Antiochus unternahm in der ‚Alten Akademie‘ eine Zusammenführung von Platonismus und Stoizismus.

b. Cicero als Bearbeiter griechischer Quellen

Die Form, welche er seiner Darstellung griechischen Denkens gibt, orientiert sich stark an den Gesprächen seines großen Vorbildes Platon, des Begründers der Akademie, einer Vorläuferin unserer Universitäten, auf welche sich alle weiteren Schulgründer zurückbeziehen werden. Übertragung ist bei Cicero aber keineswegs als Übersetzung zu verstehen (durchweg allerdings bei philosophischen Fachbegriffen); vielmehr übernimmt er vorrangig aus Zusammenfassungen, Vorlesungsnachschriften oder Handbüchern Dritter und dann erst – wenn überhaupt – aus den eher trockenen, geschlossenen Abhandlungen hellenistischer Autoren. Diese gießt er in die lebendigere (gleichwohl ebenfalls künstliche) Form des platonisch-sokratischen Dialoges: er lässt die Vertreter einzelner philosophischer Schulen in Rede und Gegenrede aufeinander treffen, um sodann als ‚lachender Dritter‘ deren jeweilige Stärken zu seinem eigenen Standpunkt zusammenzuführen (→ Eklektizismus).

In De officiis verarbeitet Cicero stoische Quellen: für Buch 1, welches vom Sittlich-Guten (honestum) handelt, und Buch 2 vom Nützlichen (utile) fasst er die drei Bücher Über die Pflicht des Panaitios von Rhodos (ca. 185-109 v. Chr.), des Schulhauptes der ‚Mittleren‘ Stoá, zusammen. Für das dritte Buch über mögliche Konflikte von Sittlichkeit und Nutzen lässt er sich einen Auszug aus der Schrift Über die Pflicht des Poseidonios von Apameia (Syrien, ca. 135-51 v. Chr.), eines Schülers des Panaitios, anfertigen. Poseidonios war, während Cicero sich am Ende seiner Studienzeit 77 auf Rhodos aufgehalten hatte, dort auch sein Lehrer gewesen. Da Panaitios einen möglichen Gegensatz zwischen honestum und utile nur als Frage formuliert, ohne sie zu beantworten, und auch Poseidonios diesen lediglich streift, entwickelt Cicero hier recht selbstständig aus der stoischen Pflichtenlehre seine eigene Sozialethik.

Panaitios war in Rom Mitglied des sogenannten ‚Scipionenkreises‘ gewesen, welcher (in der Fiktion i. J. 129) den Rahmen für Ciceros Gespräch De re publica hergegeben hatte; aber darüber hinaus bestehen auch inhaltliche Wechselbeziehungen zwischen beiden Werken: so geht Cicero in De officiis zunächst einmal von der Natur des Menschen aus, welcher die vier Grundtriebe nach Erkenntnis, Gemeinschaft, Handeln und Maßhalten zugewiesen werden. Das ius (Recht), hier Teilbereich des honestum, hatte er bereits in De re publica mit utilitas (Nutzen) zusammengebracht und dort zu Grundpfeilern seines Gemeinwesens gemacht. Mögliche Spannungen zwischen den Interessen des Einzelnen und denen des Staates hatte er dabei in einem gemeinsamen Rechtsempfinden (iuris consensus) und in Nutzengemeinschaft (utilitatis communio) ausgeglichen. Platons Staatsutopie, der Politeía, lag hingegen noch eine Vorstellung von Gerechtigkeit zugrunde, welche den Nutzen grundsätzlich miteinschloss (vgl. off. III 20).

c. Die Schrift De officiis

Cicero hat diese letzte seiner philosophischen Schriften von Oktober 44 v. Chr. an auf seinem Landgut in Puteoli (heute Pozzuoli an der kampanischen Küste, westlich von Neapel) verfasst, bevor er sich Anfang Dezember nach Rom in seinen letzten politischen Kampf gegen Marc Anton, den früheren Kampfgefährten Caesars, begab. An seinen Sohn Marcus gerichtet, bleibt sie aufgrund der sich überschlagenden Ereignisse in der Stadt ohne abschließende Bearbeitung. Die Form des philosophischen Dialogs ist gegenüber früheren Schriften aufgegeben; die Abhandlung wendet sich direkt an seinen in Athen studierenden Sohn Marcus als Anleitung zum rechten Handeln und führt jedes ethische Verhalten im stoischen Sinne auf die Natur zurück: sie weckt im Menschen neben dem Streben nach Nutzen, welches allen Lebewesen zu eigen ist, den Wunsch nach sozialer Gemeinschaft (← De re publica).

Das erste Buch befasst sich mit dem Sittlich-Guten (honestum). Die Natur des Menschen fügt sich gemäß stoischer Lehre aus den vier Grundtrieben nach Erkenntnis, Gemeinschaft, Handeln und Maß; diesen entsprechen die Kardinaltugenden Klugheit (sapientia), Gerechtigkeit (iustitia), Tapferkeit (fortitudo) und Mäßigung (temperantia). Sittlich sind Handlungsweisen, die aus diesen einzelnen Triebkräften hervorgehen und – vernunftgesteuert – zu einer Harmonie im Ganzen führen und sie bewahren: in diesem Sinne sind die Pflichten definiert (I 15-17).

Folgerichtig unterscheiden Panaitios/Cicero vier Anwendungsbereiche des honestum, von denen sich der erste (sapientia, Erkenntnis) der menschlichen Natur, die drei anderen der menschlichen Gemeinschaft zuordnen. Von den drei ‚sozialen‘ Bereichen des honestum teilt sich der erste in iustitia (Gerechtigkeit) und beneficentia (Wohltun), die einander wechselseitig Grenzen setzen (I 42). Die Gemeinschaften sind abgestuft nach Menschheit im Ganzen, Volk, Gemeinde und Sippe; fundamental sind Ehe-, Bluts- und Freundesbande. Pflicht für die Gemeinde geht der beneficentia gegenüber dem Einzelnen vor (I 57). Auch für die Pflichten aus der Seelengröße (magnitudo animi), hier an die Stelle der fortitudo gesetzt, gilt ihre Anbindung an die Gerechtigkeit (I 65), und den Vorrang des zivilen Dienstes vor dem militärischen untermauern Beispiele aus der griechischen wie römischen Geschichte (I 75-78). Die Pflichterfüllung im Bereich von Maß und Ordnung garantiert zum Einen die Harmonie in allen Handlungsbereichen des honestum (I 96), zum Anderen entspricht sie im Besonderen dem Trieb zur Mäßigung und verwirklicht die Tugend der Selbstbeherrschung (temperantia). Für eine Individual-Ethik ergibt sich daraus, dass eine allgemeine Vernunftnatur alle Menschen miteinander verbindet (I 107), während der Einzelne seiner besonderen Veranlagung und Begabung, seiner sozialen Stellung und selbstgewählten Lebensbahn zu folgen hat, solange diese der allgemeinen Vernunftnatur nicht zuwiderlaufen. Und so gelangt Cicero zumindest teilweise auch zu einer Rangfolge von Formen der Sittlichkeit, welche Panaitios gar nicht thematisiert hatte: Pflichten gegenüber der Gemeinschaft gehen stets über solche, die aus dem individuellen Erkenntnistrieb erwachsen (I 153), stehen ihrerseits aber unter der Vorgabe von Maß und Ordnung (I 159).

Das zweite Buch behandelt das Nützliche (utile), aber auch hier bleibt der Wechselbezug zum Sittlichen stets wirksam: die ganze Vielfalt der Nützlichkeiten und Zwecke ist für den Menschen – auch mithilfe aller seiner natürlichen Gaben – nur erreichbar in der gemeinsamen actio (Tun) mit Anderen. Grundbedingung (II 21) für die benötigte Unterstützung sind Freundschaft (II 31 → Cic. Laelius De amicitia) und Ansehen, erworben werden diese durch die Gemeinschaftstugenden Wohltun (benevolentia, beneficia II 32) und Gerechtigkeit (iustitia II 38).

Im dritten Buch wird die Frage (bereits von Panaitios) gestellt, wie mit einem denkbaren Widerstreit zwischen honestum und utile umzugehen sei. Für den stoischen Weisen (und damit auch für Panaitios) erübrigt sich eine Antwort, weil nützlich nur sein kann, was zu Gutem führt, und allein das Sittlich-Gute ist wirklich gut. Cicero indes entwickelt eine Pflichtenlehre und damit eine praktische Ethik für den Normalbürger, welcher eine Handlung in ihrer Sittlichkeit wie in ihrem Nutzen oft gar nicht bis zum Ende überschauen kann, und gibt dafür eine formula (Regel, Norm) auf stoischer Grundlage (Poseidonios?) vor: einem Anderen etwas wegzunehmen und dadurch seinen eigenen Nutzen zu mehren, ist mehr gegen die Natur (auch des Individuums) als Tod, Armut und Schmerz, weil es das menschliche Zusammenleben und die Gemeinschaft aufhebt (III 21). Das Allen gemeinsame Naturgesetz (lex naturae) beinhaltet zugleich den gemeinsamen Nutzen Aller und verbietet, den Anderen zu verletzen (III 27). Die dafür gegebenen Fallbeispiele gliedert Cicero schließlich vage nach den vier Bereichen des honestum (III 96). Ist der Konflikt also nur ein scheinbarer, so beruht er auf falscher Einschätzung des Einzelnen, inwieweit etwa eine Handlung tatsächlich sittlich bzw. ob sie auch auf Dauer nützlich sein wird. Zugleich ist praktisches Handeln nicht nur Sache jedes Einzelnen, auch der Staat kann individuell, ‚als Einzelner‘ handeln müssen (III 46-49: dort auch ein klares Bekenntnis zu staatlicher humanitas gegenüber Fremdlingen) – praktische Ethik wird einmal zu angewandtem Völkerrecht werden.

d. Nachwirken

Der Kirchenvater Ambrosius, Bischof von Mailand, hat seine christliche Ethik De officiis (ministrorum – der Kirchendiener) Ende des 4. Jh. in unmittelbarer Anlehnung, teils wörtlicher Übernahme aus Cicero gebildet, wobei er Beispiele aus der antiken, sprich: römischen Geschichte durch solche aus dem AT ersetzt, um die ältere und höhere Autorität der jüdisch-christlichen ‚Weisheit‘ zu belegen. Die Schrift bleibt für die mittelalterliche Pflichtenlehre wegweisend.

Renaissance und Aufklärung entdecken die Humanität des ciceronischen Originals von Neuem, und für Voltaire am Hofe Friedrichs II. d. Gr. wie für die Moralphilosophie des 18. Jh. galt De officiis als vorbildliches ethisches Modell. Überhaupt entfaltet Cicero sein Nachleben nicht durch ein bestimmtes philosophisches Denksystem, eine Schule, einen Lehrsatz oder ein markantes Schlagwort – vergleichbar etwa dem Zon politikón des Aristoteles. Vielmehr wirkt er als politische, literarische und philosophische Gesamtpersönlichkeit, wirkt er insbesondere durch seine Fähigkeit, Fragestellungen in unterschiedliche Richtungen zu erörtern und verschiedene Lösungsansätze darzulegen, ohne eine Antwort dogmatisch vorzugeben. So ist er nicht nur auch für die Moderne der lateinische Unterrichtsautor geblieben, sondern darüber hinaus die öffentliche Gestalt, welche man – neben Caesar und Augustus – mit Römertum schlechthin assoziiert bis gleichsetzt.

Michael P. Schmude

 

Literatur

Bringmann, K., Cicero (Darmstadt 22014) [Gestalten der Antike, hg. v. M. Clauss]

Fuhrmann, M., Cicero und die römische Republik (München/Zürich 41997)

Giebel, M., Marcus Tullius Cicero (Reinbek 22013) [Rowohlt Monographie]

Grimal, P., Cicero: Philosoph, Politiker, Rhetor (München 1988).

Pina Polo, F., Rom, das bin ich. Marcus Tullius Cicero. Ein Leben (Stuttgart 2010)

Stroh, W., Cicero: Redner – Staatsmann – Philosoph (München 22010) [Beck-Wissen].