Griechisch und Europa

Zu-Griechisch-und-Europa  [aus:  Forum Classicum 49 (2006) S. 43-45]

Griechisch und Europa – dargestellt an ausgewählten Texten aus zwei Jahrtausenden. Hrsg. von Jochen Althoff und Friedrich Kuntz, Bad Kreuznach (PZ) 2005 [Impulse – Beiträge zum altsprachlichen Unterricht Bd. 12], 221 S. –

Dieser Band hat sowohl Lehrer und Schüler in ihrem Unterricht als auch allgemein Interessierte mit nicht (mehr) vorhandenen Griechisch-Kenntnissen im Blick und setzt sich damit in Aufbau wie Umfang von dem voraufgehenden, ersten umfassenden Zugriff auf Das Lateinische als Schlüssel zum Verständnis der politischen und geistesgeschichtlichen Entwicklung Europas von E. Visser1 ab. Auch wenn dieser ebenfalls in einer Textauswahl (Teil 1 für den Lehrer mit Einführung, neuer Übersetzung und vertiefender Interpretation, Teil 2 kommentierte Originaltexte aus allen europäischen Epochen) Wegmarken und geistigen Hintergrund der europäischen Geschichte für den Lateinunterricht bereitstellt, den zweiten ursprünglich geplanten, sprachlichen Schwerpunkt zum Lateinischen als Fundament für das Erlernen moderner Fremdsprachen einem weiteren Heft überläßt2, so teilen sich gleichwohl beide Bände in das Verdienst, die griechisch-römische Antike als kulturelle Basis der europäischen Moderne in einschlägigen Grundlagentexten verankert zu haben, und bleiben in diesem Sinne als Einheit zu sehen. Allerdings geht Griechisch und Europa insofern einen anderen Weg, als im Corpus der Originaltexte die griechische Literatur der vorchristlichen Zeit ausgeklammert bleibt, die Auswahl mithin jenseits der gängigen Autoren des Gymnasiums die griechischen Wurzeln Europas erst außerhalb der Klassischen über Spätantike und Byzantinisches Mittelalter bis in die Neuzeit des heutigen Griechenland und Europa trägt und dabei der Literatur erst einmal das griechische Substrat in den europäischen (gesprochenen wie Fach-) Sprachen (samt Alphabet)3 voranstellt sowie diese ins Verhältnis setzt (S. 8-45).

Das Buch besteht (zu zwei Dritteln) aus einem Sachteil, welcher in die drei übergeordneten Themen 1.) S. 8-76: Sprache und Literatur; 2.) S. 77-98: Mythos und Geschichte; 3.) S. 99-128: Orient und Okzident4 gegliedert ist, sowie einem Textteil: dieser überspannt anhand originaler Texte mit teils bereits andernorts veröffentlichten5, teils eigens hierfür und erstmalig angefertigten Übersetzungen sowie mitunter auch (überwiegend eigenen6) Einführungen, Erläuterungen7 sowie Anmerkungen8 die der Klassischen Antike folgenden Jahrhunderte vom Neuen Testament (Lukas: Weihnachts- und Pfingstgeschichte) über griechische Apologeten des 2. Jh. (Athenagoras, Diognet-Brief), Kirchenväter des 4. Jh. (Basíleios und Gregor v. Nyssa), die ‚Gegenbewegung‘ des Iulian Apostata (← Gregor v. Nazianz) und Liturgisches (Nicaenum von 325; I. Chrysóstomos † 407; Marienhymnus des Romanos, 6. Jh.), mittelalterliche Platoniker und Historiker an der Schwelle zur Neuzeit, aber auch politische Texte und Volkslieder (samt solchen einer ‚Subkultur‘: Rembetika), griechische Lyrik des 20. Jh. (K. Kavafis) bis zur modernen griechischen und Präambel schließlich der Europäischen Verfassung (S. 147-221).

Fundiert wird der Textteil durch voraufgehende, die genannten Großthemen (jeweils in einem A- und B-Teil) untergliedernde Kapitel zur Wirkungsgeschichte von Epos, Fabel, Lyrik, Geschichtsschreibung, Roman (im Wesentlichen nach dem Neuen Pauly) und Fachliteratur (M. Asper), zum griechischen Drama auf europäischen Bühnen9 sowie zu den philosophischen Schulen (M. Asper), S. 47-66; zum Mythos als Erzähl- und als Theaterstoff, als Motiv in Musik und Bildender Kunst, seiner Geographie (S. 77-83) – kurz: als Bestandteil eines Lehrplans Europäische Kultur10; zum Modellcharakter der Achäischen und Dorischen Wanderung für Völkerwanderungen, der Polis für das politische Denken Europas sowie zu ihrer Ausbreitung als Griechische Kolonisation im Mittelmeerraum (S. 87-91). Das Vermächtnis auch in Architektur, Frei- und Bauplastik sowie in der Malerei mündet in die bei aller Kürze souveräne Darstellung der Rezeption antiker griechischer Mythenquellen in der abendländischen Kunst- und Kulturtradition durch U. Reinhardt (S. 92-98). Frauenraub und Perserkriege, Ausbreitung unter Alexander d. Gr. im Hellenismus und Einheit unter dem Imperium Romanum, griechische Philosophie im christlichen Denken zeigen Griechenland als Brücke zwischen Ost und West (S. 100-04), während die Reichsteilung von 395 an zu getrennten Entwicklungen (S. Reitz, S. 105-28) führt.

Stellvertretend herausgegriffen aus dem Sachteil sei zum Einen die instruktive Einführung in die verschiedenen Sprachebenen des Griechischen und ihre Geschichte dreier Jahrtausende von G. Beckel und D. Müller11 (S. 67-76), welche den ersten lexikalischen Abschnitt ergänzt. Zum Anderen der vorzügliche und auch in seiner zwangsläufigen Knappheit gut lesbare Überblick von S. Reitz zum byzantinischen Humanismus Ostroms12 (seit etwa 324) sowie dem direkten (über eine nurmehr vereinzelte Originallektüre im Umfeld der iroschottischen Mönchskirche und ihrer Peregrini seit etwa 600 oder der karolingischen Renaissance des 9. Jh.) und indirekten (durch lateinische Übersetzungen, namentlich des Aristoteles, aus dem Griechischen und Arabischen seit der Scholastik des 12. Jh. insbes. in Unteritalien und Sizilien) Weiterwirken der naturwissenschaftlichen und philosophisch-theologischen Literatur der Griechen als Grundlage der Artes Liberales im Mittelalter und bis zu ihrer Wiedergeburt im Oberitalien des 14. Jh. sowie im Florenz und Venedig des Quattrocento (S. 109-17). Parallel dazu verläuft die syrisch-arabische Traditionslinie der medizinischen (Galen), astronomischen und logischen Originalschriften im Islam seit der Kapitulation Alexandrias 642 und der Verlegung von Schule und Bibliothek zunächst nach Antiochien, während der abbasidischen Renaissance im 9. Jh. ins ostsyrische Harran, und seit etwa 830 der Gründung einer Übersetzungsakademie in Bagdad (Hunain ibn Ishaq 809-873), mit dessen Eroberung 1055 durch Seldschuken der arabische Humanismus endet; sodann der Aristotelismus eines Avicenna (980-1037) in Persien, Averroes (1126-1198) im arabisch besetzten Spanien (Córdoba)13, von wo aus der Weg insbes. über andalusisch-kastilische Übersetzer seit dem 12. Jh. zurück in die europäische Renaissance führt (S. 118-23). Überwunden wird die Trennung schließlich in der Epanástasi des Jahres 1821 zum griechischen Nationalstaat (F. Kuntz, S. 123-28).

Für den Textteil stehe hier einmal die christliche Anleitung zur Pädagogik des Clemens von Alexandria (* um 150, S. 158), der Prolog der hochgebildeten Prinzessin Anna Komnene, Frau des Nikephoros Bryennios († 1137) und Schwester des Kaisers Johannes (1118-1143), über die Taten ihres Vaters Alexios (S. 184-88) oder die Sicht zweier byzantinischer Historiker unterschiedlicher Jahrhunderte auf die Eroberungen Konstantinopels durch die marodierenden Kreuzfahrer 1204 (Niketas Choniates) sowie den Sultan Mehmet II. 1453 (Kritobulos von Imbros), S. 189-93. Im philosophischen Bereich seien insbes. der Dekan der 1045 neugegründeten philosophischen Fakultät der Universität Konstantinopel Michael Psellos zu Platons Ideenlehre genannt sowie der seit 1393 von Mistra aus bis nach Florenz wirkende Neuplatoniker Georgios Gemistos Plethon (Über die Tugenden), S. 176-83, wobei man gerade hier gerne auf Einleitung und Kommentar wartet. Aus der zeitgenössischen griechischen Literatur am bekanntesten ist sicherlich Nikos Kazantzakis, nicht zuletzt durch seine Roman- (und Film-) Figur Alexis Sorbas (S. 210 f.)14, daneben (S. 211-16) die Lyriker und Nobelpreisträger Giorgos Seferis (1963) und Odysseas Elytis (1979).

An die Stelle eines Registers tritt das sehr detaillierte Inhaltsverzeichnis. Daß die Herausgeber neben mancher Pionierübersetzung15 im Epilog Darstellungsdesiderate aufgrund fehlender Bearbeiter bedauern, läßt andererseits immerhin eine – wünschenswerte – Fortführung dieses wichtigen und gelungenen, ebenso anregenden wie gar nicht abschließbaren Projektes erwarten, mit welcher das Griechische als fundamentum des modernen Europa um weitere Pfeiler bzw. die bestehenden um weitere (Auf-)Lagen verbreitert werden können.

Michael P. Schmude, Boppard

 

Anmerkungen:    1Impulse Bd. 11, Bad Kreuznach 1995, vgl. auch MDAV 38, S. 159.    2S. ibid., Vorbem. S. 1.    3Vgl. insbes. die Stemmata S. 21 (Griechisch ® Spanisch) und 45 Genealogie der Alphabete sowie S. 99.    4Für den Unterricht überaus ertragreich die Reihe zum Europabegriff der griechischen Antike von S. Reitz, S. 129-41.    5Etwa S. 160 f. Didaché von K. Wengst; S. 163 Gregor v. Nazianz aus den Éditions du cerf; S.167 Basilius v. Caesarea von W.-D. Hauschild.    6Anders etwa S. 154, 156.   7Wie S. 149-66, 194, 201-03, 207, 214.    8S. 188, 216, 220 f. 9Insbes. K. Eyselein zur Oper als Wiederbelebung des griechischen Theaters, S. 60-63.    10Ein fächerübergreifendes Projekt des Gymnasiums am Kaiserdom in Speyer von A. Lenz und B. Barg, Text erhältlich ebda., Große Pfaffengasse 6, 67346 Speyer, Tel.: 06232-67720 oder: kaiserdom-gymnasium@mannheim-netz.de.    11Hierzu desgleichen mit kommentierten Texten Impulse 7 (1990).    12Grundlegend nach wie vor H. Hunger: Die hochsprachliche profane Literatur der Byzantiner (München 1978, HdA.).    13Zu erwähnen hier der gleichfalls in Córdoba geborene, jüdische Religionsphilosoph Moses Maimonides (1135-1204).    14Nicht vertreten M. Theodorakis oder J. Ritsos (Verweise immerhin S. 201), dafür klingt (S. 206) der Archipoeta (CB 191) an.    15Wie S. 182 f. Michael Psellos: Platon zu den Ideen, vgl. auch Vorbem. S. 147.

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