Schlagwort-Archive: Rhetorik

Zu-K-J-Hölkeskamp-Libera-res-publica

Zu-K-J-Hölkeskamp-Libera-res-publica

Karl-Joachim Hölkeskamp: Libera res publica. Die politische Kultur des antiken Rom – Positionen und Perspektiven, Stuttgart (Steiner) 2017, 400 S., € 59 (ISBN 978-3-515-11729-6).

In zehn Beiträgen führt der Professor für Alte Geschichte an der Universität Köln K.-J. Hölkeskamp (H.) zum Einen seine 2004 in Stuttgart erschienene Sammlung SENATUS POPULUSQUE ROMANUS. Die politische Kultur der Republik – Dimensionen und Deutungen fort und begründet zum Anderen methodisch wie empirisch seinen „kulturalistischen“ (S. 7) Ansatz der Rekonstruktionen einer Republik. Die politische Kultur des antiken Rom und die Forschung der letzten Jahrzehnte (München 2004). Der hier anzuzeigende Band nun verknüpft wissenschaftsgeschichtliche Bestandsaufnahme mit gelebten Dimensionen republikanischer Politik. Ein durchgehender Roter Faden, welcher als übergeordnete Fragestellung die einzelnen Arbeiten miteinander verbindet, ist die Unterscheidung zwischen (theoretischer, gewollt-geplanter) politischer Konzeption und (praktischer, real existenter) historischer Wirksamkeit der Institutionen des römischen Staats in ihrem Ineinandergreifen und ihren Bedingtheiten viceversa.

In Th. Mommsens Römischem Staatsrecht (31887-88) ist dies der Gegensatz zwischen rechtlich-systematischer Form und historisch-realem Inhalt, bei Ed. Meyer (Römischer Staat und Staatsgedanke 41975) derjenige zwischen „wirklicher Bedeutung und streng rechtlich gefasster Funktion“ insbesondere des Senats: für Mommsen bildet die Magistratur – als zentrale Bezugsgröße der beiden anderen Instanzen Volksversammlung und Senat – den Ursprung staatlicher Ordnung und steht als „Verkörperung des Staatsbegriffs“ noch vor der „Volksgemeinde“ (Abriss des Römischen Staatsrechts 21907, S. 64); dabei enthebt sich das imperium der Amtsträger konzeptionell dem Wandel der Zeiten ebenso wie das ‚System‘ als solches, während die Verfassungswirklichkeit über Königszeit, Republik und Prinzipat auf eine stetige Abschwächung der (vormals einheitlichen und allein in sich selbst begründeten) Vollgewalt der Beamten hinauslief (H., S. 10 f.). Und das institutionelle Zentrum, aus welchem die Magistrate auf Zeit heraus-, sich gegenüber- und (hierarchisch jetzt aufgestiegen) wieder eintraten, war als „Zentralregierung der Gemeinde“ der Senat (S. 39 f.). Dem entgegen steht (S. 43 ff.) der Ansatz F. Münzers (Römische Adelsparteien und Adelsfamilien 1920), welcher – vieldiskutiert und gründlich widerlegt (S. 71) – in den politischen Bündnissen patrizischer (und führender plebeischer) gentes, deren Persönlichkeiten und Parteiungen (factiones) die eigentlichen, Generationen übergreifenden arcana imperii (Tac. ann. II 36, 1 / 59, 3) sieht – bis hin zur Übernahme der ‚Obermagistrate‘ als Ergebnis von Gruppenhändeln. Das Konsulat im Sinne eines Regierungskollegiums mit Entscheidungsgewalt wird indes bereits von M. Gelzer (1931) in Frage gestellt; dieser versucht sich andererseits mit seiner Nobilität der römischen Republik von 1912 als Gesellschaftshistoriker vom juristischen Übervater zu emanzipieren (dazu S. Strauß: Von Mommsen zu Gelzer ? Die Konzeption römisch-republikanischer Gesellschaft in „Staatsrecht“ und „Nobilität“, Stuttgart 2017).

Um das Konzept der ‚politischen Kultur‘ kreisen die folgenden Aufsätze: nicht mehr das Verfahrens- und Entscheidungshandeln von Institutionen oder Magistraten, nicht mehr die sozialen Grundstrukturen der politischen Ordnung und ihrer gesellschaftlichen Ensembles stehen im Mittelpunkt, sondern die ‚politische Grammatik‘ (Chr. Meier 1966) der römischen Republik, die Ritualsyntax ihrer performativen Vollzüge, das spezifische Vokabular ihrer Prozessionen (S. 73-105). Verhandelt werden Beziehung und Übertrag symbolischer Ansprüche vor einem System von Zeichen und Botschaften innerhalb des kommunikativen Dreiecks zwischen der durch den Anlass (einmalig) erhöhten Person, ihrer jeweiligen politischen Klasse und dem populus als institutionalisierter civitas – eine ‚Poetik der Macht‘, sichtbar etwa in den vielschichtigen Ensembles des Triumphzuges oder der pompa funebris, aber auch in den vorgegebenen Formen des Zusammentretens der Bürger, den comitia und concilia, auf der – im Idealfalle konsensualen – Grundlage „gemeinsamen Römertums“ (S. 242) der dramatis personae. Den Rahmen für dieses verwobene Ensemble von civic rituals als Herrschaftsform, für die Vernetzung von symbolisiertem Wertekanon und kultischer Praxis liefert die eigentümliche Stadtstaatlichkeit bürgerschaftlicher Einheiten wie Athen und Rom in der Antike, Florenz und Venedig in MA und Renaissance.

‚Prominenzrollen‘ (zwischen Patriziat und plebeischer Elite) und ‚Karrierefelder‘ in Kontinuität und Wandel (S. 107-122) – (kollektiver) Konsens und (individuelle) Konkurrenz: Analysemodelle zur Erklärung gesellschaftlicher Strukturen vom 4. Jh. bis zum Principat (S. 123-161) verfolgen die „Karriere eines Konzepts“ aus dem Blickwinkel neuerer Forschungsdiskussion weiter. Unter den Aspekten der Concordia contionalis: Mehrheitsentscheidungen und ihre Verhandlung in den Comitien des Volkes (S. 163-188), von Hierarchie und Konsens: Pompae in der politischen Kultur der Republik (S. 189-236), aber auch der Memoria (S. 237-271) in den zeitgenössischen Propagandamedien der monumenta oder der Münzprägung (S. 273-309) werden konkrete Kommunikationssituationen des öffentlichen Diskurses fortgeführt. Der Reigen schließt mit der politischen Kultur (in) der Krise (S. 311-327) und mündet in der Frage nach kausalen, funktionalen Zusammenhängen, veränderlichen Wechselbeziehungen oder einfach bloßem Zusammentreffen von Faktoren in der „letzten Generation“ der (überforderten ?) untergehenden Republik.

Die einzelnen Aufsätze sind unabhängig voneinander lesbar und zu unterschiedlichen Anlässen abgefasst, was Doppelungen in Einzelnem einschließt (e.g. S. 123, 311). Das Buch im Ganzen ist flüssig geschrieben, wobei Sprachduktus und Begrifflichkeit durchweg anspruchsvoll mit einhergehen. Die Erst- bzw. geplante Weiterveröffentlichung(en) sind zu Beginn jeden Beitrages und auf S. 390 vermerkt. Ein umfangreiches, alphabetisches Gesamt-Literaturverzeichnis (S. 329-387) sowie eingehende Personen- (modern-antik) und Sachregister schlüsseln den Band auf.

Michael P. Schmude, Lahnstein

aus: FORUM CLASSICUM 61 (2018), S. 145-146.

Rhetorik-und-Jugend-debattiert

Rhetorik-und-Jugend-debattiert

Rhetorik und Jugend debattiert im Altsprachlichen Unterricht

 von  Michael P. Schmude,  Boppard       DAU 48, 2+3 (2005) 94-96

 

Rhetorik ist überall – nicht nur in einschlägigen Situationen des schulischen Alltags wie Referat vor der Klasse, Vorstellung in der Schülermitverwaltung oder Debatte mit Lehrenden über die Note, auch in der Spracherlernungsphase begegnen die Schülerinnen bereits Rednern und ihrer Kunst: zunächst natürlich und an durchaus unterschiedlicher Stelle im Lehrbuch als Gegenstand von Sachtexten, vermitteln Forum oder Agora als Handlungsbühne öffentlichen Geschehens in den lateinischen bzw. griechischen Lektionen einen Eindruck von Erfordernis und Macht des gesprochenen Wortes1. Sprachreflexion, Übersetzungsarbeit und erste Beobachtungen zur Aussagefunktion von Stilmerkmalen schulen den bewussten Umgang mit den eigenen Ausdrucksmöglichkeiten, Lektüren (Reden Ciceros, in Caesars Commentarii, Ovids Metamorphosen oder [im Übergang zur 11] Sallusts Catilina) zeigen die rhetorisch-stilistische Form wie inhaltlich-argumentative Struktur literarischer Sprache in Dichtung und Prosa2, ergänzt durch Überlegungen zur Wirkung von Körpersprache3, und den Schülern wird ab einer gewissen Sprachkompetenz – zumal unter Hinführung durch die Lehrperson – bewusst, dass Redekunst sich nicht erschöpft an ihren klassischen Orten = vor Gericht, im Parlament oder vor der Festcorona.

 

Entsprechend setzt eine Unterrichtsreihe Jugend debattiert bereits ab der Klassenstufe 8 mit einem auf acht Stunden ausgelegten Kerncurriculum und weiteren bis zu sechs Vertiefungsstunden (Schwerpunkt: freie Rede vor der Klasse) ein, in welchem von den kanonischen Arbeitsgängen des Redners nach Cicero (de Or. I 142) und Quintilian (inst. III 3,1) – inventio, dispositio, elocutio, memoria und pronuntiatio – herkommend Debatten in ihren Bauteilen vorbereitet und als Ganze eingeübt werden. Unterschieden von der Debatte zur Klärung von (geschlossenen) Entscheidungsfragen praktischer Natur („Sollen Lehrer durch ihre Schüler benotet werden ?„, „Soll das Rauchen an Schulen generell verboten werden ?„) sind die Diskussion zur Klärung von (offenen) Sachfragen (Wer, wo, wie…?) sowie die Disputation mit ihrer theoretischen Fragestellung zur Klärung von Voraussetzungen (Alternativfragen – „Ist der Mensch eher durch Naturveranlagung oder durch Umweltfaktoren disponiert ?„), wenngleich die rednerische Praxis sich die Mischung zunutze macht. Vielfältige Erarbeitungstechniken kommen zum Einsatz: Fragenfächer (W-Fragen), Suchfenster nach Pro und Contra (neudeutsch mindmap), Begriffsbaum (Arbor Porphyrii) – die Anlage der Unterrichtsreihe ist fächerübergreifend und die solchermaßen eingeführte und erarbeitete Debatte als Unterrichtsform überall da anwendbar, wo sich Unterrichtsinhalte zu Entscheidungsfragen verdichten: Debattieren – die Königsdisziplin der Rhetorik.

 

In Latein wie Griechisch weist der Oberstufenlehrplan in Rheinland-Pfalz einen eigenen Platz für Rhetorik in Grund- wie Leistungskurslektüre aus: als historisch-politische Prosa lässt der Dialogus de oratoribus des Tacitus drei bedeutende Redner ihre Profession reflektieren und zugleich den Niedergang republikanischer eloquentia vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Veränderungen im Prinzipat erörtern. Unter dem Stichwort Bios werden theoretischer Programmatik (Isokrates, Aristoteles) Beispiele angewandter Redekunst (Gorgias‘ Helena, Agathon in Platons Symposion, Lysias, Paulus) in ihrem psychagogischen wie agonalen Charakter gegenübergestellt.

 

Der Kern des Unterrichtscurriculums Jugend debattiert ist in der Oberstufe identisch dem auf der Mittelstufe, Schwerpunkt der Vertiefungsstunden hier aber die begriffliche Präzisierung und Ausgestaltung der Argumente. Mit den Überzeugungsebenen der Rhetorik: Ethos – die Glaubwürdigkeit des Redners; Pathos – Gefühlsmanagement bei Hörer wie Sprecher; Logos – Argumentation und rhetorische Struktur sowie Kairós – rechter Augenblick oder passende Situation ist die Lektüreauswahl beider Alter Sprachen für die Oberstufe verzahnt4.

 

Der Debattierwettbewerb von der Schul- bis zur Bundesebene: im Klassen- wie Kursverband tragen je vier Debattierende zu einem Thema allgemeineren gesellschaftlichen Interesses in Eröffnungsreden von jeweils zwei Minuten ihren Standpunkt Für oder Wider vor; diese monologische Struktur wird in der anschließenden Freien Aussprache von einer dialogischen abgelöst, in welcher die Argumente (ohne Moderator) ungebunden, aber nicht ungeregelt aufeinandertreffen. Eine einminütige Schlussrede gibt einem/r Jeden Gelegenheit zu resümierender und begründender Bestätigung oder auch Korrektur der eigenen Position. Grundlegend für die Debatte wie für ihre Beurteilung durch eine Jury aus Mitschülern sind die Kriterien Sachkenntnis, Ausdrucksvermögen, Gesprächsfähigkeit und Überzeugungskraft.

Die beiden Besten einer/s Klasse/Kurses qualifizieren sich für den Schulverbundwettbewerb: hier messen sich Vertretende der drei schulartübergreifend in einem Verbund zusammengeschlossenen Schulen nach den gleichen Regeln und ermitteln auf Mittel- wie Oberstufe die jeweils zwei Kandidierenden für den Wettbewerb auf Landesebene. Mitglied der Jury (aus Schüler-, Eltern- und Lehrerschaft) ist hier5 stets auch ein Lehrstuhlinhaber für Klassische Philologie an der Universität Mainz. Die Anzahl der Schulverbünde und damit auch der Qualifizierten eines Bundeslandes für das Bundesfinale in Berlin schließlich richtet sich nach seiner Bevölkerungszahl.

 

Dr. Michael P. Schmude, Schillerstraße 7, D-56154 Boppard-Buchholz,

m.p.schmude@web.de, Landesbeauftragter Jugend debattiert Rheinland-Pfalz

 

 

Anmerkungen:

1Kantharos, hg. v. Elliger/Fink/Heil/Meyer (Klett, Stuttgart1982 ff.) lect. 6, 9, 30/36, 33, 45, 50, 58; Hellas, hg. v. F. Maier (Buchners, Bamberg 1996 ff.) cap. 34 und 42; Cursus Continuus A, hg. v. G. Fink / F. Maier (ebda. 1995 ff.) lect. 32 und 35; Lumina, hg.v. H. Schlüter (Vandenhoeck, Göttingen 1998 ff.) lect. 19 und 20. –

2Beispiele aus möglichen Mittelstufentexten, die nach dem System der antiken Rhetorik gearbeitet sind: Terenz, Ad. 26-81a (Micios Erziehungsprogramm), rhetorische Analyse dazu Vf. in: RhM N.F. 133 (1990) 298-310; Ovid Met. X 16-48 (Rede des Orpheus in der Unterwelt), dazu R. Glaesser in: AU 38,3 (1995) 29-39. – Rhetorik in Praxis (Cic. Sest.) und Theorie (de inv.) sowie geschichtliche Stationen ihrer Bewertung D. Schmitz ebda. 41-53. –

3Praktizierte Rhetorik – Gestik und Körpersprache in antiker und moderner Theorie: Quint. inst. XI 3, 92-120 – dazu P. Wülfing in: AU 36,1 (1994) 45-63. –

4Grundlegend für Geschichte wie System der antiken Rhetorik nach wie vor der Artikel <Rh.> von H. Hommel im LAW; Rhetorik und Rom in: AU 39,1 (1996); moderne Einführung G. Ueding /B. Steinbrink: Grundriss der Rhetorik. Geschichte, Technik, Methode (Stuttgart/Weimar 31994); umfassende Aufarbeitung aller Erscheinungsformen von und um Rhetorik in ihrer inhaltlichen wie geschichtlichen Entwicklung bis heute durch das vielbändige Historische Wörterbuch der Rhetorik (Tübingen 1992 ff.).

5Dazu im Einzelnen Vf. in: Profil 1-2 (2004) 16/18.

Zu-F-Montanari-History-of-Ancient-Greek-Literature

Zu-F-Montanari-History-of-Ancient-Greek-Literature

Franco Montanari: History of Ancient Greek Literature – Vol. 1: The Archaic and Classical Ages; Vol. 2: The Hellenistic Age and the Roman Imperial Period. With the collaboration of Fausto Montana. Transl. from the Italian Original by R. Barritt Costa and Orla Mulholland. Berlin / Boston (de Gruyter) 2022. XXIX & 1174 S., € 290,00 (ISBN 978-3-11-041992-4).

aus: FORUM CLASSICUM 66 (2023), S. 160-163.

Das zweibändige Werk, ursprünglich erschienen Roma 1998 (Laterza), in zweiter, erweiterter Auflage 2017 (Edizioni di Storia e Letteratura) umfasst in einer überaus gehaltvollen und auf das Klarste durchstrukturierten Darstellung die Geschichte der griechischen Literatur in ihren Gattungen, Autoren und Erscheinungsformen von Homer bis Synesios von Kyrene. Biographien und Werke werden ebenso wie deren Sitz im literarischen und gesellschaftlichen Leben nach allen Seiten in ihre Epochen eingebettet und errichten ein minutiöses Gesamtbild der griechischen Antike von der Mykenischen Zeit, den Hellenic Middle Ages und der Dorischen Wanderung (‚Rückkehr der Herakliden‘) bis in die römisch dominierte Spätantike.

Die – ausweislich eines 27seitigen Inhaltsverzeichnisses auf ein Maximum an Detail angelegte – Gliederung folgt in kleinsten Schritten der ‚klassischen‘ Ordnung (welche hier bestenfalls summarisch angedeutet werden kann): eine Introduction zeichnet die Perioden der griechischen Sprache und ihrer Phänomene (Dialekte, Koiné), Text- und Überlieferungsgeschichte nach. The Archaic Age teilt sich in Epik, Lyrische Dichtung, Philosophie und Historiographie sowie Fabel. The Classical Age führt die Vorsokratiker fort und über das frühe Drama (Alte Komödie und Aischylos) zur Sophistik und Sokrates sowie zum klassischen (demokratischen) Theater einerseits, zu Epos und Lyrik des 5. und 4. Jh. v. Chr. andererseits. Von der Medizin der Zeit zeugen die Hippokratische Schule, (nach den Logographen) für die Geschichtsschreibung Herodot als father (seit Cic. leg. I 5) und Thukydides als Begründer der politischen Monographie. Die klassische Rhetorik des 5. Jh. (Lysias), die nachthukydideischen Historiker (Xenophon), Redekunst (Isokrates, Demosthenes) und Nachsokratiker (Alte Akademie und Peripatos) des 4. Jh. leiten über zur folgenden Epoche des Hellenistic Age. Hier stehen zunächst die Neue Komödie (Menander) und Tragödie sowie die Alexandrinische und Pergamenische Philologie, Textkritik und Grammatik. Die Dichtung des Hellenismus repräsentieren als Leuchtturm Kallimachos, daneben Apollonios von Rhodos (Epos), Theokrit (Bukolik) und Herondas (Mimiambus), den philosophischen Sektor bestimmen die Schulen der Skepsis (Akademie), Epikurs und die Frühe wie Mittlere Stoa. Es folgen Wissenschaft (Mathematik und Mechanik, Astronomie und Medizin), Rhetorik (Asianismus vs. Attizismus) und Historiographie (Alexander-Historiker, Polybios, Diodorus Siculus) sowie die jüdisch-alexandrinische Literatur (LXX). In The Roman Imperial Period faltet sich die griechische Literatur – auch in Richtung Fachschriftstellerei – weiter auf: Rede- und Stilkritik, professionell nunmehr in Rom, werden vertreten durch Dionys von Halikarnass, den Autor von Perì Hýpsous, Demetrios und Hermogenes von Tarsos, Geschichtsschreibung (nochmals Dionys sowie Cassius Dio oder dann im Übergang zum MA Prokop von Caesarea) und Geographie (Strabon, Cl. Ptolemaios) um die Peri(h)egetik (‚Reiseführer‘ – Pausanias) ergänzt; ein Solitär bleibt Plutarch aus dem boiotischen Chaironeía. Zugleich treten im 1. Jh. und im Umfeld der NTlichen Schriften jüdisch-christliche Autoren (Philo von Alexandria, Flavius Iosephus) auf, während die philosophisch-wissenschaftliche Literatur die Schulentwicklung aus dem Hellenismus fortführt (Plotin und der Neuplatonismus auf der einen, Galen oder Artemidor von Daldis auf der anderen Seite). Die Zweite Sophistik (im Geiste des Attizismus) verbindet einmal mehr Beredsamkeit und Philosophie (Dion von Prusa ‚Chrysostomos‘, Aelian aus dem latinischen Praeneste), und mit Lukian von Samosata erfolgt der Übergang zur narrativ-fabulierenden Novellistik des griechischen Romans (Longos, Heliodor oder die aisopischen Mythiamben des Babrios). Die kaiserzeitlichen Kompendien, alle Bereiche der kommenden Artes liberales betreffend, reichen von den Grammatikern Apollonios Dyskolos und Aelius Herodian (2. Jh.) bis zum Florilegium des Johannes Stobaios im 5. Jh. Ein nochmaliges Wiederaufblühen erlebt die Rhetorik in der ‚Späten Sophistik‘ des 4. Jh., attizistisch orientiert an den klassischen Vorbildern wie Demosthenes und bereits eingegliedert in die Auseinandersetzung zwischen Heiden- und Christentum nach der Konstantinischen Wende (Libanios von Antiochia). Einen Niedergang hingegen verzeichnet die Dichtung; im Bemühen, überlieferte Muster neu zu beleben, heben sich unter ihren Gattungen Epigramm und Epos hervor, letzteres insbesondere in Form des narrativen (Nonnos, Musaios) und Lehrgedichts, desgleichen orakelnde Hexameter der Sibyllen und spirituelle Hymnen aus dem Umfeld der Mysterienkulte (Orphiká). Zweigeteilt ist das letzte Kapitel über die griechisch-christliche Literatur – in die Phase vor Konstantin: Apostolische Väter, Apologeten, Märtyrerakten, Gnosis und Alexandriner (Clemens, Origenes) sowie in diejenige als Staatsreligion: Arianer, Eusebios von Caesarea, syrisch-palästinische und kappadokische Väter, Antiochener (Johannes Chrysostomos) und das Ende der Schule von Alexandria.

Die Epochenabschnitte im Großen beginnen mit einen historischen Überblick (The Period) und bestimmen die politischen Grundzüge der Zeit: so das Classical Age mit der Definition der namensstiftenden Idee sowie einer Beschreibung Griechenlands nach den Perserkriegen und in der ersten Hälfte des 5. Jh.; es folgen dort eine Behandlung des Perikleischen Zeitalters, des Peloponnesischen Krieges und griechischen Westens, sodann eine Darstellung der Hegemonie Spartas in der ersten und des Zugriffs Makedoniens auf Gesamtgriechenland in der zweiten Hälfte des 4. Jh., bis – wie stets – mit einer Vue d‘ensemble über die literarischen Gattungen der Schritt zum ‚eigentlichen‘ Thema geleistet wird.

Die entsprechenden Kapitel leiten methodisch zunächst in das jeweilige Génos bzw. die maßgebende geistige Strömung ein und verankern diese sodann in ihrem sozialen Umfeld. Es folgen – in zeitlicher Ordnung – die einzelnen Autoren, Leben und Werk(e), ggfs. verbunden mit Bemerkungen zur Textüberlieferung, schriftstellerische Merkmale (regelmäßig wiederkehrende Kapitel zu Komposition und Gehalt, überall zu Language and style; wo neu, auch zur Metrik), Rezeptionsgeschichte. Bei größeren Zusammenhängen, beispielsweise Hellenistische Dichtung (= Kap. IV der betreffenden Epoche), werden strukturähnliche Untergliederungen vorgenommen, hier: (2 ff.) Elegie und Epigramm – Kallimachos – Lehrdichtung – Epos – Bukolik – Tradition und Neuerung – Mimus, und innerhalb deren wiederum ein vergleichbarer Aufbau. Die engmaschige Führung in allen Abschnitten, gestützt durch Kopfzeilen: links Kapitel (Archaic Greek Epic), rechts Untergliederung (Epic cycles and post-Homeric epic), sorgt in der fortlaufenden Lektüre für kontinuierliche Orientierung; der Verzicht auf jegliche Fußnoten bzw. Anmerkungsapparat sowie eine klare und jederzeit wohlverständliche Sprachgestalt geben das Ihre hinzu.

Auch die Werkbeschreibungen im Einzelnen fügen die opera wiederum in ihren historisch-politischen Kontext (Paradebeispiel: Aristophanes) ein. Forschungsprobleme erfahren angemessene Diskussion: die Homerische Frage – Autorschaft und Genese aus der Oral poetry (Homer und die Homeriden von Chios), Weitergabe (Rhapsoden) und verbindliche Sammlung (Peisistratiden) der Gesänge wird (S. 108-126) von den antiken Quellen an (literarischen Zeugnissen; dazu Kommentaren und Scholien, insbesondere der Alexandriner) in allen wesentlichen Stationen der Debatte über Humanismus und Renaissance bis in die Philologie der Moderne (vom Unitarismus Aristarchs von Samothrake [→ S. 779 vs. Chōrizóntes] zum Analytical criticism des Abbé d‘ Aubignac) und Gegenwart bündig zusammengefasst. Die Theognideische stellt (S. 204 f.) die Frage nach Herkunft und Zusammensetzung des – im Vergleich zur Überlieferung anderer frühgriechischer Lyriker (von Pindar einmal abgesehen) – umfangreichen Corpus an (politischen – moralischen – Liebes-) Elegien aus unterschiedlichen Zeiten und dichterischen Anlässen, die Herodoteische (unitary vs. evolutionary criticism, S. 563-566) wie die Thukydideische (S. 580-583) – besonders im 20. Jh. – nach Einheit oder Komposition des Werks und Kontinuität seines Geschichtsbildes. Die Figur des historischen (→ Aristoph. Wolken) wie des literarischen (Platon, Xenophon) Sokrates hat von jeher Fragen aufgeworfen; M. sichtet (S. 418-421) akribisch und kritisch die Quellen zu Beiden – Parallelen zu Jesus von Nazareth in seiner Zeit und im Kontext der Schriften des Neuen Testaments und der jüdisch-christlichen Historiker (Josephus, Lukas; S. 1005, 1013 ff.) liegen auf der Hand. Der auf Aristophanes von Byzanz und Aristarch (s.o.) zurückgehende Kanon der Zehn Attischen Redner steht bei Dionys von Halikarnass (S. 946 f.) vor Augen, wird für Caecilius von Caleacte (Sizilien) reklamiert (S. 948) und unter (Ps.-?) Plutarch (S. 998) erwähnt. Man wünschte sich, bei aller Fragwürdigkeit solcher im Hellenismus einsetzenden Auswahlen, doch – nicht zuletzt aus dem Blickwinkel bereits antiker Literarkritik – an gegebener Stelle noch einige Bemerkungen zum Kanon der Neun Lyriker des Antipatros von Thessalonike (Anth. Pal. IX 184 und 571; Quint. X 1, 58-67, auch bei Dion. Halikarn. und Hermogenes), entweder bei den Dichtern selbst oder bei den alexandrinischen Gelehrten (→ S. 780). Nach Sappho (S. 223 ff.) behandelt M. (S. 280 f.) mit Corinna, Telesilla und Praxilla weitere Lyrikerinnen aus deren Kanon des gleichen Antipater (Anth. Pal. IX 26). Sorgsam entflicht er den Epischen Kyklos aus den Verästelungen seiner Einzelstränge und verweist auch auf gänzlich Verlorengegangenes (Herakléis, Theséis): die ‚homerischen‘, nicht-kyklisch angelegten Großepen setzen den trojanischen Sagenkreis inhaltlich voraus (S. 139), bleiben dichterisch aber eigenständig (Aristoteles, Poet. 1451 a 16-35); stofflich-genealogisch auf Theogonie und Titanomachie, Argonauticá und Thebanischen Kreis folgend, verdankt sich der Troianische in der uns vorliegenden Form mit Kýprien, Aithíopis, Kleiner Ilias, Iliupérsis, Nóstoi und Telegonía maßgeblich der Chrestomathía des Proklos (2. Jh., S. 134). Bei Alldem finden sich nicht nur Literarisch-Philologisches im großen historischen Rahmen, sondern auch sprachgeschichtliche Gesichtspunkte durchgehend berücksichtigt, dazu Archäologisches, soweit für die literarische Entwicklung von Bedeutung (etwa Schliemann, Korfmann und Homer, S. 64-68). Mit Bd. 2 und dem Hellenismus wird die Rezeption zum regelmäßigen Gegenstand von M.s History.

Die ausführliche Behandlung endet dann vergleichsweise unvermittelt: der Übergang zur byzantinischen Ära des Oströmischen Reiches und damit in die griechische Sprache und Literatur des MA bleibt mithin einem kommenden Band dieser verdienstvollen Gesamtschau vorbehalten. Ein Literaturverzeichnis als solches – im Allgemeinen wie zu Einzelnem – fehlt. Am Ende des (in durchlaufender Paginierung gehaltenen) zweiten Teiles stehen eine von E. Squeri gefertigte und alphabetische geordnete Bibliography of Translations (unter denen die Loeb Classical Library [Cambridge MA] klar dominiert) sowie ein Index antiker bis moderner Autoren, nicht allerdings ein Sach- oder etwa geographisches Register – möglicherweise wegen des äußerst genauen Inhaltsaufrisses als entbehrlich angesehen. Die Intention dieses bei allem Umfang doch kompakten und übersichtlichen Werkes von F.M. ist eindeutig die Darstellung, nicht die sekundärliterarische Aufarbeitung oder Dokumentation eines Forschungsstandes; gleichwohl gehört es gerade darum als Alles bis ins Detail überspannende Leseausgabe in die Hand eines/r Jeden innerhalb wie außerhalb von Schule oder Universität an der griechischen Literatur Interessierten.

Michael P. Schmude, Lahnstein

Prosodie – Metrik – Rhythmus in der antiken und nachantiken Literatur

Prosodie-Metrik-Rhythmus

Prosodie – Metrik – Rhythmus                                                                                in der antiken und nachantiken Literatur

von     Michael P. Schmude                                  

 

Inhalt: Prosodie S. 1-17; Metrik S. 17-33 [Appendix 1: Zäsur S. 33-49]; Rhythmus S. 49-79 [Appendix 2: Synkope S. 79-85].

[Vorbemerkung: überarbeitete und fortlaufend ergänzte Fassung der entsprechenenden Artikel im HISTORISCHEN WÖRTERBUCH DER RHETORIK, hg. von Gert Ueding (Tübingen und Berlin/Boston 1992-2015); M.P. Schmude <Materialien zur römischen Metrik (Bad Kreuznach 1994) [Impulse – Heft 10]> sowie <Einführung in die lateinische Prosodie und Metrik> (Mainz 2013), in: Impulse – Heft 15, S. 79-89.]

 

Die vollständige Fassung (85 pp.) der hier jeweils nur angerissenen Artikel findet sich unter obenstehendem (grünen) Link → auf der ‚Innenseite‘ …

 

Prosodie: (griech. prosōdía; lat. accentus, sonus vocis, tenor; engl. prosody; frz. prosodie; ital. prosodìa)

A. Definition, Bereiche.

B. Historische Entwicklung. – I. Antike. – II. Mittelalter. – III. Neuzeit.

Definition, Bereiche. Im etymologisch ursprünglichen Wortsinne bezeichnet der Begriff pros-ōdía einen Zu-gesang, innerhalb der antiken griechischen Chorlyrik ein Prozessionslied, bei feierlichen Anlässen zu Flöten- oder Zitherbegleitung gesungen, Kultgesänge insbesondere für Apoll [auch Paian], unter deren Autoren neben Bakchylides für Pindar zwei [fragmentarisch erhaltene] Bücher <Pros[h]ódia> bezeugt sind) allgemeiner sodann das dem bloßen Laut Hinzu-getönte, wie im lat. ac-[aus ad-]centus [canere: singen], bzw. der Verweis auf Betonungs- oder Intonationsverhältnisse in Wort und Satz, in Lyrik und Prosa.

Dem musikalischen Akzent der griechischen Sprache entsprechend handelt es sich hierbei zunächst um die Hervorhebung einer Silbe durch Änderung der Tonhöhe oder Lautstärke; doch während der lateinische Terminus accentus auf diese primäre Betrachtung begrenzt bleibt, dehnt sich seit Aristoteles und nach ihm in hellenistischer Zeit (Alexandrinische Grammatik) <Prosodie> auf „suprasegmentale“ (d.h. größer als lautliche, mehrere Lauteinheiten überlagernde) Merkmale wie Aspiration und Silbenlänge aus und umfasst als phonetisch-phonologische Kategorie schließlich in­sgesamt Akzent, Intonation und Sprechpausen, Quantität, Rhythmus und Sprechge­schwindigkeit.

Mithin ergeben sich für die Prosodie drei Bereiche:

  1. Als Lehre von der Behandlung der Sprache im Vers (Metrik), als „Gestaltung der Sprache durch die musische Form, Rhythmus in Silbenstärke und -dauer“ (v. Wilpert) thematisiert Prosodie die metrische Größe der Silbenbetonung (Akzent) durch Tonhöhe (musikalischer oder Ton-A.), Tonstärke (dynamischer, exspiratorischer oder Druck-A. [der germanischen Sprachen]) oder Tonlänge (Quantität oder temporaler A. [der antiken Sprachen]) und ist mit der Aspiration ebenso wie mit der Natur, der Dauer und dem Verhalten der Silben im Wort befasst.
  2. Im Rahmen der Rhetorik verweist der Begriff <Prosodie> auf den Sprech- bzw. Prosarhythmus, innerhalb des oratorischen Arbeitsganges der pronuntiatio auf Betonung und Aussprache, Intonation und Akzentsetzung, Abweichung vom usuellen Betonungsmuster bei spezifischen Sprecherintentionen, auf Periodenbau sowie auf Lautstärke, Tonhöhe oder Pausen.
  3. Linguistische Prosodie behandelt sprachliche Eigenschaften und Merkmale, welche sich auf größere Einheiten als einzelne Phoneme beziehen (suprasegmentale [s.o.] bzw. prosodische Merkmale). Hier steht Prosodie auf einer Ebene zwischen Phonologie und Syntax, bezieht sich auf Laute, Silben, Wörter und Sätze.

 

Metrik: griech. metriké téchnē – Lehre von den Versmaßen und strukturbildenden Gesetzmäßigkeiten der Dichtersprache. Für die rhetorische Kunstprosa gewinnt die Verslehre insofern Bedeutung, als metrische Phänomene hier bewusst zur klanglichen Untermalung oder Verstärkung des auszudrückenden Gedankens herangezogen werden. Im System der Rhetorik somit Bestandteile des Ornatus (Redeschmuck) – hier: in verbis singulis –, sind diese in den Arbeitsgängen des Redners als Tugend der Elocutio, der sprachlichen Ausformulierung und Stilisierung, sowie der Actio / Pronuntiatio, dem Vortrag, zuzuweisen.

A. Definition: I. Metrum und Rhythmus. – II. Rhetorische Aspekte der Metrik.

B. Historische Entwicklung: I. Antike. – II. Mittelalter. – III. Neuzeit.

Definition. I. Metrum und Rhythmus. Innerhalb der M. als umfassender Vers- und Strophenlehre bezeichnet métron, metrum (Versmaß) in einem weiteren Sinne das Aufbauprinzip des Verses nach Quantität oder Akzent, bestehend aus einer regelmäßigen Abfolge von Versfüßen (pedes), in einem engeren Sinne diese pedes selbst als kleinste strukturgebende Einheiten poetisch gebundener Sprache. Die wichtigsten Gliederungsprinzipien der M. sind das quantitierende (nach langen und kurzen) der griechisch-lateinischen M. und das akzentuierende (nach betonten und unbetonten Silben) der deutschen und englischen M.; das silbenzählende der romanischen M.en sowie das akzentzählende Prinzip bilden die rhythmische Gestalt des Verses durch eine feste Anzahl von Silben überhaupt bzw. betonten Silben. Über die M. hinaus führt die Beobachtung, dass (im Griechischen und Lateinischen) jede sprachliche Äußerung in einer „irgendwie gearteten Abfolge von langen und kurzen Silben“ besteht, deren kunstgemäße Gestaltung sowohl die ars poetica als auch die ars rhetorica zum Gegenstand haben. Die kleinste, in Hebung und Senkung geregelte Abfolgeeinheit langer und kurzer Silben ist der pes, welcher nach verschiedenen Typen unterschieden wird: iambus, trochaeus, dactylus; anapaestus, spondeus … Der Unterschied zwischen den beiden artes besteht darin, daß die poetica die gesamte sprachliche Äußerung in eine regelmäßige Abfolge von Versfüßen fasst und damit das metrum konstituiert, die rhetorica dagegen in einer freieren Anordnung quantitierender oder akzentuierter Silben ihr sprachliches ‚Rohmaterial‘ durchgliedert, besonders aber das Kolon- bzw. Periodenende metrisch fügt (Klausel) und so für den oratorius numerus, den Prosa-Rhythmus sorgt. In der Dichtung wird Rhythmus durch die Spannung zwischen (wiederkehrender) metrischer Festlegung und (wechselnder) sprachlicher Füllung hergestellt, hält das metrum sozusagen das äußere Schema für den Rhythmus als Innenleben bereit. Dabei ist – historisch gesehen – für die antike Theorie der rhythmós allgemein jeder durch zeitliches Regelmaß gegliederte Bewegungsablauf, das métron der an das sprachliche Material gebundene Versrhythmus, während das Mittelalter mit rhythmi akzentuierende (lateinische und deutsche) Dichtungen im Unterschied zu den quantitierenden (lateinischen) carmina metrica, mithin verschiedene Versprinzipien bezeichnete.

 

Appendix 1:  Zäsur: (griech. tomḗ – von témnein ’schneiden‘; lat. caesura; engl. c(a)esura; frz. césure; ital., span. cesura).

A. Definition, Bereiche: 1. Allgemein. – 2. Sprach- und literaturwissenschaftlich. – 3. Antike griechisch-lateinische Metrik. – 4. Zäsur in der Musik. – 5. Klassifizierungen der metrischen Zäsur. – 6. Komma und Kolon. – 7. Zäsur in der Rhetorik.

B. Historische Aspekte: I. Antike. – II. Spätantike und Mittelalter. – III. Neuzeit.

Definition, Bereiche. 1. Der Begriff Z., abzuleiten etymologisch wie semantisch aus lat. caesura, ‚Hieb‘, ‚(Ein-)Schnitt‘ – von caedere ’schlagen‘, ‚hauen‘ (das 17. Jh. kennt ‚Caesur‘ bzw. ‚Zäsur‘ als Fachausdruck der Metrik), bezeichnet im heutigen allgemeinen Sprachgebrauch einen ‚Einschnitt‘, welcher einerseits zeitlich aufgefasst wird und ein außergewöhnliches, eine bestehende Epoche oder eine biographische Einheit, eine Entwicklung ablösendes Ereignis, einen historischen Wendepunkt markiert, und sich andererseits auf einen Sinneinschnitt oder eine Pause innerhalb eines Textes oder Vortrags beziehen kann (diese Bedeutungserweiterung entwickelt sich anfangs des 20. Jh.).

2. Ähnlich bezeichnet die Z. als sprach- und literaturwissenschaftlicher terminus technicus hörbare (→ Phonetik), also rhythmisierende und segmentierende ‚Einschnitte‘ (Pausen) innerhalb eines Verses oder eines längeren Satzes, welche – bei Sprecher wie Hörer – im künstlerischen Vortrag von Dichtung ebenso wie von rhythmisierter Prosa, in der Rezitation eines Textes oder auch einer Periode (z.B. in Prosareden) als Unterbrechung des Redeflusses zur Geltung kommen.

 

Rhythmus (griech. rhythmós; lat. numerus, oratio numerosa, auch impressio oder cursus; engl. rhythm; frz. rythme; nombre; ital. und span. ritmo)

A. I. Definition, Bereiche und Abgrenzung. – II. Musikwissenschaft. – III. Sprach- und Versrhythmus.

B. Historische Entwicklung. – I. Griechische Antike. – II. Römische Antike. – III. Spätantike und Mittelalter. – IV. Renaissance und Neuzeit.

Definition, Bereiche und Abgrenzung. In vorklassischer und vorsokratischer Terminologie bedeutet der Begriff Rh., der wohl nicht von rhéō (ich fließe) als <Bewegungsfluss>, sondern eher von erýō (ich ziehe [z.B. die Bogensehne an]) als <Spannungsgefüge [welches einer Bewegung Halt und Begrenzung verleiht]> abzuleiten ist, zunächst <Gestalt, Anordnung>. Zusammen mit dem Klang wirkt er über die sinnliche Seite der Sprache (Fuhrmann), ist, allgemein verstanden, <wohlgefällige Gliederung sinnlich wahrnehmbarer Vorgänge> (Saran), <Gliederung der Zeit in sinnlich fassbare Teile> (Heusler) oder <harmonische Gliederung einer lebendigen Bewegung in der Zeit> (v. Wilpert), mithin Grundlage natürlicher Lebensvorgänge und darum als mikro- wie makrokosmisches Ur-Phänomen sowohl auf rhythmische Grunderfahrungen des Menschen in seiner eigenen (Atmung und Herzschlag [unwillkürlich] oder Gehen und Springen [willkürlich]) und in der ihn umgebenden Natur (Welle, Pendel) als auch auf kosmische Gesetzmäßigkeiten (Gezeiten, Tag-Nacht, Sommer-Winter, Geburt-Tod) zu beziehen (Bio-rhythmik). Das sich aus Beobachtung wie Empfinden derartiger, in ähnlichem Ablauf wiederkehrender Zyklen heraus entwickelnde Zeitgefühl wird auf Sprache übertragen und konstituiert – analog zum Tanz – auch hier den Rh. als <nach Akzent, Tempo- und Tonstufen geordnete Sprachbewegung> (Kauffmann), als <Träger der zeitlichen Durchgliederung des Sprachstroms>. Etwa seit PLATON ist er als kunsttheoretischer Terminus technicus in die Musik integriert und bedeutet als táxis kinḗseōs (Ordnung der Bewegung) die unmittelbar aus der Sprache entnommene zeitliche Ordnung des Musikalischen; ARISTOXENOS, ein Schüler des Aristoteles, spricht abstrakter von der chrónōn táxis, der Ordnung von Zeiteinheiten.

Als zeitliches Struktur- und Gestaltungsprinzip, als <Urbedürfnis des ordnenden Menschen> (v. Wilpert) ist dem Rh. stets auch das Moment der Intentionalität zueigen, worin er zusammenfassende, begrenzende, verdeutlichende Aufgaben erhält. In Kult und Ritus, Tanz und Spiel, aber auch in alltäglicheren Bewegungsabläufen etwa im Arbeits- oder Marschlied, entfaltet er elementare gemeinschaftsstiftende Kraft, für Platon in der chorischen Kunst, der Orchestrik, mit ihrer Einheit von Wort, Musik und Körperbewegung durchaus erzieherische Wirkung, zumal allein die menschliche Natur über die aísthēsis táxeōs (Gespür für Ordnung) verfüge. VITRUV verankert (um 25 v. Chr.) den Rh.-Begriff ästhetisch als Maßverhältnis von Raum und Zeit in der Architektur, der spätantike, neuplatonisierende Musiktheoretiker ARISTEIDES QUINTILIANUS, Aristoxenos folgend, auch in den Bildenden Künsten überhaupt. Objekte oder Formen können sich dort zu rhythmischen Kompositionen anordnen.

 

Appendix 2 Synkope: (griech. syn-kopḗ; lat., engl., frz. syncope; ital. sìncope; span. síncopa).

A. Definition

B. Historische Aspekte. – I. Antike und Mittelalter. – II. Neuzeit.

Definition. Die S. (von griech. syg -kóptein; dt. ursprgl. zusammenschlagen) gehört allgemein zu den Möglichkeiten, ein als linear ausgedehnt verstandenes Phänomen (Haus, Strecke; Satzfolge, Satz, Wortform) durch Wegnahme eines oder mehrerer Bestandteile (Steine; Silben, Buchstaben) zu ändern. Dabei ist sie nach der Stelle dieser Wegnahme im linearen Ablauf des Phänomenganzen zu unterscheiden von der Aphärese (aph-[h]aíresis; lat. aphaeresis), der Wegnahme vom Anfang (raus statt heraus), sowie von der Apokope (apo-kopḗ; apocopé), der Wegnahme vom Schluss (z.B. Ausfall des Dativ –e): als Wegnahme aus der Mitte bezeichnet die S. in einem engeren, linguistisch-grammatischen Sinne die Subtraktion phonologischer Elemente im Inneren eines Wortes, die Ausstoßung eines unbetonten Vokals oder einer unbetonten Silbe aus artikulatorischen, grammatischen oder metrischen Gründen (gehn statt gehen, hörn statt hören; andre statt andere, ewger statt ewiger), auch wegen höheren Sprechtempos (<Allegro-Formen>: griechisch tí pote [was immer] ® homerisch típte; lateinisch viridis [grün] ® vulgärlateinisch virdis ® französisch verde). Im System der Rhetorik ordnet sich die S. innerhalb der vier Änderungskategorien, der quadripartita ratio Quintilians, der Modifizierung eines Wortes <per detractionem> zu. Wenngleich als absichtsvolle Änderung Gegenstand auch der dispositio, ist sie unter dem ersten Stilgebot der Latinitas (in verbis singulis) – nach Maßgabe des vierten: Aptum – eine Option der elocutio: dabei kann sie als aus metrischen Rücksichten und poetischer Lizenz geduldeter oder wegen des ornatus gar gesuchter metaplasmus wie als fehlerhafter (élleipsis: Mangel, Zuwenig – wieder: per detractionem) barbarismus auftreten. Quintilian nennt sie aber auch <figura in verbo>, womit sie zu den Mitteln des Ornatus zählt, des dritten Stilgebotes. Die Poetik, hier: die Metrik behandelt die S. als sprachliches Phänomen im Rahmen der Prosodie, versteht unter einer S. aber auch die Unterdrückung einer Senkung im Verssystem, z.B. bei Aischylos im iambischen Trimeter. In der Musiklehre führt die – an das Taktprinzip gekoppelte – S. (belegt seit 1631) zu einer rhythmischen Akzentverschiebung gegenüber der regulären Takt- oder Betonungsordnung, indem ein unbetonter Zeitwert (auch über die Taktgrenze hinweg) an den folgenden betonten gebunden wird, eine leichte Zeit die schwere gleichsam vorwegnimmt. Auf dem gemeinsamen Feld prosodischer Gestaltung in Dichtung wie Musik dient sie in geradezu expressionistischer Manier der Darstellung emotionaler Intensität mit den Mitteln von Rhythmus und Melodie. Als medizinischer Terminus bezeichnet die S. schon in der Antike Zusammenbruch und Entkräftung, insbes. einen Ohnmachtsanfall infolge mangelhafter Durchblutung des Gehirns bei Kreislaufkollaps.

Ausonius-ein-spätantiker-Barde-des-Moseltals

Ausonius-ein-spätantiker-Barde-des-Moseltals

Ausonius — ein spätantiker Barde des Moseltals

von  Michael P. Schmude, Lahnstein     [aus: Scrinium 40,1 (1995), 3-9]

Decimus Magnus Ausonius erblickte das Licht der Welt um das Jahr 310 nach Christi Geburt in Burdigala, dem heutigen Bordeaux. Maßgeblichen Einfluss auf die berufliche Entwicklung des Jungen zum Rhetor übte sein Onkel mütterlicherseits Aemilius Magnus Arborius in Tolossa (Toulouse) aus, nach dem er auch den Beinamen Magnus erhielt. Als dieser von Kaiser Konstantin nach Byzanz berufen wurde, um dort die Erziehung und Ausbildung der Prinzen zu übernehmen, kehrte Auson in seine Heimat Burdigala zurück, um dort seine rhetorischen Studien zu vervollständigen; 334 erhielt er von der dortigen Gemeinde einen Lehrstuhl für Grammatik, später auch Rhetorik.

Seiner Ehe mit der vornehmen Attusia Lucana Sabina entsprangen zwei Söhne und eine Tochter; Frau und ältester Sohn starben früh. Sein bedeutendster Schüler aus der damaligen Zeit war Paulinus von Burdigala, aus angesehenem Geschlecht, der spätere Bischof von Nola in Kampanien.

Durch seine erfolgreiche Lehrtätigkeit wurde er auch über die engeren Grenzen seiner Heimat hinaus berühmt, und als der Kaiser Valentinian I. für den sechsjährigen Thronfolger Gratian einen Erzieher suchte, fiel seine Wahl auf den gallischen Professor, der nun 365 von der Garonne in die Mosel- und kaiserliche Residenzstadt Trier zog.

Im Gefolge der beiden Kaiser – Valentinian hatte seinen jungen Sohn Gratian zum Mitregenten ernannt – nahm Ausonius im Jahre 368 an dem Feldzug gegen die Alemannen teil, die am Neckar und bei Lupodunum (Ladenburg bei Heidelberg) geschlagen wurden. Als Kriegsbeute brachte der etwa 60jährige Witwer ein kleines Schwabenmädchen Bissula mit, das er sorgfältig aufzog und in einigen kurzen Liedchen beschrieben hat.

Bald nach seiner Rückkehr von dem Feldzug, 370 oder 371, schuf Auson – wohl auch auf Anregung des Kaisers hin – sein poetisches Hauptwerk, das Mosellied; gleich die Einleitung zeigt den Dichter auf der Heimreise von jenem Feldzug: vom Rhein her kommend, überschreitet er bei Bingen die Nahe, um über die Hunsrückhöhen die Mosel zu erreichen. 371 wurde dem Kaiser ein Sohn aus zweiter Ehe, der spätere Valentinian II., geboren, dessen Erziehung gleichfalls Ausonius obliegen sollte; die Gunst des Kaisers ließ ihn nun stetig die Ämterleiter hinaufsteigen: nach dem Tode Valentinians I. und der Alleinherrschaft Gratians 375 wurde Auson 378 Präfekt von Gallien und Italien und 379 schließlich Konsul.

Als Gratian 383 durch den Tyrannen Maximus gestürzt und in Lyon ermordet wurde, verließ Auson Trier und verbrachte seinen Lebensabend hochangesehen in Bordeaux, wo er in den neunziger Jahren des Jahrhunderts starb.

Die Dichtung des Ausonius ist durchweg gelehrt, es finden sich zahlreiche Reminiszenzen an die archaische und vor allem klassische römische Literatur (Catull, Vergil, Horaz), Vorbilder waren ihm insbesondere kaiserzeitliche Neoteriker; seine Bildung ist demnach eine klassisch-heidnische, engen geistigen Kontakt unterhielt er zu Q. Aurelius Symmachus, dem zu der Zeit gefeiertsten (panegyrischen) Redner Roms und – wenngleich erfolglosen – Vertreter traditionell-römischen Geistesgutes. So dürfte sein Christentum und seine kaum überzeugte christliche Dichtung eher eine Konzession an den frommen Christen Gratian denn ein Abrücken von seiner heidnischen Denkweise sein, welche im mythologischen Kolorit seiner Poesie immer wieder zutage tritt; insgesamt aber geht durch sein Leben wie seine Schriften ein unverkennbarer Zug religiöser Gleichgültigkeit. Gerade auch seine enge Verwandtschaft mit den klassisch-antiken Vorgängern verleiht seiner Dichtung einen eher epigonenhaften Charakter, was aber mit der geistigen Übersättigung seines Zeitalters allgemein Hand in Hand geht.

Dieses ist – bereits vom Tode Hadrians bis tief ins 4. Jahrhundert hinein – von einem merklichen Abblühen der römischen Poesie gezeichnet: ihren Platz hat die schwung- und klangvolle Rhetorik eingenommen. Ein letztes Aufblühen konnte noch entstehen durch die Auseinandersetzung des Heidentums mit dem immer stärker aufkommenden Christentum, auf literarischem Felde ausgetragen und – wenn auch mit geringer Originalität – doch noch einmal antike Schönheit aufweisend. Ihr Hauptziel, dem alten Kultus olympischer Gottheiten damit neue Kraft zuzuführen, wurde nicht erreicht, doch musste auch die siegreiche Religion dem überlieferten geistigen Erbe einen Platz in ihrem Kosmos einräumen; Hauptvertreter dieser vereinigenden Richtung ist Auson, neben Claudian der bedeutendste Dichter Roms in jener niedergehenden Zeit.

Es soll indes nicht verschwiegen werden und wurde schon angedeutet, dass die Gedichte auch des Ausonius mehr ihres stofflichen Inhaltes als ihres poetischen Niveaus wegen für uns von Reiz sind; und auch bei der Mosella ist es eher die Schönheit des Flusses und seiner Ufer, welche diesem Epyllion eine Wertschätzung eingetragen haben, mit der sein dichterischer Gehalt nicht ganz Schritt zu halten vermag.

Diese – zeittypischen – Merkmale ändern nun nichts daran, dass Ausons Moselgedicht ein bemerkenswertes Werk ist und bleibt; es verherrlicht das Land und seine Bewohner aller Stände, seine Hauptstadt Trier, die damals wie heute beeindruckende Blume seines Weines, den Schiffsverkehr auf dem Strom selbst und alle seine Nebenflüsse.

Seinem Charakter nach ist die Mosella als ein ,Empfehlungsgedicht‘ zu bezeichnen: ähnlich der neuen Residenz Konstantinopel sollte auch Trier durch das Lied eines ,Hofpoeten‘ gehoben werden, welcher deren Sicherheit und Frieden noch später in einem Gedichtzyklus preisen sollte; nicht ohne Grund bewundert er zu Anfang des Moselliedes die Mauern des neubefestigten Bingen. Vor dem Hintergrund der Bedrohung durch die Barbaren jenseits des Rheins fast gegenüber der Stadt – die auch bald nach dem Tode des Dichters viermal hintereinander von Vandalen, Goten und Hunnen zerstört und geplündert wurde –, der Erlebnisse des Ausonius selbst, welcher die Verwüstung Kölns durch die Franken miterlebt hatte, der Barbarenherrschaft über die meisten Städte der Rheinlinie zur damaligen Zeit wird verständlich, warum der Kaiser seinen Dichter mit den höchsten Ehren am Trierer Hof zu halten suchte und dieser so auffällig den Ruhm des bedrohten Grenzlandes anstimmt, in welchem so mancher sich nicht mehr recht wohl gefühlt haben wird. Jedenfalls fand das Gedicht großen Beifall, und wenngleich etwa Symmachus in einem Brief an Ausonius bei allem Lob für die poetische Leistung Zweifel an den Angaben als solchen nicht verhehlt, wurde es weit im gesamten Reich verbreitet und gelesen.

Die Mosella untergliedert sich in 11 Abschnitte von unterschiedlicher Länge:

Der erste (v. 1-22) nennt den Ausgangspunkt des Dichters: Bingen an der Mündung der Nahe in den Rhein, neu befestigt durch Kaiser Julian im Jahre 359, drei Jahrhunderte zuvor Schauplatz eines Sieges des Sextilius Felix im Bataverkrieg über den Trevererführer Tutor 71 n. Chr. (Tac. hist. 4, 70), dem der Dichter hier aber übertriebene Bedeutung zumisst, indem er ihn mit Cannae vergleicht.

Der Weg führt ihn weiter in den Hunsrück hinein, der damals wenig belebt oder gar bewirtschaftet war, auf einer alten Römerstraße und wahrscheinlich mit der ,Reichspost‘. Erste Stationen sind Dumnissus, das heutige Kirchberg, welches sich noch in diesem Jahrhundert durch ein Pumpwerk sein Wasser aus der Senke holte, und Tabernae, ein gängiger Name für Weiler aus Schenken und Läden an verkehrsgünstigen und wasserreichen Orten; sie sind nicht mehr mit Sicherheit zu lokalisieren, man denkt an Belginum, den heute so genannten ‚Stumpfen Turm‘ bei Hinzerath, kaum jedoch etwa an Bernkastel. Die Gefilde der Sarmaten – ursprünglich ein skythischer Volksstamm und ein für Rom ebenso gefährlicher Nachbar wie die Germanen –, welche der Dichter gleichfalls durchquert, können nur ganz ungenau bestimmt werden; diese wurden nach dem üblichen Verfahren nach jeder Niederlage in großer Zahl in den römischen Provinzen als halbfreie, steuer- und kriegsdienstpflichtige Coloni angesiedelt, und um solche Siedlungen dürfte es sich auch bei denen der Sarmaten im Triererlande handeln. Nach diesen Ortschaften verlässt Ausonius das Waldgebiet des Hunsrücks und betritt die freie Ebene: Neumagen (Trier) im belgischen Vorlande, die Residenz des Kaisers Konstantin, ist erreicht. Prachtvillen an den Flussufern, rebenbewachsene Hügel und die ruhig dahinfließende Mosel lassen ihn an seine Heimatstadt Burdigala denken.

Nach diesen mehr einleitenden Versen geht der Dichter zu einem allgemeinen Lob des Flusses Mosel selbst über (v. 23-74): nach einigen Grußversen an den Strom, seine Reben und sein grünendes Umland sowie seine Kaiserstadt Trier kommt Ausonius auf die Vorzüge der verschiedenen Gewässerarten zu sprechen, welche die Mosel allesamt in sich vereine – die Schiffbarkeit des Ozeans, die kristallklare Tiefe des Sees, die freundliche Naturlandschaft des Baches und das kühlende Trinkwasser der Quelle. Die Mosel weise keine reißende Strömung auf, kenne keine Heimsuchung durch Stürme, keine Gefährdung durch Klippen oder Untiefen, keine Zerteilung des Flussbettes durch Inseln. Dafür sieht er eine doppelte Strömung – einmal die natürliche der Mündung zu, sodann auch eine entgegengesetzte durch die zahlreichen flussaufwärts geschleppten Kähne, die die Flut verlangsamen und gar zur Rückkehr zu bringen scheinen. Auch der gepflegte Zustand der Moselufer ruft seine Bewunderung hervor – sie sind weder mit Schilf bewachsen noch von Schlamm überzogen, der Boden ist vielmehr mit Kies gepflastert und ermöglicht, geradeso wie in den marmorgetäfelten Hallen reicher Bürger, trockenen Fußes Zugang zum Flussbett. Die Unterwasserwelt der Mosel wird schließlich mit Fauna und Flora des britischen Meeres im Norden (Schottland) verglichen.

Letztere Betrachtung wird auch im dritten Abschnitt aufgegriffen (v. 75-149): die Fische des Stromes in all der Vielzahl ihrer Arten zu nennen ist ihm nicht möglich, doch zu den wichtigsten – Dickkopf, Forelle, Neunauge, Äsche, Barbe, Salm, Lamprete, Barsch, Hecht, Schleie, Weißfisch, Maifisch, Lachsforelle, Gründling und Stör – weiß er jeweils bestimmte Gegebenheiten zu nennen, seien es ihre Tauglichkeit zu gastronomischer Verwendung, ihre Lebensgewohnheiten, ihr Aussehen oder auch – wohl nur poetischen Zwecken dienende – Vergleiche der Bewohner des Flusses mit denen des Meeres. Bedeutsam in diesem Abschnitt noch die Erwähnung der Saar, die bei Trier in die Mosel mündet, welcher sie an Rang und Namen auch deutlich nachgestellt wird (v. 91 ff.).

Im vierten Abschnitt (v. 150-199) wendet sich Ausonius vom Strom und seinen Bewohnern zum Ufer und zu den rebenbewachsenen Hügeln, die sich hier wie ein Theater dem Anblick aufrollen: gleich den Sitzreihen um die Bühne erheben sich rings die Hügel mit ihren grünenden Reben; der Dichter vergleicht die bekannten Weingebiete am Gaurusgebirge (am Golf von Neapel von Baiae bis Puteoli / Pozzuoli), in der thrakischen Landschaft Rhodope (einem Teil des Haemosgebirges), am Pangäischen Berg (östlich der Mündung des Strymon ins Thrakische Meer) und von Ismarus (Berg und Stadt westlich der Hebrosmündung in die Nordägäis), zuletzt seines eigenen Heimatflusses, der Garonne. Vom Ufer der Mosel hinaus bis zu den Spitzen der Bergwände wachsen die Reben, und ein fleißiges, fröhliches Volk von Winzern bebaut die Weinhänge. Ein Exkurs schildert das bunte Treiben der Faune, Pane, Satyrn, Nixen und Nymphen der Mosel und ihrer umgebenden Landschaft. Schließlich wird die im Abendrot zwischen den grünbemäntelten Hängen dahinfließende Mosel dichterisch nachempfunden.

Der fünfte Abschnitt (v. 200-239) befasst sich mit dem munteren Spiel der Flussschiff er; Auson vergleicht ihr lustiges Treiben mit den spielerischen Vorführungen der Amoren für Venus zur Feier des Sieges Octavians über Kleopatra bei Actium, oder der Barken auf dem Avernersee nach der Niederlage des Pompeius bei Mylae (heute Milazzo an der Nordküste Siziliens – gemeint ist die Seeschlacht Agrippas gegen Sextus Pompeius, den jüngeren Sohn des großen Gegenspielers Caesars, im Jahre 36 v. Chr.), die der wandernde Bacchus von den Rebenhöhen des Vesuvs aus sehen könne, wenn er auf das Kymäische Meer herabschaue. Besonders fasziniert ist Ausonius von der Reinheit des Moselwassers, dessen kristallklares Spiegelbild dem eines herkömmlichen Spiegels in Nichts nachstehe.

Der sechste Abschnitt (v. 240-282) behandelt ein dem Dichter weniger angenehmes Thema – den Fischfang an der Mosel. Zunächst werden die verschiedenen Fangarten geschildert, sei es vom Ufer aus oder auf dem Strom selbst, mit Angel oder mit dem Netz. Ausonius beklagt den Unverstand des Wasservolkes, das den Listen der Fischer nicht entgehen könne, und beschreibt ausführlich den verzweifelten Todeskampf der gefangenen Tiere auf dem Lande. Bemerkenswert, dass er den Tod der Fische auf die für sie giftige Luft und nicht auf die Unfähigkeit ihrer Kiemen zurückführt, den Sauerstoff in der Luft aufzunehmen. Aber auch auf die Möglichkeit des unerwarteten Entkommens eines einmal gefangenen Fisches geht er ein und verknüpft die Reaktion des getäuschten Anglers mit dem Mythos vom böotischen Fischer Glaukos (vgl. Ovid met. 13, 904 ff.), welcher (nach Ausonius‘ Darstellung) durch den Genuss eines Zauberkrautes der Circe ungewollt selbst zum Fisch geworden war.

Der siebte Abschnitt (v. 283-348) beschreibt die architektonische Umgebung der Mosel: die Flussufer gesäumt von verschiedenartigsten Landhäusern und Villen, deren Schmuck- und Formenreichtum einen großen Architekten verrieten, was Auson wiederum Anlass zu Vergleichen mit anderen berühmten oder auch nur sagenhaften Baumeistern der Antike gibt. Die Lage der Häuser selbst – nahe auf beiden Flussufern einander gegenüber und getrennt nur durch den hier schmalen Strom – hatte zuvor schon den Vergleich mit einem solchen Bild am Hellespont herausgefordert, wo ein reißender Ozean zwei Kontinente scheide und im Gegensatz eben hier zur Mosel keinen Kontakt zwischen ihnen ermögliche. Im Besonderen kommt er noch auf die Badehäuser zu sprechen, die denen der berühmten Badegegend Baiae bei Cumae durchaus nicht nachstünden, höchstens maßvoller ausgestaltet seien; ein kühles Bad in der Mosel gegen die Prozedur des ,Saunaganges‘ einzutauschen findet allerdings sein volles Verständnis.

Der achte Abschnitt (v. 349-380) bietet die wichtigsten Nebenflüsse der Mosel; unmöglich, alle zu nennen, führt er als erste die durch die Bäche Prüm (Promea) und Niems (Nemesa) vergrößerte Sauer (Sura) an, sodann die fischreiche Kyll (Celbis) und die durch ihren Marmor berühmte Ruwer (Erubris), die auch noch zum Betrieb von Kornmühlen genutzt werde. Kleinere Bäche sind Thron (Drahonus), Lieser (Lesura) und Salmbach (Salmona); einige Beachtung findet bei ihm auch die Saar (Saravus), die sich nach ihrem langen Weg von den Vogesen hier schließlich in die Mosel ergießt. Für Auson wichtig ist ihre Schiffbarkeit und starke Strömung; weit übertreibt er allerdings, wenn er im Folgenden die Elz (Alisontia) der Saar an Wassermenge gleichstellt. Am Ende gerät Ausonius geradezu in schwärmerische Begeisterung, wenn er die Mosel für besingungswürdig einem Homer oder Vergil hält, Dichtern, die durch ihr Lied den Fluss gar über den Tiber erhoben hätten.

Im neunten Abschnitt (v. 381-414) will Ausonius auf die Menschen des Mosellandes eingehen, doch kommt er nur bis zu einer allgemeinen Charakteristik – in Kriegstüchtigkeit, Redegewandtheit und Frohsinn, in strenger Tugend und Gerechtigkeit –, bevor er sich auf sein eigentliches Thema, die Mosel selbst, zurückbesinnt und ankündigt, im Alter alle großen Männer Belgiens im Liede zu verherrlichen, doch auch die bedeutenden Zeitgenossen innerhalb des gesamten Imperiums nicht zu vergessen.

Und so gelangt er im zehnten Abschnitt mit der Mündungsbeschreibung der Mosel in den Rhein (v. 415-437) zum Ende seines Preisgedichtes: war im achten Abschnitt die Mündung der verschiedenen Nebenflüsse noch als ein völliges Aufgehen in der Mosel und eine Aufwertung für die einmündenden Gewässer dargestellt worden, so ist der Zusammenfluss von Mosel und Rhein im Sinne eines gleichberechtigten Nebeneinanders in einem Bette und einer Bereicherung insbesondere für den Rhein zu verstehen (ohne dass ihm der Dichter damit allerdings seine Bedeutung nehmen will). An zeitgeschichtlichen Anspielungen finden sich hier die Siege Valentinians I. und Gratians über die Alemannen an Neckar (Nicer) und bei Ladenburg (Lupodunum) i. J. 369 (s.o.) sowie eine Schlacht an den Donauquellen, die zwar von den römischen Historikern noch nicht erwähnt worden sei, von deren Triumphzug in Trier die Wasser der Mosel nun dem Rhein kündeten. Und zum wahren Grenzwall gegen die germanischen Stämme der Franken, Chamaven und anderer werde der Rhein erst im brüderlichen Verbünde mit der Stärke der Mosel.

So endet das Mosellied; der Epilog (v. 438-483) gibt zunächst eine kurze Selbstvorstellung des Dichters: Ausonius, ein Römer von Namen und Gastrecht im belgischen Lande, aus dem Volke der Vivisker, geboren im gallischen Aquitanien nahe den Pyrenäen. Er bittet um Nachsicht für das bescheidene Niveau seiner Dichtung und verspricht, sobald seine äußere Lage wie seine innere Verfassung es zulassen, nochmals den Preis auf die Mosel anzustimmen und ausführlicher auch auf all ihre Städte und sonstigen Örtlichkeiten einzugehen.

Höchstes Lob zollt er der Mosel noch einmal im Vergleich mit den Flüssen seiner gallischen Heimat, die alle genannt und jeweils kurz charakterisiert werden: Loire (Liger); die reißende Aisne (Axona); Marne (Matrona), der Grenzfluss zwischen Gallien und Belgien; Charente (Carantonus), die vom Santonischen Busen her Ebbe und Flut empfängt; Dordogne (Duranus); Tarn (Tarnis); Adour (Aturrus) im tarbellischen Lande (am Golf von Biscaya); Drome (Druna); Durance (Druenta); Rhône (Rhodanus), die in den Alpen entspringt; und schließlich gar die Garonne (Garunna) am Atlantik, der Fluss seiner Heimatstadt Bordeaux – welche allesamt ihr Haupt verneigen müssen im Preise der Mosel.

Anhang

Die Verwurzelung des Ausonius im poetischen Erbe der lateinischen Literatur ist vielfach Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung gewesen; einen Überblick entsprechender Arbeiten gibt Woldemar Görler, Vergilzitate in Ausonius‘ Mosella, in: Hermes 97 (1969) S. 94-114, hier 94, Anm. 1/2. Zusammenstellungen der unzähligen literarischen Anklänge im Detail finden sich bereits in den Mosella-Ausgaben von Rudolf Peiper (Leipzig 1886, ND 1967), Karl Schenkl (Berlin 1883) und Karl Hosius (Marburg 31926). Görler a. O. erweitert die Fragestellung um den Blick auf die besondere Funktion erkannter Zitate in ihrem jeweiligen Textzusammenhang: als Beispiel gleich zu Beginn sei stellvertretend die Ankunft des Dichters im Moseltal (v. 12-17) genannt, welches Ausonius vor dem Hintergrund der vergilischen Zeichnung des Elysiums (im 6. Buch der Aeneis) nach der Wanderung durch die dunklen Gefilde der Unterwelt, insbesondere ihrer Flüsse Acheron und Styx, dem Waldgebirge des Hunsrück und der Nahe gegenüberstellt. Überhaupt sind es Anklänge an die Unterwelt, welche Ausonius hier  nach Darstellungen bei Vergil (weiter Aen. 6, 237-41; 7, 563-71), Ovid met. 4, 432 ff, 10, 53f.) und Lucan (b.c. 6, 642-53; vgl. auch 3, 399-413) als finstere Folie der Lichtwelt des Moseltales vorhält (noch einmal auf die Flüsse bezogen Mos. 45f. gegenüber georg. 4, 478-8o und Aen. 6,415f.). Eine doppelte Ebene des Vergleiches zeigt Görler (a. O. 104-09) auf in der Gleichsetzung der Mosel (Mos. 18-22) einmal (dem Wortlaut nach) mit der Garonne und Bordeaux aus der Heimat des Dichters, zugleich aber (ib. 20 ff., 27-32, 381-88, 454-60) durch Anklänge an georg. 2, 136-76 auch mit den laudes Italiae und damit der Heimat Vergils, insbesondere Kampanien (zur Ausweitung des Vergleiches schließlich noch auf die Städte des Orients Görler 110-14).

Auch für den Vergleich der Schifferspiele auf der Mosel (Mos. 211 ff.) mit den ludi Actiaci (vgl. Horaz epist. 1, 18, 61f.) und den Vorführungen der Amoretten für Venus nach Aktium liefert Vergil den Hintergrund mit seiner Darstellung der Seeschlacht in der Schildbeschreibung Aen. 8, 675 ff.

Der Beginn der Mosella als Reisebeschreibung erinnert sogleich an Horazens Iter Brundisinum (sat. 1, 5), dem Epos wie dem Lehrgedicht gehören die vier Kataloge (Mos. 77-149: Fische in der Mosel / 298-320: griechische Architekten / 349-74: Nebenflüsse der Mosel / 461-68: Flüsse Galliens) an; Ekphrasis (Mos. 150-99: die Weinhänge der Mosel – vgl. den bakchischen Thiasos auf der Ariadne-Decke in Catulls carm. 64, 251-64 / Mos. 321-48: Villen an den Flussufern), Enkomion (Mos. 374-8o: die Mosel ein Thema sogar für Homer und Vergil; 469 ff. u.a.) und Sphragis (Selbstdarstellung des Dichters – Mos. 438-52) geben einen Eindruck von der rhetorisch-stilistischen Kunst des Ausonius.

Eine Textausgabe der Mosella mit metrischer Übersetzung von B.K. Weis ist 1989 in der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft (Darmstadt) erschienen; ebendort in der Reihe WdF die von M.J. Lossau herausgegebene Aufsatzsammlung zu Ausonius (1991), darin auch Görler (s.o.).

Cicero-zwischen-politischer-Praxis-und-ethischer-Pflichtenlehre

Cicero-zwischen-politischer-Praxis-und-ethischer-Pflichtenlehre

Cicero zwischen politischer Praxis und ethischer Pflichtenlehre –

eine Einführung in seine Schriften De re publica und De officiis

 

Mit Marcus Tullius Cicero haben wir eine der schillerndsten Figuren der antiken Geschichte überhaupt vor uns, die in ihrer Person wie in ihrer öffentlichen Karriere ein Paradebeispiel für Politiker auch unserer Tage geblieben ist und bleibt. Was er zur Politik unserer Tage zu sagen hätte, können wir aus seinem Hauptwerk De re publica herausfiltern: Über das Staatswesen, wie es sein sollte und wie es ist … (da hatte seine eigene Laufbahn schon einen ersten, heftigen Knick bekommen), oder besser: über die unterschiedlichen Formen der Staatswesen, ihre Vorzüge und Stärken, ihre Nachteile und Gefahren. Ist die Demokratie als Staatsform heute wirklich die beste? Sollte vor dem Hintergrund aktueller Herrscher das Volk über Staatenlenker abstimmen? Was hielte Cicero von Volksbegehren, überhaupt – was würde Cicero zum Verhältnis von direkter zu repräsentativer Demokratie wohl anführen?

Neben Caesar ist Cicero für uns die zentrale Figur der ausgehenden römischen Republik, bei der wir stets zwei Seiten unterscheiden müssen: er war eine Person des öffentlichen Lebens – heute VIP – zum Einen als Rechtsanwalt in zivilen wie politischen Verhandlungen, zum Anderen als aktiver Politiker im Sinne der ursprünglichen res publica, der Sache des Volkes. Seinen Verdiensten auf beiden Gebieten steht eine gehörige Portion Eitelkeit im Blick auf die eigenen Leistungen gegenüber, seinem Erfolg letztlich ein zögerliches Hin-und-Her-Taktieren zwischen den wirklich Mächtigen der Zeit im Wege.

Daneben war er aber auch ein Schriftsteller, der in Zeiten unfreiwilliger Zurückgezogenheit vom Politbetrieb maßgebliche, insbesondere philosophische Schriften von den Griechen übernommen und für seine Landsleute bearbeitet und zugänglich gemacht hat. Hinzu kommen rhetorische Abhandlungen sowie eine umfangreiche Sammlung von Briefen an Familienangehörige, Freunde und Weggefährten, in denen er zu allen wichtigen Fragen des öffentlichen und literarischen Lebens Stellung genommen hat. Er lebte und wirkte in einer Zeit des totalen Umbruchs im gesamten Bereich des gesellschaftlichen Lebens seiner Heimat und Wirkungsstätte Rom.

 

I. Werdegang und politische Karriere

Marcus wurde als Spross der alten gens (Familie) Tullia mit dem cognomen (Beinamen) Cicero (Kichererbse) am 3.1.106 v. Chr. im Landstädtchen Arpinum (Latium) südöstlich von Rom geboren. Er gehörte dem zweiten, dem Ritterstand an. Seine durch Grundbesitz vermögende Familie ermöglichte ihm (und seinem jüngeren Bruder Quintus) Studienzeiten in Rom (bis 82), Athen und Rhodos (79-77).

Seinen Durchbruch als Anwalt schaffte der homo novus (= Newcomer) mit einem ausgesprochen heiklen Prozess, in welchem er den jungen Sextus Roscius aus Ameria i. J. 80 gegen den Vorwurf des Vatermordes verteidigte, den ein Günstlings des Machthabers Sulla erhoben hatte, um seinerseits in den Besitz der Familiengüter zu gelangen. Mit dem Verfahren gegen Gaius Verres (70), der als Prätor die Provinz Sizilien hemmungslos ausgeplündert hatte, wurde er Roms führender orator; Höhepunkt einer nunmehr durchgängigen Tätigkeit als öffentlicher Redner waren die Philippischen Reden (44/43) gegen Caesars Weggefährten Marc Anton (44/43), angelehnt an die Philippika seines berühmten athenischen Vorbilds Demosthenes gegen den Vater Alexanders d. Gr.

Cicero hat alle seine Reden (110 Gerichts- wie politische Reden seit dem Jahr 81, von denen 58 erhalten sind) im Nachhinein überarbeitet und durch seinen Verleger Atticus veröffentlichen lassen.

Nach der klassischen Ämterlaufbahn (cursus honorum) – 76 Quaestor, 69 Aedil, 66 Praetor – stand er auf dem Gipfel seiner politischen Macht als Konsul im Jahre 63 v. Chr., in welchem er den Umsturzversuch des heruntergekommenen Adligen Catilina aufdeckte und dessen gesamte Putschistenbande besiegte (Zeugnis geben seine Catilinarischen Reden aus dem Prozess). Allerdings leitete seine in den eigenen Augen bedeutendste Leistung, die Zerschlagung der catilinarischen Verschwörung, zugleich seinen politischen Niedergang ein: wegen der (nicht zuvor von der Volksversammlung bestätigten) Hinrichtung der Catilinarier wurde Cicero 58 aus Rom (ins nördliche Griechenland) verbannt.

Nach seiner ehrenhaften Rückberufung 57, einem Kurswechsel zu Caesar, seiner Wahl zum Augur (53) und dem Prokonsulat im kleinasiatischen Kilikien 51 wurde er besonders in der Folge des Bürgerkriegs zwischen Caesar und Pompeius (49-46) mehr und mehr zum Kopf der republikanischen bzw. Senatspartei (Optimaten) und stellte sich, weiterhin nicht ohne auch ein gewisses Arrangement mit dem Tyrannen, seit 46 gegen die Alleinherrschaftsansprüche Caesars und dessen Nachfolger. Mit dessen Ermordung (44) erhoffte er sich von Octavian die Wiederherstellung der früheren Senatsherrschaft, während er in M. Antonius den Erben von Caesars Diktatur sah. Doch verbündete sich Caesars Neffe nicht – wie von Cicero betrieben – mit den Caesarmördern um Brutus zur Erneuerung der libera res publica, sondern mit Antonius (und Lepidus) im zweiten Triumvirat des Jahres 43. Cicero wurde daraufhin von den Killern Marc Antons am 7.12.43 in der Nähe seiner Landvilla (Formianum) bei Gaeta (nordwestlich von Neapel) ermordet – auch dies eine bemerkenswerte Parallele zum Ende des ihm wesensverwandten Demosthenes.

 

II. Literarisches Werk – De re publica

In Zeiten erzwungener politischer ‚Muße‘ entwickelte Cicero den Ehrgeiz, griechische Kultur und philosophisches Denken in Rom ‚salonfähig‘ zu machen, ausgehend von der Grundüberzeugung, dass der verantwortlich handelnde Staatsmann die Fähigkeiten des Rhetors mit den Bildungsgütern des Philosophen in sich vereinen müsse (de or. 3, 63) – eine Tätigkeit allerdings, die er stets als zweitrangig hinter seiner öffentlichen Leistung ansah.

Seine Briefe (epistulae an seinen Verleger Atticus aus den Jahren 67-44, epistulae ad familiares 62-43, dazu ad Quintum fratrem 60-54 und ad M. Brutum aus dem Jahr 43), stellen einen unschätzbaren Quellenfundus zur Geschichte der ausgehenden Römischen Republik dar.

Die wichtigsten Arbeiten auf rhetorischem Gebiet sind (nach der Frühschrift de inventione um 86) de oratore (55), Brutus und der orator (beide aus dem Jahr 46), in denen er Geschichte und Ideal römischer Beredsamkeit im obengenannten Sinne zeichnet. Fragen der Erkenntnistheorie behandeln seine Academici libri (um 45). Im Mittelpunkt seiner ethischen Werke stehen die Frage nach dem höchsten Gut des Menschen (de finibus bonorum et malorum) und die Lehren der großen hellenistischen Schulen hierzu, nach den Bedrohungen des menschlichen Glücks und dem Beitrag der Philosophie zu seiner Bewahrung (Tusculanae disputationes), in seiner Spätschrift de officiis schließlich der Konflikt zwischen bonum/honestum und utile und die Ableitung ethisch begründbarer Maßstäbe für das menschliche Handeln. Im gleichen Zeitraum (um das Jahr 44) wurden auch seine religiösen Schriften herausgegeben: de natura deorum (in der Gegenüberstellung von Stoá, Akademie und Epikur), de divinatione (gegen den stoischen Glauben an die Weissagung) und de fato (über die Kausalität menschlichen Handelns).

a. Die Schrift De re publica

Seine wichtigste staatstheoretische Schrift über die beste Form des Gemeinwesens entstand, neben dem rhetorischen Hauptwerk über den idealen Redner (De oratore, 55), in einer Phase mehr gefühlten als tatsächlichen politischen Einflusses bis 52 v. Chr. Fiktive Spielzeit des (an Platon orientierten) Dialogs ist das Jahr 129 v. Chr. an drei Tagen der Feriae Latinae  (je 2 Bücher = 1 Tag). Cicero erinnert seinen Bruder Quintus an das Gespräch des P. Cornelius Scipio d. J. (185-129 v. Chr.) mit Freunden (Laelius, L. Furius Philus, Manilius u.a.), welches ihnen durch den letzten noch lebenden Teilnehmer P. Rutilius Rufus 78 v. Chr. im kleinasiatischen Smyrna übermittelt worden sein will (rep. 1, 13).

Gemäß Ciceros Staatsdefinition in rep. 1, 39 sind Grundlagen des Gemeinwesens gemeinsames Rechtsempfinden und Nutzengemeinschaft, Gedankengut, das ihn mit der Stoá verbindet. Antrieb des Menschen zur Bildung von Gemeinwesen ist seine natürliche Veranlagung, und damit folgt Cicero dem aristotelischen Bild vom Zōon politikón, das von Natur aus auf die staatliche Gemeinschaft angelegt sei, im Unterschied zu Platon, für welchen die individuelle Unzulänglichkeit den nicht-autarken Menschen zur Arbeitsteilung im Rahmen eines staatlichen Zusammenschlusses zwinge. Bücher 1 und 2 behandeln den besten Staat: B. 1 stellt die Verfassungsformen sowie ihre Entartungen nach Platon und Aristoteles dar, übernimmt von dem romfreundlichen, hellenistischen Historiker Polybios (Mitglied des ‚Scipionenkreises‘) den Kreislauf der Verfassungen (Anakýklōsis) und mündet in die Mischverfassung (rep. 1, 69), welche die Stärken der einzelnen Formen nutze, die Schwächen hingegen durch wechselweise Kontrolle meide – verwirklicht in der Geschichte des republikanischen Rom = Buch 2. Bücher 3 und 4 (nur stückweise erhalten) fragen nach dessen sittlichen Grundlagen; zentrale Frage hier die nach dem Wesen der Gerechtigkeit: Cicero referiert bzw. gestaltet in B. 3 zwei Reden des (skeptischen) Akademikers (die Akademie war die Schule Platons) Karneades an zwei aufeinanderfolgenden Tagen im Rom des Jahres 156/155 v. Chr. für und wider die Gerechtigkeit. Für die Zuhörerschaft verunsichernd und bestürzend, dass beide gleichermaßen überzeugend waren, so dass auf Betreiben des Älteren Cato diese ‚Philosophengesandtschaft‘ (es waren noch die Schulhäupter des Peripatos, der Schule des Aristoteles, sowie der Stoá aus Athen mit angereist) ausgewiesen wurden. Philosophisches Denken hatte sich gleichwohl damit in Rom unwiderruflich ‚eingebürgert‘. B. 4 geht der Verwirklichung der Gerechtigkeit in der Gesetzgebung nach und weist auf Ciceros wenig später erschienene, gleichsam praktische Nachfolgeschrift de legibus voraus. Bücher 5 und 6 zeichnen den Staatsmann, welchen der beste Staat erfordert: B. 5 definiert ihn als sapiens et iustus vir, und mit dem Somnium Scipionis in B. 6, einer getreuen Anlehnung an die Erzählung des Pamphyliers Er am Ende von Platons Politeía vom Lohn der Gerechtigkeit nach dem Tode, setzt Cicero seinem Vorbild eines klugen, gerechten, tapferen und besonnenen (die vier Kardinaltugenden) Staatsdieners, dem Jüngeren Scipio Africanus (Numantinus, † 129 v. Chr.) ein beeindruckendes Denkmal.

b. Nachwirken

Cicero stellte De re publica als Ganzes in die Nachfolge von Platons Politeía ebenso wie de legibus (um 52?) zu dessen Nómoi. Doch während Platons Werk eine ‚U-topía‘, ein (historischer) Nicht-Ort, bleibt, verankerte Cicero sein Staatsmodell fest im Ablauf der römischen Geschichte. Eine Antwort aus christlicher Sicht gab Augustinus, seit 395 bis zu seinem Tod 430 Bischof von Hippo Regius (Numidien), in seiner Civitas Dei: verfasst unter dem Eindruck der Eroberung Roms durch den Westgotenkönig Alarich (410), wird hier der Gottesstaat vor dem Hintergrund eines christlichen Humanismus entwickelt – als Antwort auf den Staatsentwurf des Heiden Cicero. Die Auseinandersetzung mit dessen Schrift setzte indes bereits in den Divinae institutiones (304-313) des christlichen Apologeten Laktanz ein, wie Augustinus aus Nordafrika und ab 290 Rhetor und Erzieher Konstantins (des späteren Großen), der eine einführende Religionslehre für die gebildete christliche Welt entwarf.

Weitergeführt wurden die staatstheoretischen Entwürfe seit dem Humanismus und in die Neuzeit hinein durch Thomas Morus‘ Utopia (1516), Thomas Hobbbes‘ Leviathan (1651) oder John Lockes (zweitem der) Two treatises of government (1690), aber auch in Charles de Montesquieus Prinzip der Gewaltenteilung De l’esprit des lois (1748), J.J. Rousseaus Contrat social (1762) sowie den Rechtsphilosophien Immanuel Kants (1785 ff.) und G.F.W. Hegels von 1820.

c. Überlieferung

Lange Zeit war von Ciceros de re publica nur das Somnium Scipionis zum Abschluss des sechsten Buches in der von dem Neuplatoniker Macrobius (Anfang des 5. Jh. n. Chr.) kommentierten Form erhalten. Der säkulare Staatsansatz des Heiden Cicero schien durch den christlichen Gegenentwurf des Kirchenvaters Augustinus nach dem 5. Jh. überholt. Erst 1820 fand der Präfekt der Vatikanischen Bibliothek, Kardinal Angelo Mai, einen Codex rescriptus des 5. Jh. aus Palimpsesten mit etwa einem Viertel des Werkes vor Allem aus den Büchern 1 und 2. Von den übrigen Büchern sind allerdings beträchtliche Teile durch Zitate und Referate (so für B. 3 das <Argumentum Augustini> vor rep. 3, 8.) insbesondere des Laktanz und Augustinus überliefert.

 

III. Literarisches Werk – De officiis

Die Schrift De officiis [„Über die Pflichten“, verfasst Ende 44 v. Chr.] des römischen Anwalts, Staatsmannes und Philosophen Cicero gilt bis heute als ein Handbuch ethisch begründeten, praktischen Handelns: Was ist das Sittlich-Gute? Welche Formen von Nützlichkeit gibt es? Ist das Nützliche immer auch gut, oder sind Situationen vorstellbar, in denen Nützlichkeit und Sittlichkeit einander widerstreiten? Diese Fragen leuchtet Cicero in De officiis von unterschiedlichen Standpunkten her aus.

Cicero ist somit nicht nur als Politiker und Redner beispielhaft auch für unsere Tage geblieben, sondern er ist darüber hinaus der philosophische Schriftsteller, welcher die geistigen Debatten seiner Zeit aus Griechenland nach Rom und zu uns gebracht hat. Und dafür musste er sie zuerst einmal aus dem Griechischen ins Lateinische über-tragen, die Lehren der stoischen, epikureischen und akademischen Schule aus Athen im Rom seiner Zeit aufeinandertreffen lassen.

a. Cicero als Philosoph

Hintergrund seines eigenen philosophischen Werdeganges ist nicht zuletzt die Studienreise (zusammen mit seinem Bruder Quintus) nach Griechenland und Kleinasien in den Jahren 79-77 v. Chr. In Rom hatte er früh den Epikureer Phaidros kennengelernt und seit 85 bei dem Stoiker Diodotos studiert. In Athen hörte er Vorlesungen des Schulhauptes der ‚Akademie‘, Antiochus von Askalon, sowie aus der epikureischen Schule (neben Phaidros) Zenon von Sidon (Palästina); auf Rhodos wurde er Schüler und Freund des Stoikers Poseidonios. Mit seinem eigenen philosophischen Standpunkt nimmt Cicero eine Art Mittelstellung ein: da ist zum Einen die ‚skeptische’ Akademie seines ersten wichtigen Lehrers in Rom, Philon von Larisa (in Thessalien), welcher i. J. 88 aus Athen geflohen war – dieser stellte die Möglichkeit gesicherter Erkenntnis in Frage; auf der anderen Seite steht seine zweiter Lehrer, der ‚Dogmatiker‘ Antiochus – er billigte der menschlichen Wahrnehmung Verlässlichkeit zu. Antiochus unternahm in der ‚Alten Akademie‘ eine Zusammenführung von Platonismus und Stoizismus.

b. Cicero als Bearbeiter griechischer Quellen

Die Form, welche er seiner Darstellung griechischen Denkens gibt, orientiert sich stark an den Gesprächen seines großen Vorbildes Platon, des Begründers der Akademie, einer Vorläuferin unserer Universitäten, auf welche sich alle weiteren Schulgründer zurückbeziehen werden. Übertragung ist bei Cicero aber keineswegs als Übersetzung zu verstehen (durchweg allerdings bei philosophischen Fachbegriffen); vielmehr übernimmt er vorrangig aus Zusammenfassungen, Vorlesungsnachschriften oder Handbüchern Dritter und dann erst – wenn überhaupt – aus den eher trockenen, geschlossenen Abhandlungen hellenistischer Autoren. Diese gießt er in die lebendigere (gleichwohl ebenfalls künstliche) Form des platonisch-sokratischen Dialoges: er lässt die Vertreter einzelner philosophischer Schulen in Rede und Gegenrede aufeinander treffen, um sodann als ‚lachender Dritter‘ deren jeweilige Stärken zu seinem eigenen Standpunkt zusammenzuführen (→ Eklektizismus).

In De officiis verarbeitet Cicero stoische Quellen: für Buch 1, welches vom Sittlich-Guten (honestum) handelt, und Buch 2 vom Nützlichen (utile) fasst er die drei Bücher Über die Pflicht des Panaitios von Rhodos (ca. 185-109 v. Chr.), des Schulhauptes der ‚Mittleren‘ Stoá, zusammen. Für das dritte Buch über mögliche Konflikte von Sittlichkeit und Nutzen lässt er sich einen Auszug aus der Schrift Über die Pflicht des Poseidonios von Apameia (Syrien, ca. 135-51 v. Chr.), eines Schülers des Panaitios, anfertigen. Poseidonios war, während Cicero sich am Ende seiner Studienzeit 77 auf Rhodos aufgehalten hatte, dort auch sein Lehrer gewesen. Da Panaitios einen möglichen Gegensatz zwischen honestum und utile nur als Frage formuliert, ohne sie zu beantworten, und auch Poseidonios diesen lediglich streift, entwickelt Cicero hier recht selbstständig aus der stoischen Pflichtenlehre seine eigene Sozialethik.

Panaitios war in Rom Mitglied des sogenannten ‚Scipionenkreises‘ gewesen, welcher (in der Fiktion i. J. 129) den Rahmen für Ciceros Gespräch De re publica hergegeben hatte; aber darüber hinaus bestehen auch inhaltliche Wechselbeziehungen zwischen beiden Werken: so geht Cicero in De officiis zunächst einmal von der Natur des Menschen aus, welcher die vier Grundtriebe nach Erkenntnis, Gemeinschaft, Handeln und Maßhalten zugewiesen werden. Das ius (Recht), hier Teilbereich des honestum, hatte er bereits in De re publica mit utilitas (Nutzen) zusammengebracht und dort zu Grundpfeilern seines Gemeinwesens gemacht. Mögliche Spannungen zwischen den Interessen des Einzelnen und denen des Staates hatte er dabei in einem gemeinsamen Rechtsempfinden (iuris consensus) und in Nutzengemeinschaft (utilitatis communio) ausgeglichen. Platons Staatsutopie, der Politeía, lag hingegen noch eine Vorstellung von Gerechtigkeit zugrunde, welche den Nutzen grundsätzlich miteinschloss (vgl. off. III 20).

c. Die Schrift De officiis

Cicero hat diese letzte seiner philosophischen Schriften von Oktober 44 v. Chr. an auf seinem Landgut in Puteoli (heute Pozzuoli an der kampanischen Küste, westlich von Neapel) verfasst, bevor er sich Anfang Dezember nach Rom in seinen letzten politischen Kampf gegen Marc Anton, den früheren Kampfgefährten Caesars, begab. An seinen Sohn Marcus gerichtet, bleibt sie aufgrund der sich überschlagenden Ereignisse in der Stadt ohne abschließende Bearbeitung. Die Form des philosophischen Dialogs ist gegenüber früheren Schriften aufgegeben; die Abhandlung wendet sich direkt an seinen in Athen studierenden Sohn Marcus als Anleitung zum rechten Handeln und führt jedes ethische Verhalten im stoischen Sinne auf die Natur zurück: sie weckt im Menschen neben dem Streben nach Nutzen, welches allen Lebewesen zu eigen ist, den Wunsch nach sozialer Gemeinschaft (← De re publica).

Das erste Buch befasst sich mit dem Sittlich-Guten (honestum). Die Natur des Menschen fügt sich gemäß stoischer Lehre aus den vier Grundtrieben nach Erkenntnis, Gemeinschaft, Handeln und Maß; diesen entsprechen die Kardinaltugenden Klugheit (sapientia), Gerechtigkeit (iustitia), Tapferkeit (fortitudo) und Mäßigung (temperantia). Sittlich sind Handlungsweisen, die aus diesen einzelnen Triebkräften hervorgehen und – vernunftgesteuert – zu einer Harmonie im Ganzen führen und sie bewahren: in diesem Sinne sind die Pflichten definiert (I 15-17).

Folgerichtig unterscheiden Panaitios/Cicero vier Anwendungsbereiche des honestum, von denen sich der erste (sapientia, Erkenntnis) der menschlichen Natur, die drei anderen der menschlichen Gemeinschaft zuordnen. Von den drei ‚sozialen‘ Bereichen des honestum teilt sich der erste in iustitia (Gerechtigkeit) und beneficentia (Wohltun), die einander wechselseitig Grenzen setzen (I 42). Die Gemeinschaften sind abgestuft nach Menschheit im Ganzen, Volk, Gemeinde und Sippe; fundamental sind Ehe-, Bluts- und Freundesbande. Pflicht für die Gemeinde geht der beneficentia gegenüber dem Einzelnen vor (I 57). Auch für die Pflichten aus der Seelengröße (magnitudo animi), hier an die Stelle der fortitudo gesetzt, gilt ihre Anbindung an die Gerechtigkeit (I 65), und den Vorrang des zivilen Dienstes vor dem militärischen untermauern Beispiele aus der griechischen wie römischen Geschichte (I 75-78). Die Pflichterfüllung im Bereich von Maß und Ordnung garantiert zum Einen die Harmonie in allen Handlungsbereichen des honestum (I 96), zum Anderen entspricht sie im Besonderen dem Trieb zur Mäßigung und verwirklicht die Tugend der Selbstbeherrschung (temperantia). Für eine Individual-Ethik ergibt sich daraus, dass eine allgemeine Vernunftnatur alle Menschen miteinander verbindet (I 107), während der Einzelne seiner besonderen Veranlagung und Begabung, seiner sozialen Stellung und selbstgewählten Lebensbahn zu folgen hat, solange diese der allgemeinen Vernunftnatur nicht zuwiderlaufen. Und so gelangt Cicero zumindest teilweise auch zu einer Rangfolge von Formen der Sittlichkeit, welche Panaitios gar nicht thematisiert hatte: Pflichten gegenüber der Gemeinschaft gehen stets über solche, die aus dem individuellen Erkenntnistrieb erwachsen (I 153), stehen ihrerseits aber unter der Vorgabe von Maß und Ordnung (I 159).

Das zweite Buch behandelt das Nützliche (utile), aber auch hier bleibt der Wechselbezug zum Sittlichen stets wirksam: die ganze Vielfalt der Nützlichkeiten und Zwecke ist für den Menschen – auch mithilfe aller seiner natürlichen Gaben – nur erreichbar in der gemeinsamen actio (Tun) mit Anderen. Grundbedingung (II 21) für die benötigte Unterstützung sind Freundschaft (II 31 → Cic. Laelius De amicitia) und Ansehen, erworben werden diese durch die Gemeinschaftstugenden Wohltun (benevolentia, beneficia II 32) und Gerechtigkeit (iustitia II 38).

Im dritten Buch wird die Frage (bereits von Panaitios) gestellt, wie mit einem denkbaren Widerstreit zwischen honestum und utile umzugehen sei. Für den stoischen Weisen (und damit auch für Panaitios) erübrigt sich eine Antwort, weil nützlich nur sein kann, was zu Gutem führt, und allein das Sittlich-Gute ist wirklich gut. Cicero indes entwickelt eine Pflichtenlehre und damit eine praktische Ethik für den Normalbürger, welcher eine Handlung in ihrer Sittlichkeit wie in ihrem Nutzen oft gar nicht bis zum Ende überschauen kann, und gibt dafür eine formula (Regel, Norm) auf stoischer Grundlage (Poseidonios?) vor: einem Anderen etwas wegzunehmen und dadurch seinen eigenen Nutzen zu mehren, ist mehr gegen die Natur (auch des Individuums) als Tod, Armut und Schmerz, weil es das menschliche Zusammenleben und die Gemeinschaft aufhebt (III 21). Das Allen gemeinsame Naturgesetz (lex naturae) beinhaltet zugleich den gemeinsamen Nutzen Aller und verbietet, den Anderen zu verletzen (III 27). Die dafür gegebenen Fallbeispiele gliedert Cicero schließlich vage nach den vier Bereichen des honestum (III 96). Ist der Konflikt also nur ein scheinbarer, so beruht er auf falscher Einschätzung des Einzelnen, inwieweit etwa eine Handlung tatsächlich sittlich bzw. ob sie auch auf Dauer nützlich sein wird. Zugleich ist praktisches Handeln nicht nur Sache jedes Einzelnen, auch der Staat kann individuell, ‚als Einzelner‘ handeln müssen (III 46-49: dort auch ein klares Bekenntnis zu staatlicher humanitas gegenüber Fremdlingen) – praktische Ethik wird einmal zu angewandtem Völkerrecht werden.

d. Nachwirken

Der Kirchenvater Ambrosius, Bischof von Mailand, hat seine christliche Ethik De officiis (ministrorum – der Kirchendiener) Ende des 4. Jh. in unmittelbarer Anlehnung, teils wörtlicher Übernahme aus Cicero gebildet, wobei er Beispiele aus der antiken, sprich: römischen Geschichte durch solche aus dem AT ersetzt, um die ältere und höhere Autorität der jüdisch-christlichen ‚Weisheit‘ zu belegen. Die Schrift bleibt für die mittelalterliche Pflichtenlehre wegweisend.

Renaissance und Aufklärung entdecken die Humanität des ciceronischen Originals von Neuem, und für Voltaire am Hofe Friedrichs II. d. Gr. wie für die Moralphilosophie des 18. Jh. galt De officiis als vorbildliches ethisches Modell. Überhaupt entfaltet Cicero sein Nachleben nicht durch ein bestimmtes philosophisches Denksystem, eine Schule, einen Lehrsatz oder ein markantes Schlagwort – vergleichbar etwa dem Zon politikón des Aristoteles. Vielmehr wirkt er als politische, literarische und philosophische Gesamtpersönlichkeit, wirkt er insbesondere durch seine Fähigkeit, Fragestellungen in unterschiedliche Richtungen zu erörtern und verschiedene Lösungsansätze darzulegen, ohne eine Antwort dogmatisch vorzugeben. So ist er nicht nur auch für die Moderne der lateinische Unterrichtsautor geblieben, sondern darüber hinaus die öffentliche Gestalt, welche man – neben Caesar und Augustus – mit Römertum schlechthin assoziiert bis gleichsetzt.

Michael P. Schmude

 

Literatur

Bringmann, K., Cicero (Darmstadt 22014) [Gestalten der Antike, hg. v. M. Clauss]

Fuhrmann, M., Cicero und die römische Republik (München/Zürich 41997)

Giebel, M., Marcus Tullius Cicero (Reinbek 22013) [Rowohlt Monographie]

Grimal, P., Cicero: Philosoph, Politiker, Rhetor (München 1988).

Pina Polo, F., Rom, das bin ich. Marcus Tullius Cicero. Ein Leben (Stuttgart 2010)

Stroh, W., Cicero: Redner – Staatsmann – Philosoph (München 22010) [Beck-Wissen].

Septem-Artes-liberales

Septem-Artes-liberales

Allgemeinbildung versus Erwerbs(aus)bildung – das Eine etwas für OECD-Studien, das Andere zur Bewältigung des realen, und das heißt zunächst einmal: des beruflichen Alltags ? Der Gegensatz hat eine Geschichte, und die reicht – wie überraschend – bis ins Altertum, er hat aber auch eine Gegenwart, denn es rühren sich im universitären Bereich durchaus Überlegungen, dem Bemühen zur Erlangung allgemeiner Berufsreife eine Studienphase zum Erreichen einer allgemeinen Studierfähigkeit vorzuschalten (dies war bis vor einiger Zeit noch einer anderen Institution vorbehalten, welche es so aber auch nicht immer gegeben hat); als Septem Artes Liberales, die ‚Sieben Freien Künste‘, stehen sie jedenfalls in einer langen akademischen Tradition.

Dabei bezeichnet Ars weniger die ‚Kunst‘ im heutigen Sinne, sondern eher Fertigkeit und Befähigung, Liberalis den (antiken) ‚freien Menschen‘, welcher sich – im Unterschied zum Bediensteten – für solche Beschäftigungen den entsprechenden Freiraum schaffen und leisten konnte. Den Gegenbegriff bildeten die Artes mechanicae, praktische ‚Künste‘ – also jede Art von Handwerk, aber auch Bildende und Baukunst sowie Landwirtschaft –, welche unmittelbar auf den Broterwerb abzielten und nicht zuletzt im Bereich klösterlichen Lebens Anerkennung fanden. Analog wurden darum auch sie ab dem 12. Jahrhundert (Dominicus Gundisalvi verstand sie im Rückgriff auf Aristoteles als angewandte Geometrie) in der Siebenzahl kanonisiert, doch bereits im 9. Jh. werden von dem Iren Johannes Scottus Eriugena zusammengestellt die Ars vestiaria (Bekleidung), agricultura (Landwirtschaft), architectura (Baugewerke), militia/venatoria (Kampf und Jagd), mercatura (Kaufmannsgewerbe), coquinaria (Kochkunst) und metallaria (Metallverarbeitung).

Daß Architektur und auch Medizin zum Kanon der Artes mechanicae und nicht der Liberales gehören, wurde in der Spätantike von Martianus Capella (s.u.) ausdrücklich vermerkt (der römische Universalgelehrte Varro behandelt sie gleichwohl im 1. vorchristlichen Jh. in seinen Disciplinae) und findet sich entsprechend in der dann maßgeblichen Ordnung des Hugo von St. Viktor, Leiters einer Pariser Klosterschule (seit 1133) wieder. Zugleich wurde in der Unterscheidung zweier Gruppen von Artes und vor allem des Zuganges zu ihrem Studium wie ihrer Ausübung eine soziale Differenzierung deutlich: der Liberalis mußte sich die Lebensweise entsprechend der seiner würdigen Artes leisten können, er war von Erwerbsarbeit befreit, die Werktätigen bedurften ihrer praktischen Künste als Lebensgrundlage. Die gesellschaftliche Entwicklung hat das bekanntlich – zumindest im Rahmen der abendländischen Geschichte – und zum Glück modifiziert.

 

    Trivium                                                       Quadrivium

 

                                                                                                Arithmetik

 

Grammatik
Musik

 

Rhetorik
Geometrie

 

Dialektik
Astronomie

 

Die ‚Freien – mithin zunächst einmal dem Bereich der Theorie angehörenden – Künste‘ setzen sich zusammen aus dem:

a.) sprachlichen Dreiweg, dem Trivium aus Grammatik, Rhetorik und Dialektik,

sowie dem

b.) mathematisch-realen Vierweg, dem Quadrivium aus Arithmetik, Musik, Geometrie und Astronomie.

Unter Grammatik verstehen wir die Sprachlehre, mutter- wie fremdsprachlich. Die Rhetorik, ursprünglich die Lehre von der (gesprochenen) Rede, erweitert sich seit der Spätantike zu einer Lehre vom sprachlichen Ausdruck und der Literatur überhaupt. Dialektik steht für gedankliche Logik in Gespräch wie Text sowie (an der Universität) in der gelehrten Disputation. Die Arithmetik handelt von den Zahlen und dem, was in ihrem Zusammenspiel zum Ausdruck kommt. Musik ist Harmonielehre und begreift das Verhältnis der Töne zueinander (Akkorde, Intervalle) in Zahlen (Terz, Quart, Oktav …). Lehre und Bemessung von Strecke, Fläche und Körper (mit Lineal und Zirkel) ist Gegenstand der Geometrie, die darin von der (mit Landkarte und Globus) beschreibenden Geo-graphie zu unterscheiden ist. Die Astronomie beschäftigt sich mit den Himmelskörpern, den Umlaufbahnen der Planeten, den Sternbildern.

Als Artes sind sie im (späten) Hellenismus (um 100 v. Chr.) kanonisiert, von dem Juristen Martianus Capella aus Karthago 419-39 schließlich in seinem satirisch-philosophischen Lehrgedicht De nuptiis Philologiae et Mercurii (‚Über die Vermählung der Philologie mit Merkur‘) systematisiert worden (dort übergeben sie als Brautjungfern ihr Wissen als Hochzeitsgeschenke). Eine weitere Gesamtdarstellung finden wir an der Schwelle zum Mittelalter in den ersten drei Büchern des Kompendiums Etymologiae des Bischofs Isidor von Sevilla († 636) und in der Enzyklopädie De rerum naturis des Mainzer Erzbischofs (847) Rabanus Maurus.

Seit dem 7./8. Jh. stellen die Artes Liberales in den (westlichen) Kloster- und Lateinschulen die Grundlage der mittelalterlich-abendländischen Bildungsordnung bis hin zu Humanismus (Erasmus von Rotterdam 1466-1536) und Barock (Jan Amos Comenius 17. Jh.) dar. Sie werden später – so etwa der Bildungsgang Martin Luthers – als Propädeutik für die ‚Höheren Fakultäten‘ Theologie – Medizin – Recht von den ‚Artistenfakultäten‘ der Universitäten gelehrt. Die Facultas Artium verlieh als ersten akademischen Abschluß den Grad eines Baccalaureus Artium; sodann setzte der ‚Baccalaureus‘ (bereits mit teilweiser Lehrerlaubnis) sein Studium in einer der oben genannten Fakultäten fort, oder aber er verblieb ‚Artist‘ nach erfolgreicher weiterer Prüfung zum Magister Artium (mit voller licentia docendi) – moderne ‚Anklänge‘ sind durchaus nicht zufällig (ob die inhaltlichen ‚Füllungen‘ indes übereinstimmen, sei hier einmal eine andere Frage) …

Der ‚Magister‘ wurde seit dem 15. Jh. mehr und mehr durch den Doctor (philosophiae) ersetzt, die Artistenfakultät zur Vorläuferin der Philosophischen, und die jetzt vier Fakultäten, von denen eine Universität neben den Artes liberales mindestens eine der Höheren aufweisen mußte, bildeten im Idealfall das Studium generale. In diesem Sinne entbehrt es nicht der Konsequenz und Stimmigkeit, wenn die Artes Liberales von Neuem in den Blickpunkt der modernen Universität geraten sind: so hat in der Nachfolge US-amerikanischer allgemeinbildender liberal arts studies bzw. colleges die Universität Freiburg einen entsprechenden Bachelor-Studiengang eingerichtet, das Leibniz-Kolleg ein Studium generale, befinden sich in Berlin das (private) European College of Liberal Arts, in den Niederlanden University Colleges in Amsterdam, Maastricht und Utrecht; mit ihnen wird an die berufs- wie wissenschaftspropädeutischen – und sich von diesen Ausbildungsbereichen gerade abgrenzenden – Anliegen der humanistischen Artes des 15. und 16. Jahrhunderts sowie die damit verbundene Studienstruktur angeknüpft.

Michael P. Schmude,  Boppard

Rhetorik-und-Komoedie

Rhetorik-in-der-Neuen-Komoedie  [aus: RhM N.F. 133 (1990), 298-310]

Rhetorik in der Neuen Komödie

von: Michael P. Schmude

[Die vollständige Fassung des hier nur angerissenen Artikels findet sich unter obenstehendem (grünen) Link → auf der ‚Innenseite‘ …]

 Die pädagogische Grundsatzrede, mit welcher Micio zu Beginn von Terenz‘ Adelphen die Bühne betritt, ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert: inhaltlich bietet sie Überlegungen zu Fragen der Erziehung im Besonderen, der Lebensführung im Allgemeinen, die für die Geisteswelt der römischen Komödie unüblich sind; aber auch im Formalen stellt sie eine für diesen Dichter eher singuläre Erscheinung dar: denn wenn wir eine differenziertere Haltung zu Grundproblemen des Komödienlebens auch in den übrigen Stücken des Terenz allenthalben beobachten können, so entspricht der lange, geschlossene und – wie gezeigt werden soll – nach Regeln der téchnē rhētorikḗ gestaltete Auftrittsmonolog kaum der sonst zu beobachtenden Vorgehensweise des Autors.

Wohl ist Terenz die Bildung formal wie inhaltlich geschlossener Redeeinheiten durchaus nicht fremd, doch bezeugt Donat bereits für die Andria (zu v. 14), dass aus dem Eingangsmonolog der menandrischen Vorlage durch Hinzufügen einer weiteren Person ein Dialog wurde, und dem entspricht der Befund in den übrigen Stücken: die Handlungsgrundlagen werden jeweils in Form eines Zwiegesprächs gegeben, meist freilich mit deutlichem Übergewicht auf selten des Erzählers.

Anders in den Adelphoe: hier legt die Rede […] Unter rhetorischem Aspekt rückt die Tatsache, dass auch die Gegenseite zu Wort kommt (mit dem Publikum als ‚Richterkollegium‘), diese Passage dem genus iudiciale näher als dem genus demonstrativum oder (trotz starker adhortativer Elemente) dem genus deliberativum.