Schlagwort-Archive: Tyros und Sidon

Zu-B-Morstadt-Die-Phönizier

Zu-B-Morstadt-Die-Phönizier

Bärbel Morstadt: Die Phönizier, Wissenschaftliche Buchgesellschaft (Philipp von Zabern) Darmstadt 2015. 175 S., € 29,95 (ISBN 978-3-8053-4878-2).

Ein seefahrendes Volk, Handelsreisende im Mittelmeerraum (und jenseits → Hanno von Karthago entlang Westafrika, Himilko zu den Britischen Inseln, S. 76), Kulturbringer und begehrte Handwerker, die von ihrer levantinischen Heimat zwischen Syrien und Israel (bis zum Zweistromland) aus und zwischen 1200 und 300 v. Chr. noch vor den Griechen die gesamte mediterrane Küste ‚beidseits‘ besiedelten, bieten die Phönizier seit der Antike eine (zumindest) schillernde Projektionsfläche für je nach Quellenlage widersprüchliche Wahrnehmungen. Innerhalb dieser Marken beschreibt B. Morstadt (M.), Archäologin der phönizischen Diaspora an der Universität Bochum, ein Phänomen panoekumenischer Historie, welches – in eigenen Schriftquellen eher dürftig – in archäologischen Hinterlassenschaften wie in seinem literarischen Umfeld von Beginn an durchaus zwiespältigen Niederschlag gefunden hat.

Im AT (2Chr., 1Kön.) wie bei Homer (Il. 23) werden sie als herausragende Handwerker erwähnt, Byblos unterhält seit dem 4./3. Jt. rege Handelskontakte mit Ägypten, den Propheten ist ihre hybride Hauptstadt Tyros Grund für Jahwes Zorn, Herodot (hist. 5) bezeugt die Aneignung ihres Alphabets durch die Griechen um 800 – Bindeglied ist Kadmos, Gründer des böotischen Theben und Prinz aus Tyros – , aber auch die Kehrseite ihrer kommerziellen Raffinesse bleibt wenig später durch den homerischen Odysseus (Od. 14) nicht unerwähnt (S. 9-12) und noch dem Gallier Miraculix ein Begriff (S. 35 f.): dieser hat sehr wohl das Zitat aus der Odyssee – Verkauf der ‚Helden‘ auf dem nächsten Sklavenmarkt – im Hinterkopf … Und so schwankt die Phönizierforschung der frühen Neuzeit seit der Geographia Sacra des französischen Theologen S. Bochart (1646) zwischen einem Pan-Phönizismus, welcher diese zu kulturellen Ahnherren aller Völker ihres Expansionsraumes macht, und der Auffassung als orientalisches Gegenmodell zu einer europäisch-okzidentalen Identität, welche unter dem Einfluss des Philhellenismus im 19. Jh. herausgearbeitet wurde und sich auf den Schultern eines romantisierten Griechentums sinnbildlich in der minoischen Thalassokratie (S. 19) verselbständigte. Der Dominanz humanistischer, die griechische Antike idealisierender Bildung entsprach 1795 die Einrichtung – und zugleich Abgrenzung – der Orientalistik als akademischer Disziplin. E. Renans Mission de Phénicie (1864-74) im Rahmen einer Expedition unter Napoleon III. ins Libanongebirge wird zur Grundlage der modernen Phönizierarchäologie ebenso wie der politischen Ordnung in der Levante (S. 25). Von da aus spannt M. den Bogen zur modernen Staatswerdung: kulturelle Identifikation mit dem phönizischen Mutterland führt nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches 1918 einen ‚Großlibanon‘ 1943 in die libanesische Republik heutigen, christlich durchsetzten Zuschnitts und steht (nach wie vor) einem panarabisch-muslimischen Konzept ‚Großsyrien‘ im Wege.

Eine vergleichbare Rückbesinnung auf die antiken Wurzeln erfolgt am zweiten ‚Standort‘ in der libysch-tunesischen Syrte erst spät: wohl erhält Karthago, um 813 v. Chr. von Tyros aus gegründet, seit dem 6. Jh. Regionalmacht in Nordafrika und in den Punischen Kriegen des 3. und 2. Jh. v. Chr. Gegenspielerin römischer Machtinteressen im westlichen Mittelmeer, als solche literarischen Rang seitens des achäischen Römerfreundes Polybios sowie in den entsprechenden Büchern von Livius‘ Ab urbe condita, dazu noch einmal eine reife römische Blüte und bis zum 3. Jh. gar einen Bischofssitz (Cyprian). Auch sei der Gründungsmythos von der Erbfeindschaft, die tragische Liebesgeschichte um die Sidonia Dido in Vergils Aeneis, in einer historisch-archäologischen Arbeit eher nicht im Vordergrund, hier (wie S. 29, 152) wenigstens angedeutet: historisch ausgetragen wird sie von der Barkidenfamilie um Hamilkar und seinen Sohn Hannibal. Aber die neuzeitliche Heldenverehrung ist zunächst einmal Sache der französischen Kolonialmacht, während sich zeitgleich der tunesische Nationalismus über die islamische Periode seit dem 7. Jh. definiert. Das aktuell angekündigte Denkmal für Hannibal im Hafen des Vororts von Tunis harrt noch seiner Ausführung, ein Lehrstuhl für interkulturellen Dialog wurde 2001 in der Hauptstadt eingerichtet (S. 31 f.).

In einem – nicht ganz ebenmäßigen – Dreischritt geht M. an das Phänomen ‚Phönizien‘ heran: das Kernland bis zu seinem Aufgehen in der hellenistischen Welt (S. 53-112), geographisch zwischen dem südlichen Küstenteil Syriens und Nordisrael den modernen Libanon umfassend, kulturgeschichtlich vom Beginn der Eisenzeit bis zu den Eroberungszügen Alexanders d. Gr., machtpolitisch eingebettet in die ostmediterranen Umwälzungen (Zusammenbruch des Hethiterreiches, ‚Seevölkersturm‘) zu Beginn der ‚Dunklen Jahrhunderte‘, expansiv von Stadtstaaten wie Tyros und Sidon aus und – durchweg mit einer gewissen Eigenständigkeit – im Rahmen des assyrischen, neubabylonischen und achämenidisch-persischen Reiches, als Koilé-Syrien zwischen Ptolemäern und Seleukiden, als Provinz Syria nach dem 3. Mithridatischen Krieg seit 63 im Römischen Reich. Außerhalb Phöniziens (S. 113-48) rücken die Kolonisation im Vorderen Orient und über die Inseln und Küsten des Mittelmeers sowie in der Folge die kulturelle Wechselwirkung: Ägyptisierung – Orientalisierung – Hellenisierung (S. 149-55) zwischen Entdeckungsreisenden und den einheimischen Gesellschaften ins Blickfeld.

M.s Ansatz schwankt zwischen wissenschaftlicher Diskussion und den begrenzten Möglichkeiten objektiver Geschichtsdarstellung auf der Grundlage stets subjektiv und zeitbedingt interpretierter Schrift- wie archäologischer Quellen (S. 13 f., 43-52). Eingehend werden die personalen und diplomatischen Netzwerke des vorderasiatischen Großraumes gewürdigt. Belegstellen wie (zumeist neuere) Sekundärliteratur sind in den flüssig geschriebenen Text eingefügt und in einem ausführlichen Verzeichnis (S. 157-74) aufgeschlüsselt (man vermisst J. Seiberts Forschungen zu Hannibal 1993), Indices fehlen indes gänzlich. Abbildungen, Karten (zu klein das Format auf S. 8) und Rekonstruktionszeichnungen unterstützen den Zugang zum behandelten, omnipräsenten Movimentum mediterraner Kulturgeschichte.

 

Michael P. Schmude,  Boppard

 leicht gekürzte Fassung in: FORUM CLASSICUM 59 (2016), S. 113 f.