Zu-Weeber-Hellas-sei-Dank

Zu-Weeber-Hellas-sei-Dank

Karl-Wilhelm Weeber: Hellas sei Dank – was Europa den Griechen schuldet. Eine historische Abrechnung, München (Siedler) 2012, 397 S., Euro 22,99 (ISBN 978-3-8275-0009-0). –

„Es sind die Wurzeln, nicht die späteren Wachstumsschübe, die dieses Buch zutage führen soll …“: Weeber (W.) läßt bereits in der Einführung (9 f.) keinen Zweifel an seiner – durchaus subjektiven und (aus)wahlweisen – Sicht auf Griechenland als Geber -, weil Hellas als Ursprungsland, ohne doch zu verkennen, daß die Sicht auf eine der überschaubaren griechischen Poleis des Altertums zwangsläufig eine andere sein muß als diejenige auf einen Staat Griechenland der Neuzeit (16, 19, 31 u.ö.).

Die stets eingängige und gut lesbare Darstellung geht den Linien nach, in welchen die gesellschaftliche Entwicklung des antiken Griechenland Vorbild und Muster für das moderne Europa geworden ist. Und es sind schon wuchtige Pfunde, welche Hellas vormals der phönizischen Königstochter mit auf den Ritt durch die nach ihr benannten Gefilde ins Handgepäck und auf die Waagschalen des werdenden Europa gelegt hat – die Politik als „griechisches Gen“ (15-32) sowie die Akropolis „als Visitenkarte der Schule von Hellas“ (77-91) seien hier nur einführend genannt.

Zentral zu allen Zeiten die staatstheoretischen Erörterungen, kanonisch Platons Politeia und Aristoteles‘ Politika, ursprünglich aber die erste Verfassungsdebatte im Geschichtswerk des Herodot (III 80-84): an den persischen Königshof des Jahres 522 v. Chr. verlegt, zeigt sie im Munde dreier adliger Prätendenten, daß es für jede der klassischen Herrschaftsformen berechtigte Gründe für und wider gibt. Platons „Abrechnung mit der Demokratie“ steht unter dem Trauma der Hinrichtung seines verehrten Lehrers, welche für W. (26) freilich gerade nicht Ergebnis einer Art Lynchjustiz gewesen ist – prägnant auf den Punkt gebracht: mit dem „Rufmord an Athens Demokratie“ rächt Platon den vermeintlichen Mord an Sokrates (27). Das Philosophenkönigtum der Politeia ist der aristokratische Gegenentwurf, mit einer neuen Definition von ‚Aristokratie‘ auf der Grundlage von Geist und Moralität. Und Philosophenkönige können demnach auch Frauen sein, Königinnen also – dazu braucht es für Platon keine Quoten, sondern Weisheit und moralisches Format (2714 mit Tim. 18 d 8 f., Pol. 451 d 4 – e 7). Eine fürsorgliche, aber totalitäre Herrschaft berufener Geister, die alle Lebensbereiche durchdringt, Dichtung, Drama, literarische Fiktion ausgrenzt und zwangsläufig Widerspruch hervorruft, für unsere Epoche ganz entschieden in Karl Poppers Offener Gesellschaft von 1945 (letzte Aufl. 1992).

Hatte Platons Utopie gleichwohl Manches gemeinsam mit dem „real existierenden Einheitsstaat Sparta“ (W. 28), so steht das aristotelische Zóon politikón eher auf dem Boden seiner Zeit – und im Rahmen von deren Begrenztheiten (Sklaverei, Status der Frau u.a.). Aristoteles‘ aus den drei Grundformen zusammengesetzte und darum beständigste Mischverfassung (30) findet über die hellenistische Staatstheorie und Ciceros De re publica Eingang auch in modernes Denken, und bei aller – wiederum realistischen ? – Sorge Platons wie des Aristoteles um die politische Urteilskraft einer zumal enthemmten Volksmenge ist der Weg zur Demokratie als einem „erfolgreichen Experiment der Weltgeschichte“ (33-66) beschritten mit den kleisthenischen Reformen zum Ende des 6. Jh. v. Chr.: Der Ostrakismós, besonders eindrucksvoll gleich anfangs (33 f.) in der (unhistorischen) Episode um den Gerechten Aristeides (482 v. Chr.), ist hier wohl speziellster Ausdruck basisdemokratischer Teilhabe an der politischen Macht, der Epitaphios des Perikles (431/30 v. Chr.) „Die Verfassung, die wir haben, heißt Volksherrschaft“ (67-75) wird zu Recht als „visionärer Grundtext der Demokratiegeschichte Europas“ (69) eingestuft. Auch wenn das o.g., auf Vorschlag von Valéry Giscard d’ Estaing eingebrachte Zitat über der Präambel der (im ersten Anlauf gescheiterten) EU-Verfassung aus dem Entwurf des Jahres 2004 wieder herausgestrichen wurde (vgl. L. Zieske: FC 4/2011 284-98), so berührt es im „Paradigmenwechsel hin zu bürgerlicher Freiheit“ (a. O.) eine Markenkompetenz des gemeinsamen Europa unserer Tage – und sozialem Ausgleich und Gerechtigkeit verpflichtete die attische Demokratie ihre Besserverdienenden durch ehrenamtliche ‚Leiturgien‘ (74), mit welchen staatliches Handeln finanziell unterstützt wurde; auf der anderen Seite ruft Perikles aber auch zu Aufstieg durch Leistung (Thuk. II 40, 1).

„Griechenlands Götter nehmen es einem nicht übel, wenn man nicht an sie glaubt“ (93 f.), und es sind Dichter wie Homer, Hesiod und die attischen Tragiker, die sie als lebendige Figuren an sich erst „schaffen“ – so jedenfalls der Wortsinn des Begriffes „Poet“ – und sie neben dem Konkurrenzmedium Bildende Kunst auf die Reise durch zweieinhalb Jahrtausende europäischer Kulturgeschichte schicken, von Ovid bis zu Gustav Schwab (1838/40). Mit Prometheus (98 ff.) beginnt indes der Prozess des Sich-Absetzens, Zeus hat es versäumt, der Schöpfung des homo naturalis diejenige des homo civilis (103) folgen zu lassen, und so wandelt sich das Bild des Feuer-Frevlers zum eigentlichen, aktiven (Nietzsche) Kulturstifter, der für den anmaßenden, untätigen Despoten auf dem Olymp nurmehr Verachtung übrig hat (Goethe), dessen entfesseltes Vorpreschen aber auch in die Katastrophe Frankensteins (Mary Shelley 1818) einmünden kann: wieviel „Prometheus bound“, wieviel Epi-metheus hat der Vorkämpfer gegen die „Einschränkung des Menschen“ (Camus) nötig, und – (105 f.) wozu brauchen die Götter überhaupt Feuer (Lukian von Samosata) ?

Thukydides, politischer Analyst wie Opfer des von ihm dargestellten innergriechischen Bürgerkrieges, mehr noch aber der „Vater der Geschichtsschreibung“ (Cic. leg. I 5) spüren der Kausalität menschlichen Handelns in historischen Abläufen nach, wobei für Letzteren Legendäres sehr wohl exemplarisch bleiben kann. Von daher hätte der angesprochenen (142), geradezu philosophischen Begegnung zwischen dem Athener Solon und dem Lyderkönig Kroisos zur Frage nach dem Glück „in Zeit und Raum“ (W.) durchaus auch eine etwas ausführlichere Behandlung gebührt. Zugleich steht Herodot damit dem ganzheitlichen Ansatz moderner Historiographie näher als sein jüngerer Nachfolger (133, 137).

Die freie Rede, angelegt schon bei Homer und im Vortrag der Rhapsoden (146), lehrmäßig verfaßt erstmals in der jungen Demokratie von Syrakus 467/66 v. Chr. durch Korax und Teisias (147 f.), begründet auf peithó (Überredung-Überzeugung) und parrhesía (Redefreiheit), erfährt ihr Raffinement in der Sophistik namentlich eines Gorgias aus (dem gleichfalls sizilischen) Leontinoi in Athen. Aristoteles (156 f.) durchleuchtet sie dialektisch, auf ihre moralische Ambivalenz hin in der Rhetorik mit ihren Überzeugungsebenen éthos – páthos – lógos (1356 a 1-33), sein Zeitgenosse Demosthenes läßt ihre praktische Wucht in seinen Philippischen Reden gipfeln, welche Cicero in seinem letzten politischen Kampf gegen Marc Anton ebenso zum Vorbild werden wie die Rednerschulen Kleinasiens dem jungen Cicero (und Caesar) zum Studienziel (144 f.). Der Kontrast zur aktuellen Darbietung à la PowerPoint liegt auf der Hand, und W. betont völlig zu Recht, daß der lógos, die Sprache, als Alleinstellungsmerkmal des politischen Wesens (165 f.) den Kern jeder Menschenbildung – sowie eines entsprechenden Lehrplanes – ausmacht und als Kommunikationsmedium, von den Griechen vollendet, von den Römern gepflegt (167), heutige Präsentationstechniken im wahrsten Sinne in den Schatten stellt.

Die Erfindung von Wissenschaft und Philosophie (169-207), „Theater ist Kult“ – Tragische Trilogie und Satyrspiel, Alte (politische) und Neue (bürgerliche) Komödie (209-31), Olympischer Sport – und agonale Kultur (233-52), Nabel der Welt und Sitz der Sieben Weisen: Delphi und die Inszenierung von Glaubwürdigkeit (253-76), Erotische Konzepte, Asklepiosstab und der Eid des Hippokrates (277 ff.) sind weitere Momente, für welche „wir Hellas Dank schulden“, „Hellas Dank sei“ (231, 276, 299 u.ö.), auch für „unser tägliches Griechisch – Efcharistó, Hellás!“ (316). Die Begründung des Musendienstes aus bescheidenen Anfängen im 7./6. Jh. v. Chr. erlebt eine glanzvolle Institutionalisierung „als Leuchtturmprojekt staatlicher Kulturförderung“ (343) im Alexandria der Ptolemäer an der Wende des 4. zum 3. Jh. Der Niedergang des hellenistischen Mouseion, seiner Philologie und Bibliothek seit der Belagerung der Stadt durch Caesar (57 v. Chr.) mündet in spätantikem Vergessen; erst das Jahr 2002 erweist mit der Neuerrichtung der Bibliotheca Alexandrina griechischer Wissenschaft und alexandrinischer Muse – wir ahnen es – Dank (356).

Dies Alles wird in einer flüssigen und lebensnahen, auch für den Nichtspezialisierten gut verständlichen Sprache (nicht ohne manches Augenzwinkern) dargeboten. Hierbei wird man W.s Befund (11 f.) zustimmen, daß bei allen zahllosen, aber indirekten Rückgriffen auf unser gemeinsames kulturelles Erbe das Schulfach Griechisch als sein originärer Vermittler viel zu spärlich wahrgenommen und allzu oft einem platten, auf unmittelbare Nutz- und Anwendungseffizienz ausgerichteten Begriff von schulischer Allgemein- und Persönlichkeitsbildung geopfert wird. Ungeachtet hingegen, welches – unterschiedliche – Gewicht man im Einzelnen auf Gegenstände wie Adressaten des Dankes legen möchte, schließt sich Rez. der Gesamtaussage des Autors sehr wohl und gerne an.

Michael P. Schmude,  Boppard

aus: Forum Classicum 56 (2013) S. 65-67.

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