Rhetorik-Antikes-System

Rhetorik-Antikes-System-und-moderne Praxis

Rhetorik – Antikes System und moderne Praxis: Aristoteles – Quintilian und das Format Jugend debattiert

von Michael P. Schmude, Boppard

Vortrag auf dem Abschlußsymposion des <Historischen Wörterbuchs der Rhetorik> (Universität Tübingen): „Die Zukunft der Rhetorik als Kulturidee, Wissenschaft und Technik“ vom 17. bis 19. Mai 2012 in Blaubeuren → für den Druck überarbeitete und um den wissenschaftlichen Apparat erweiterte Fassung in: G. Ueding/G. Kalivoda (Hgg.): Wege moderner Rhetorikforschung – Klassische Fundamente und interdisziplinäre Entwicklung (Berlin/Boston [de Gruyter] 2014) [Rhetorik-Forschungen 21], S. 373-388. –

 

A.Rem tene – verba sequentur: behalte die Sache im Auge – die (passenden) Worte werden folgen“ – das bekannte Diktum des Älteren Cato aus dem 2. Jh. v. Chr., als Ratschlag durchaus bestechend, befolgt eher weniger: noch in der zweiten Hälfte des 20. Jh. und nach Ausweis seines damaligen Regierungssprechers liebte es ein ehemaliger Bundeskanzler, welcher noch in unseren Tagen als elder statesman Deutschland und die Welt milde und gelassen belehrt, vor seiner Zuhörerschaft jetzt einmal von dem abzugehen, was ihm seine Referenten vorbereitet hätten – um sodann genau und eben dieses vorzutragen. Und auch in der Bundestagsdebatte sind bekanntlich keine schriftlich vorgefaßten und abgelesenen Reden vorgesehen, sondern es gilt das sich aus der Sache ergebende „gesprochene Wort“. Doch sich auf den oben zitierten kernigen und sperrigen Kauz aus der Hochzeit der Römischen Res publica zu verlassen, war seinen Nachfolgern dann doch wohl zu riskant, und seinen Vorgängern ebenso: mit dem Beginn politischer wie ziviler Prozesse, in welchen zu jedem Streitpunkt beide Seiten zu Wort kommen und ihr Anliegen vortragen sollten, bildete sich auch ein Lehrgebäude aus, in welcher Weise dieses am zielführendsten zu erfolgen habe. Der Schein der Spontaneität wurde dann durch den auswendig memorierten Vortrag gewahrt, denn wie bei einem gelungenen Violinenspiel niemals das dahinterstehende Üben erkennbar werden darf, so sollte eine wirkungsvolle Rede in Gerichtssaal oder Volksversammlung des demokratischen Athen zur Blütezeit der aktiven Beredsamkeit einen Anschein nicht vermitteln – daß sie etwa (und dazu noch unter Mühen) im Vorhinein er- und ausgearbeitet worden sei. Für meinen Teil indes muß ich freimütig gestehen, daß Letzteres für diesen Vortrag zutrifft – tempora mutantur, nos et mutamur in illis (was dem alten Cato im Übrigen nie über die Lippen gekommen wäre) – für ein rhetorisches Format, im geregelten Austausch der Argumente Stellung zu beziehen und Standpunkte auszutragen, gilt hingegen nicht nur das genannte Unmittelbarkeitsgebot des bewährten ‚Systems‘ in zeitloser Aktualität.

Das ‚Antike System der Rhetorik’ – ein weiteres Lehrgebäude neben Philosophenschulen, Dichtungstheorie und grammatischen Programmen … ? „System“ ist griechisch und bedeutet „Zusammenstellung“, und so haben nach aristotelischem Vorlauf der praktizierende Rhetor Cicero, welcher auch Lehrschriften zur Kunst der Rede hinterlassen hat, und der Walter Jens der Antike, also der Inhaber des ersten, von Kaiser Vespasian eingerichteten Lehrstuhls für Rhetorik in Rom, Professor Quintilian Regeln, Anweisungen und Empfehlungen zu Form wie Inhalt einer gelingenden Rede für den tüchtigen Redner zusammengefasst, geordnet und strukturiert; herausgekommen ist dabei in Gestalt der Institutio oratoria, was man bis heute das antike ‚System der Rhetorik’ nennt – so weit, so bekannt.

Sokrates, der Unruhegeist des athenischen Marktplatzes, der Agora im 5. Jh. v. Chr., fordert im Dialog Phaidros 269 d 4 ff. seines Schülers Platon für den vollendeten Redner zunächst einmal Veranlagung, Kenntnis und Übung – aber das sei nur die technische Seite traditioneller Rhetorik, und diese richte sich ohnehin inhaltlich am bloß Wahr-scheinlichen und nur von Volkes Meinung für jeweils wahr Gehaltenen aus (259 e 4 – 260 a 4). Zur Redekunst indes führe nicht der Weg, die Méthodos eines ausgewiesenen Stilisten wie Lysias oder eines Redelehrers wie Thrasymachos, vielmehr verleiht Sokrates den ersten Rang dem Perikles (e 1/2). Wie der Arzt sich über die unterschiedliche Natur des Leibes im Klaren sein müsse, so habe der Redner als Seelenführer (Psychagōgós) die Vielgestaltigkeit der menschlichen Seele darzulegen oder zu beachten, woraus sich kunstgemäß dann wiederum verschiedene Arten von Reden ergäben, von welchen die eine Seele überredet werde (peíthetai), die andere un-überredet bleibe (a-peitheí 271 b 1-5). Die scharfsichtige Beobachtung der Natur des Menschen und Wahrnehmung der (je individuellen) Ursachen, die diese beeinflussen können (oder nicht), im Verein mit den rhetorischen Mitteln zu ihrer Verstärkung und den Regeln ihres Einsatzes machen erst die wahre Redekunst aus (271 c 10 – 272 b 2). Zudem habe diese sich stets am Wahren (262 c 1-3) und Gerechten – und damit sind wir bei Platons Ideen – zu orientieren, im Unterschied zum Postulat des (bloß) Wahrscheinlichen und Glaubhaften seiner sophistischen Gegenspieler (272 d 2 ff.), aber auch zur unphilosophischen Redenschreiberei (Logographía) etwa eines Lysias (257 b 2 – d 8) – ohne Kenntnis des wahrhaft (óntōs) Guten und Gerechten (260 a 1-4). Und mit eben diesem ganzheitlichen Wissen (270 c 1/2) um die Natur des Verstandes (noús) wie Unverstandes (ánoia), erworben im Umgang mit dem Philosophen Anaxagoras, habe Perikles neben seiner guten Veranlagung (s.o.) schließlich seine Beredsamkeit zur Redekunst veredelt (270 a 3-8).

Wir sprechen mithin von nichts weniger als dem hochtalentierten, umfassend ausgebildeten und grundlegenden philosophischen Idealen verpflichteten Rhetor und Staatsmann, wie er sich nachfolgend am Beispiel eines Demetrius von Phaleron, des makedonischen Statthalters von Athen (in den Jahren 317-07 v. Chr.) zeigt und noch einmal im römischen Pendant zum Phaidros, Ciceros De oratore (namentlich in der Figur des Redners Crassus) herausgearbeitet werden wird. In Platons Staatsentwurf, der Politeia (396 e 4 ff.) kennzeichnet den guten Redner ein klares Überwiegen der mit angemessener Distanz erzählenden (dihḗgēsis) gegenüber den darstellerisch nachahmenden Teilen (mímēsis) eines Vortrags; das mimetische Moment berge die Gefahr mangelnder Würde von darzustellender Person oder Sache (396 c 5 – e 2) sowie die Erfordernis, den Darstellungsmodus in Harmonie und Rhythmus zu verändern und wechselnden Stimmungen (metabolaí) anzupassen (397 b 6 – c 6). Eigentlich aufnahmefähig in die zu gründende Stadt ist als Rhḗtōr allein der Nachahmer des beständig Gehörigen und sittlich Guten (mimētḗs toú epieikoús 397 d 4 f.): den künstlerisch filigranen und wandelfähigen Performer von Allem und Jedem würde man bewundern und auszeichnen – und in eine andere Pólis verabschieden; zur Erziehung des eigenen Führungsnachwuchses tauge allein der weniger unterhaltsame, in seiner herben Würde aber nützlichere Erzähler und Stilist des Geziemenden und Schicklichen (hós tḗn toú epieikoús léxin mimoíto 398 a 1 – b 4).

Nicht so sehr an Sokrates-Platon anknüpfend als ihrem ‚Sitz im Leben‘ entsprechend unterscheidet sozusagen eine Wissenschaftlergeneration später Aristoteles in seiner Rhetorik (1358 a 36 ff.) drei Arten der Rede mit unterschiedlicher Thematik und unterschiedlichen Anliegen: das genus iudiciale, die Rede vor Gericht, heute anwaltlichen Plädoyers vergleichbar und Vergangenes behandelnd (Zielsetzung: Gerechtigkeit), das genus deliberativum, die politische, auf den Nutzen in der Zukunft ausgerichtete Rede auf dem Areopag oder im Bundestag, und das genus demonstrativum, die in der Gegenwart verankerte Festrede beispielsweise des Perikles zu Ehren der im ersten Jahr des Peloponnesischen Krieges Gefallenen oder zum fünfzigjährigen Bestehen des Grundgesetzes. Ein modernes Debattenformat, wie es im Einzelnen weiter unten noch vorgestellt werden soll, entspricht hier am ehesten der Art und Erfordernis des genus deliberativum, der geschlossenen Erörterung des Für und Wider anstehender Maßnahmen.

Um – auch für die Situation der Debatte im Ganzen – jeweils zu einer überzeugenden Rede zu kommen, durchläuft der künftig erfolgreiche Rhetor nach Cicero (De or. I 142) und Quintilian (Inst. orat. III 3, 1) mehrere Arbeitsgänge: er findet Argumente und Aspekte für seinen Standpunkt, für sein Thema in der inventio; doch nützt die beste Sammlung von Stoff und Gedanken wenig ohne Ordnung, Kohärenz und den berühmten Roten Faden – darum das zweite Gebot der dispositio, der Anordnung der Argumente. Aber nicht nur der Inhalt, auch die Form soll bestechen – der gewonnene Rote Faden bedarf eines Gewandes, der elocutio, der sprachlich-stilistischen Ausarbeitung. Ein Ablesen dieses nun kunstvollen Gebildes vom Blatt war in der Antike ebenso verpönt wie im Deutschen Bundestag untersagt und praktiziert: die Rede ist jetzt auswendig zu lernen (memoria) und hernach frei vorzutragen (die actio, durchaus auch ein schauspielerischer Akt, wurde den ursprünglich drei aristotelischen Schritten von Theophrast hinzugesellt) – es galt und gilt (wie oben schon gesagt) „das gesprochene Wort“.

 Aristoteles teilt die Bücher seiner Rhetorik nach diesen gewichtigsten Schritten ein: I und II behandeln die Heúresis, das Finden der Überzeugungsmittel, III die Léxis, die sprachliche Form sowie die Táxis, die Anordnung von Redestoff und –teilen.

 Nun treffen in der Gerichts- wie in der politischen Rede gleichermaßen unterschiedliche Standpunkte aufeinander, für und wider welche es gute Begründungen anzuführen gilt. Wie gelangt man also zu treffenden Argumenten und bringt diese auch noch in eine wirksame Abfolge und sprachliche Gestalt ? Cicero widmet dem ersten Arbeitsgang „Gute Argumente finden“ seine Frühschrift De inventione, doch schon Aristoteles (rhet. 1355 b 35 ff.) hatte die grundsätzliche Einteilung der Beweismittel in solche, die innerhalb der rhetorischen Theorie (písteis éntechnoi) und solche, die außerhalb (písteis átechnoi) liegen, geliefert, welche Cicero (De or. II 116 f.) und Quintilian (Inst. orat. V 1, 1) sodann als kanonisch galt: von den Argumenten liegen die Einen auf der Hand, sind durch Situation oder Kontext unmittelbar vorgegeben (probationes in-artificiales) und brauchen von der Kunst der Rhetorik nicht geschaffen, nur gefunden zu werden, wie Zeugenaussagen oder Präzedenzfälle. Andere müssen durch Reflexion oder Schlußverfahren (Cic. inv. I 57: ratiocinatio, namentlich den Syllogismus oder dessen verkürzte Form, das Enthymem – Arist. rhet. 1356 a 35 ff.) erst noch erarbeitet oder aus dem Gegenstand des Streites herausgeholt werden (probationes artificiales), wie Indizien (signa), Folgerungen oder Beispiele (exempla); besonders dankbar auch das dialektische Verfahren der Vorwegnahme eines gegnerischen Argumentes (anticipatio oder praeoccupatio – eigentlich eine Sinnfigur), im Idealfalle des Königsargumentes der Gegenseite, um es dann um so wirkungsvoller zu zerpflücken (rhet. 1418 b 8 f.) …

Auf der sprachlichen Seite unterscheiden die Aristoteles-Schüler Theophrast (Perí léxeōs a‘) und Demetrios von Phaleron (Perí hermēneías = Über den Stil 2, 36 f.) sowie in ihrer Nachfolge Cicero (Orator 20 ff. und 75 ff.) entsprechend den obengenannten drei aristotelischen genera dicendi bestimmte, der Eigenart der Rede wie den Aufgaben der Redeteile dienende Stilebenen: so den schlichten Stil (genus subtile) für die Beweisführung vor Gericht (Vorbild Lysias), den mittleren oder gemischten Stil (genus medium) für die Erörterung im genus deliberativum (Vorbilder Isokrates und Demosthenes), den erhabenen Stil (genus grande) für die gedanklichen Höhepunkte einer Festrede (Vorbild Gorgias). Meßlatten sind hier die Sprachrichtigkeit (Hellēnismós oder Latinitas) und die Deutlichkeit (perspicuitas), die Angemessenheit (aptum) und der Redeschmuck (ornatus) mit seinen Stilmitteln sowie nicht zuletzt die Kürze (brevitas). Eine bis heute gültige Zusammenstellung der Tropen und Figuren gibt Quintilian in Buch VIII (6, 1 ff.) bzw. IX (1, 1 ff.) seiner Institutio oratoria.

Für das anschließende Auswendiglernen bedient man sich einer Reihe von Mnemotechniken, wie sie schon Theodektes (aus dem kleinasiatischen Lykien), ein Schüler des Isokrates und enger ‚Kollege‘ des Aristoteles, bereitgestellt hatte. Der Vortrag wird durch passenden Einsatz von Mimik und Gestik zu einem beeindruckenden – wobei wir in Ciceros De oratore gelesen haben, daß der vollkommene Redner, <qui, quaecumque res inciderit, quae sit dictione explicanda, prudenter et composite et ornate et memoriter dicet cum quadam actionis etiam dignitate> (I 64) „der, welcher Gegenstand auch immer anliegt, den es sprachlich zu entfalten gilt, mit Sachkenntnis, Struktur, Wirkung und genauer Erinnerung sprechen wird mit entsprechender auch Würde des Vortrags“, sich als actor veritatis vom bloßen Schauspieler, dem histrio abhebe, welcher die Wirklichkeit nur nachahme (De or. III 214). Ein für jede Phase der sprachlichen Ausarbeitung wie Darbietung entscheidendes Kriterium ist das aptum/prépon, welches die Rede selbst wie ihren Vortrag nach der jeweiligen Causa, dem Auditorium, der Person und den Zeitumständen des Redenden ausrichtet: <omnique in re posse quod deceat facere artis et naturae est, scire quid quandoque deceat prudentiae> (De or. III 210-12) „In jeder Redesituation das tun zu können, was sich ziemt, ist Sache von Können und Veranlagung, zu wissen, was sich ziemt und wann, von Klugheit“.

Am Ende dieses Schaffensprozesses steht eine stofflich wohlrecherchierte, gedanklich klar strukturierte, sprachlich-stilistisch elaborierte, sicher memorierte und darstellerisch eindrucksvoll performierte Ansprache an eine aufmerksame und gelehrige, zumindest aber wohlwollende Zuhörerschaft – Ciceros und Quintilians (Inst. orat. IV 1, 5) Trias iudicem attentum, docilem, benivolum parare; Cicero hatte im Orator (69) die Aufgabe des Redners auf dem Forum wie vor Gericht mit probare (untersuchen und glaubhaft machen), delectare (unterhalten und fesseln) sowie flectere (umstimmen und anrühren) beschrieben. Gegliedert ist diese Ansprache nach Aristoteles (rhet. 1414 a 31 ff.) wie Cicero (De or. II 80) und Quintilian (Inst. orat. III 9, 1) in ein exordium/prooemium, welches Ort, Zeit und handelnde Personen einführt, eine narratio, welche die Vorgeschichte oder begleitenden Umstände des Falles erzählt, sich sodann zur Vorstellung des eigenen Standpunktes, der propositio, hin verdichtet und präzisiert und diesen in einer argumentatio dafür (probatio) und/oder einer Widerlegung des Gegenstandpunktes (refutatio) vertritt, und abschließend in eine conclusio/peroratio, welche noch einmal die treffendsten Argumente im Gedächtnis der Zuhörerschaft verankert.

Die Wirkung einer Rede wird dabei auf den Ebenen der Argumentation (Logos: begriffliche Präzision und rhetorische Struktur), der Gewinnung von Sympathie (Ethos: Glaubwürdigkeit des Redners) und der Erregung von Affekten (Pathos: Befinden [vorrangig] beim Hörer) erzielt (Arist. rhet. 1356 a 1-20), ihre Überzeugungskraft hängt wesentlich davon ab, ob die Überzeugungsmittel zum passenden Zeitpunkt (Kairós: Plat. Phaidr. 272 a 4-7) und mit dem rechten Maß (Aptum: Cic. Or. 70 f.) eingesetzt werden.

 

B. Geändert hat sich an diesem System im Grundsatz seit der Antike, genauer genommen seit dem Ende des 4. Jh. v. Chr. wenig, Weiterentwicklungen und Differenzierungen betreffen Einzelphänomene (etwa in der Figurenlehre) – auch moderne Handbücher der Beredsamkeit verorten sich insbesondere in ihrem systematischen Teil bei Aristoteles, Cicero und Quintilian. Kennzeichnend ist natürlich die äußerlich rein monologische Anlage (die ein inneres Zwiegespräch durchaus enthalten kann), und die Frage liegt nahe „wie sieht es denn aus mit der Rhetorik im Dialog, in der Diskussion, in der Disputation, in der Debatte ?“ Und so hat ein bereits mehrfach genanntes, modernes Format des agonalen Wortwechsels diese beiden Spielarten verbalen Austauschs miteinander kombiniert und in ein Regelwerk eingebettet, in welchem das antike System freilich überall erkennbar bleibt – die Debatte nach Jugend debattiert, einem Gemeinschaftsprojekt auf Initiative der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung (Frankfurt a. M.) und zusammen mit den Kultusministerien der Bundesländer.

Die Brockhaus-Enzyklopädie (Bd. 5 [191988] 178) leitet die Debatte vom französischen débattre <durchsprechen>, <den Gegner mit Worten schlagen> (auch wir sprechen von einem <durchschlagenden Argument>) aus dem vulgärlateinischen battuere (eigentlich einem keltischen Fremdwort) für <schlagen, stoßen, klopfen> her und beschreibt sie als „offene Diskussion, Erörterung, Aussprache (Gr. Duden-Lexikon: … in geregelter Rede und Gegenrede), bes. bei unterschiedlichen oder gegensätzlichen Auffassungen. Besonders durchgebildet ist das Verfahren der Debatte bei internationalen Konferenzen, politischen Versammlungen und parlamentarischen Verhandlungen“.

Das Historische Wörterbuch der Rhetorik (Bd. 2 [1994] Sp. 413) definiert die Debatte als „eine Form sprachlicher Auseinandersetzung, die auf einem antagonistischen Grundschema beruht. Dabei steht die Auseinandersetzung mit dem Ziel gedanklicher Virtuosität und sprachlicher Vollendung in Konkurrenz mit der Auseinandersetzung um den sachlichen Gehalt“. Der Begriff entsteht in den französischen Kathedralenschulen des 11. und 12. Jh., also im Umfeld theologisch-philosophischer Schuldisputationen; kennzeichnend und Voraussetzung sind für diese Grundform eines gesamteuropäischen Streitgespräches vier Merkmale:

  1. die gesellschaftliche Anerkennung von Redegewandtheit,
  2. die Ebenbürtigkeit bzw. Gleichwertigkeit der Gegner zu Beginn einer Diskussion,
  3. das Interesse an der Gegensätzlichkeit der Standpunkte (auch als Ausdruck für die Interessen sozialer Gruppen oder Typen),
  4. die Erkenntnis und Anerkennung von sprachlichen Ambivalenzen und Meinungsunterschieden je nach Standpunkt und Kontext.

Gleichwohl sieht man an diesen Bestimmungen bereits den Bedarf an klarer Abgrenzung des Formats <Debatte> von anderen Formen der verbalen Auseinandersetzung:

Unterschieden von der Debatte als Gespräch zur Klärung von praktischen Entscheidungsfragen („Soll der Staat zur Verbesserung des Bildungswesens neue Kredite aufnehmen ?“) sind die Diskussion zur Klärung von offen formulierten Sachfragen (W-Fragen „Wer, wo, wie, warum … ?“) sowie die Disputation zur Klärung von Voraussetzungen (theoretische Alternativfragen – „Ist der Mensch eher durch Naturveranlagung oder durch Umweltfaktoren disponiert ?“), wenngleich die rednerische Praxis sich die Mischung zunutze macht (zu Diskussion und Disputation in ihrer historischen Entwicklung → die entsprechenden Artikel des HWRh). Auch das antike ‚System der Rhetorik‘ hatte zwischen abstrakt-theoretischen Fragen (quaestiones infinitae) und konkret-praktischen Fragen (quaestiones finitae) unterschieden und aus letzteren die drei Redegattungen (genera causarum) Gerichts-, politische und Gelegenheitsrede abgeleitet, zu denen wiederum sich auch Jugend debattiert in Beziehung setzt. Vor diesem Hintergrund bleiben zum Einen Anliegen und Eigenart des Jugend debattiert – Formates zu klären, zum Anderen, worin im Besonderen eine Jugend debattiert – Debatte besteht.

Zu Ersterem: es ist praktizierte Rhetorik, Debattierkunst im Für und Wider mit Anderen, in Regeln gefaßt und in unterschiedliche Formen des Vortrags strukturiert. Grundanliegen ist es, der Rhetorik wieder ihren Platz im unterrichtlichen Angebot einzuräumen, welchen sie zu Zeiten der Septem Artes Liberales ganz selbstverständlich einnahm: als Fertigkeit, sich zu einem Thema nach allen Seiten mit Kenntnis in der Sache, angemessenem sprachlichen Ausdruck sowie Gesprächsfähigkeit zum Gegenüber und daraus nicht zuletzt resultierender Überzeugungskraft zu äußern. Im Vergleich mit den antiken genera causarum ordnet Jugend debattiert sich deutlich dem genus deliberativum, der Für und Wider erörternden politischen Rede zu.

Zum Zweiten: eine Debatte nach dem Format Jugend debattiert setzt sich aus drei Teilen zusammen: in einer Eröffnungsrunde gibt jede/r der Debattierenden ein zweiminütiges Eingangsstatement zum gestellten Thema ab. Dabei sprechen sich zwei für die in Frage stehende Maßnahme aus, zwei dagegen; es beginnt, wer eine Änderung des bestehenden Zustandes wünscht.

 Exemplarisch für diese Viererstruktur der Gesamtdebatte sind die Tetralogiai des attischen Redners und Sophisten Antiphon von Rhamnus (5. Jh. v. Chr.).

 Die Freie Aussprache gibt ein offenes Wechselgespräch der stets vier Debattierenden (12 min.), die ihre in der Eröffnungsrunde eingenommenen Standpunkte nunmehr entfalten können: jetzt wird die monologische durch eine dialogische Struktur abgelöst; das Aufeinandertreffen (battuerebattre s.o.) der Argumente erfolgt ohne Moderator, also ungebunden, aber nicht ungeregelt. Das Wort hat, wer es sich nimmt, und so finden sich hier am ehesten Elemente auch der Diskussion. Eine gewisse Strukturierung neben dem Austausch der eigentlichen Argumente kann dabei durch résumierende Einlagen („darüber sind wir uns jetzt einig, strittig bleibt aber weiterhin …“) einzelner Debattenteilnehmer erreicht werden. Eine Schlußrunde ermöglicht jeder/m Debattierenden ein jetzt einminütiges Schlußstatement, wobei nur Argumente vorgebracht werden dürfen, welche in Eröffnungsrunde und Freier Aussprache bereits zum Einsatz gekommen waren – denn auf ein völlig neues Argument könnte man nicht mehr entgegnen. Im gemeinsamen Rückgriff auf die soeben geführte Auseinandersetzung verdichten sich diese Schlußreden ganz im Sinne einer conclusio oder peroratio des antiken ‚Systems‘. Die Reihenfolge ist die Gleiche wie in der Eröffnungsrunde. Als Antworten auf die Frage, um welche sich die – im Ganzen also 24minütige – Debatte dreht, sind nur Ja‘ oder ‚Nein‘, Pro oder Contra möglich.

 Es gibt auch kleinere Versionen wie die Mikrodebatte und die Trainingsdebatte, welche aber alle Elemente des originalen Debattenformats, wenngleich in zeitlich verkürzter und argumentativ vereinfachter Form, enthalten: eine politische Streitfrage als Thema, zwei Redner/innen pro und zwei contra, festgelegte Reihenfolge und Aufbau der Eröffnungs- wie der Schlußreden; die Freie Aussprache bleibt eine freie, und es erfolgt gleichermaßen keine Gesprächsmoderation. In der Mikrodebatte umfaßt die einzelne Eröffnungsrede drei (für die einfache) bzw. sechs Sätze (für die entfaltete Struktur), die Freie Aussprache drei bzw. fünf Minuten, die Schlußrede jeweils wiederum drei bzw. fünf Sätze, woraus sich eine Gesamtdauer von sechs bzw. zehn Minuten ergibt. In der Trainingsdebatte hat die einzelne Eröffnungsrede anderthalb Minuten, die Freie Aussprache acht Minuten, die Schlußrede jeweils eine Minute, woraus sich eine Gesamtdauer von achtzehn Minuten ergibt.

 Kriterien der Debatte sind Sachkenntnis – weiß der/die Redner/in, worum es geht ? – Ausdrucksvermögen – wie hat er, was er meint, gesagt ? – Gesprächsfähigkeit – hat er zugehört und die anderen berücksichtigt, ist er auf ihre Beiträge eingegangen ? – Überzeugungskraft – hat er, was er sagt, auch gut begründet ?

Und ganz analog zu den Vorgaben des antiken ‚Systems der Rhetorik‘ finden sich auch hier die Überzeugungsebenen der Debatte Logos (Verstandesebene bei Sprecher wie Hörer) – Ethos (Betroffenheit auf Sprecherebene) – Pathos (Betroffenheit auf Hörerebene) sowie Kairós (rechter Augenblick oder passende Situation).

Debattiert werden aktuelle Fragen von allgemeinerem gesellschaftlichen Interesse. Das Thema ist so zu formulieren, daß nach einer konkreten Maßnahme gefragt wird und nur mit ‚Ja‘ oder ‚Nein‘ geantwortet werden kann. Die Strukturen von Eröffnungsrede und Schlußrede sind festgelegt (s.u.). Die eingangs eingenommene Position zur Frage darf durchaus – begründet – geändert werden. Die Beratungen der Jury, welche die Debatte als Ganzes wie die einzelnen Debattierenden nach den genannten vier Kriterien bewertet und qualifiziert rückmeldet, sind generell öffentlich.

 Zu unterscheiden ist das Jugend debattiert-Format vor dem Hintergrund von ‚Fraktionszwang‘ und rechtfertigendem gegenüber deliberativem Anliegen vom britischen ‚Westminster debating‘ in Reinform wie in Spielart der seit dem 19. Jh. klassischen ‚Publikumsdebatte‘ und von der in Deutschland derzeit vorherrschenden ‚Offenen Parlamentarischen Debatte‘.

 Die Kriterien der Debatte ergeben sich aus den Arbeitsgängen des Redners des antiken ‚Systems‘ nach Cicero und Quintilian (s.o.):

  • inventio:         Argumente    finden             → Sachkenntnis
  • dispositio:                          ordnen → Sachkenntnis; Überzeugungskraft
  • elocutio:                   sprachlich ausformulieren → Ausdrucksvermögen
  • memoria:  auswendig lernen → die Debattierenden gehen ohne                                                                          Aufzeichnungen in die Debatte
  • actio                          vortragen      → Überzeugungskraft.

 

Für das Bestreiten einer gelingenden Jugend debattiert – Debatte bilden diese Arbeitsgänge – Stichwort: „Gute Argumente finden“ – den mühevollen Kern jeder Vorbereitung, welche unsichtbar die Leichtigkeit der kommenden Rede erst möglich macht (Quint. Inst. orat. X 1, 1 und 5, 1 – dazu treten progymnasmata, diese firma quaedam facilitas / héxis – „sichere Geläufigkeit“ zu erreichen und zu pflegen). In dieser Vorbereitungsphase recherchieren die Debattierenden zur Sache, machen sich kundig und leiten daraus Argumente ab (← inventio); hier kommen unterschiedliche Hilfsmittel zum Einsatz wie der Fragenfächer (zur Klärung von Hintergrund-, sogenannten W-Fragen, die als Unterfragen dem Ziel dienen, das strittige Thema durch Eingrenzung genau abzuklären), der Begriffsbaum zu Abgrenzung, Zuordnung und Hierarchisierung von Begriffsfeldern (Arbor Porphyrii) oder das Suchfenster zu Unterscheidung wie Gewichtung von Pro- und Contra-Argumenten (← dispositio).

Der (Begriffs-)Baum ist ursprünglich eine Metapher des neuplatonischen Philosophen und kaiserlichen Beamten Boëthius (um 480 bis 526) für eine hierarchische Methode der ontologischen Klassifizierung in fünf Grundbegriffen – Gattung (genus), Art (species), artbildender Unterschied (differentia specifica), wesentliches Merkmal (proprium), zufälliges Merkmal (accidens) – die der Schüler Plotins und spätantike Aristoteles-Kommentator Porphyrios von Tyros (232 bis 301) in seiner Einführung (Eisagōgḗ) zu dessen Katēgoríai – und damit dem (nach)aristotelischen Organon, seiner Logik – entwickelt hatte (In Porphyrium commentationum III – Migne: PL 64, 103). Um 1240 formuliert der Scholastiker und Logiker Petrus Hispanus (Summulae logicales, tract. II 11) diesen als epistemologischen Terminus für die mittelalterliche (R. Llull 1305) und neuzeitliche Enzyklopädik (Bacon 1620, E. Pourchot 1730, Diderot 1751).

 Zumindest die Eingangsreden sind nicht nur in diesem Sinne vorbereitet, sondern auch sprachlich ausformuliert (← elocutio) und müssen in freiem Vortrag (← memoria) verständlich und authentisch die Mit-Debattierenden ‚in Stellung bringen‘ und die Jury überzeugen können (← actio).

Den ‚klassischen‘ Teilen der Rede exordium (Einleitung) – narratio (Erzählung des Herganges) – propositio (Präzisierung des Sachverhalts) – probatio (positivem) – refutatio (negativem Beweis im Rahmen der argumentatio) – conclusio (Schluß) nähert sich die Struktur der Eröffnungsrede einer Debatte an – der ‚Rhetorische Fünfsatz‘: eine Einleitung enthält die Klärung des Themas und Präzisierung einer Maßnahme oder eine (kritische/unterstützende) Anknüpfung. Daran schließen das erste (zweitstärkste), zweite (schwächste) und dritte (gewichtigste) Argument an, während der Schluß den ‚Zielsatz‘ enthält: „und darum bin ich dafür/dagegen, daß …“. Die festen Bauteile einer Schlußrede sind das Wiederaufgreifen der Ausgangsfrage, die Gegenüberstellung des Hauptargumentes pro und contra, gipfelnd im persönlich überzeugendsten Beweisgrund für oder gegen die debattierte Maßnahme sowie am Ende die unverändert beibehaltene oder begründet modifizierte Einstellung hierzu.

Zur Eröffnung einer Debatte gibt es vier Positionen mit vorgesehenen Rollen:

Pro 1:  bereitet das Thema für die Debatte auf – präzisiert die Fragestellung und schlägt erste Maßnahmen zur Erreichung der gewünschten Veränderung vor, ‚bringt den Ball ins Spiel‘ (← propositio).

Contra 1:  beleuchtet kritisch die vorgeschlagene Maßnahme.

Pro 2:  unterstützt, ergänzt, vertieft, modifiziert die erste Position.

Contra 2:  unterstützt Contra 1, faßt aber bereits ansatzweise zusammen und leitet zur Freien Aussprache über.

Dabei gehören die monologischen Teile zu Beginn und am Ende zum aristotelischen Rede-Génos symbouleutikón, dem genus deliberativum, der geschlossenen Erörterung des Für und Wider. Aber auch die dialogische Mittelpartie wird nicht erfolgreich bestritten werden ohne Beachtung der vom antiken ‚System‘ bereitgestellten Aspekte.

Geeignete Themen für das Jugend debattiert – Format sind beispielsweise:

„Soll der Bundespräsident vom Volk direkt gewählt werden ?“

„Sollen direktdemokratische Elemente wie Volksbegehren oder Volksentscheide eine stärkere Rolle im politischen Entscheidungsprozess spielen ?“

„Sollen öffentliche Plätze (innerstädtische ‚Brennpunkte‘) videoüberwacht werden ?

„Sollen Haschisch und Marihuana dem Alkohol gesetzlich gleichgestellt werden ?“

„Sollen straffällig gewordene ausländische Jugendliche in ihre Heimatländer abgeschoben werden?“

„Soll Sponsoring an deutschen Schulen offiziell erlaubt werden ?“

„Soll der Religionsunterricht generell nur außerhalb der Schule stattfinden ?“

„Sollen auch Lehrende (durch ihre Schüler/innen) benotet werden?

„Sollen auch Nicht-Pädagogen in der Schule unterrichten ?“

„Sollen am Ende der Klassenstufe 10 Abschlußprüfungen eingeführt werden ?“

„Soll ein bundesweites Zentralabitur eingeführt werden ?“

„Sollen bundesweit zentrale Examensprüfungen stattfinden ?“

Rhetorik ist überall – nicht nur in einschlägigen Situationen des Lehralltags wie Referat vor der Klasse oder Seminargruppe, Rede in der Schülermitverwaltung oder AStA-Debatte, Auftritt im schulischen wie studentischen Debattierklub oder Darstellung eigener Forschungsergebnisse: auf jeder Ebene des mutter- wie fremdsprachlichen Unterrichts begegnen Lernende wie Lehrende Redner/innen und ihrer Kunst, vermitteln in Sachtexten Darstellungen öffentlicher Rede einen Eindruck von Erfordernis und Macht des gesprochenen Wortes. Sprachreflexion, Übersetzungsarbeit und fortschreitende Beobachtungen zur Funktion von Stilmerkmalen schulen den bewussten Umgang mit den eigenen Ausdrucksmöglichkeiten. Die Lectio plurima an Schule wie Universität zeigen Form und Struktur literarischer Sprache in Dichtung und Prosa, ergänzt durch Überlegungen zur Wirkung von Körpersprache.

Aber auch das erste Bewerbungsschreiben hat bereits seine rhetorische Dimension, ein Vorstellungsgespräch ist stets auch ein Darstellungsgespräch, in welchem es für den Probanden oder besser: den orator probandus bzw. die oratrix probanda darum gehen muß, iudicem benivolum facere, den/die Personalchef/in für sich einzunehmen. Und Grundlage einer jeden guten Verhandlungsstrategie wird zum Einen die gedanklich-dialektische, zum Anderen die sprachlich-stilistische ‚Aufrüstung‘ sein.

So wird Lernenden von einer gewissen Sprachkompetenz an bereits bewusst, dass Redekunst sich nicht erschöpft an ihren klassischen Orten – vor Gericht, im Parlament oder vor der Festcorona. Die in diesem Sinne eingeführte und erarbeitete Debatte ist überall da anwendbar, wo sich Lehr- und Unterrichtsinhalte zu Entscheidungsfragen verdichten: Debattieren – die Königsdisziplin der Rhetorik.

Und abschließend sei der Hinweis erlaubt, daß sich zwischen der Projektgruppe der an Jugend debattiert Beteiligten bei der Hertie-Stiftung, Einzelnen der in Projekt wie Wettbewerb mitwirkenden Lehrkräfte sowie Herausgeber, Redaktion wie Mitarbeitenden am Historischen Wörterbuch der Rhetorik im Laufe der Jahre durchaus eine Reihe personaler – sagen wir einmal – ‚Überschneidungen’ ergeben und damit zu einer mutmaßlich fruchtbaren Verzahnung zwischen rhetorischer Theorie und angewandter Beredsamkeit beigetragen haben.

Amor und Psyche

Amor-und-Psyche  [aus: Scrinium 57, 1 (2012), S. 22-26]

zu Josefine Müllers: Amor & Psyche – Das Mysterium von Herz und Seele, Frankfurt a.M. (Peter Lang-Verlag) 2011. 152 S., € 29,80 (ISBN 978-3-631-61699-4).

Geistwerdung und Erhebung der Seele zu Gott, Selbstwerdung und Individuation im Zuge der Bewußtseinsentwicklung des Menschen, erzählt in der Form von Märchen und Mysterienerzählung (hierós lógos) und im Sinne des Mythos als wahrer, ursprünglicher Rede in archetypischen, symbolischen Bildern urbildhafter Strukturen in der Tiefe von Herz und Seele, entzogen „dem Zugriff durch das Verstandesbewußtsein“, Amor-Eros und Psyche als kosmische Kräfte „eines sich in jeder Seele vollziehenden Geschehens“ – unter diesen Leitfragen (9-11) unternimmt J. Müllers (M.) eine „spirituell-psychologische bzw. philosophische Deutung“ des <Märchens von Amor und Psyche> aus dem Roman des Apuleius von Madaura (2. Jh.) [Verwiesen sei hier auch auf den einführenden Aufsatz von P. Barié und K. Eyselein „Zur Deutung von Amor und Psyche im Unterricht – Plädoyer für den (tiefen)psychologischen Gesichtspunkt“ in:  MDAV 26/2 (1983), 15-22].

Nach einer kurzen Einführung in Person und Werk des Autors sowie zur Entstehung der Metamorphosen (12-16) untersucht das zweite Kapitel zum Weltbild des Apuleius und seinem Niederschlag im Roman (17-45) insbesondere die Rolle des Eros in der griechischen Kosmogonie, der Dichtung und der platonischen Philosophie (26-35): unmittelbar nach Gaia dem Chaos entsprungen und machtvoll (Hes. Theog. 121 f.) dafür sorgend, daß diese sich mit ihrem Erstgeborenen Uranos zum schöpferischen hierós gámos vereinigt (ib. 126 ff.), bleibt der zweigeschlechtliche Eros auch in der Orphik des 7. Jh. v. Chr. eine kosmogonische Urgewalt. Zugleich berge seine Doppelnatur im Sinne der harmonischen Spannung (palíntonos harmoníē, VS 22 B 51) Heraklits (um 500 v. Chr.) den Gegensatz zwischen Zeugung/Entstehen und Vergehen: die Kehrseite des Liebreizes sind Wahnsinn und Tod (M. 28). Im platonischen Phaidros (245 b 5 – c 1) als gottgesandte Manie und Triebfeder der Seele zur größten Glückseligkeit herausgestellt, werde die Liebe im Lobreigen des Symposion zum Bestreben nach dem Schönen (178 b 2 – d 2), im Trachten nach der ursprünglichen Ganzheit des Menschen (191 d 1-3) zum Erkennen des wesensmäßig Zusammengehörigen (192 e 8 – 193 a 1), im Besitz der Kardinaltugenden (196 b 6 – e 6) zur Beförderung von Dichtkunst und Weisheitsliebe (M. 31). Als Mittler zwischen Göttlichem und Menschlichem, zwischen Unsterblichem und Endlichem (202 e 1-7) führt die so verstandene Doppelnatur des Eros in seinem Streben nach dem Schönen und Guten sowie der Erkenntnis des Gleichen zur Einheit des Ganzen. Zugleich werde das Wesen des Eros als Suche nach dem Schönen mit der Anámnēsis, der Wiedererinnerung an die Schau der Idee des Schönen, verbunden (M. 33 f.), zu welchem Schönen „an und für und in sich selbst ewig überall demselben“ (211 b 1) der Liebende in sieben Stufen steigender Teilhabe (Méthexis) vordringt (210 a 4 – 212 a 7) und auf allen Ebenen die Einheit von innerem Gott und äußerem Schönen, in welchem dieser sich realisiert, erkennt.

In diese sokratische Traditionslinie stelle sich auch Apuleius mit seiner Lehre von den Dämonen (M. 36 f.) als Dolmetscher und Mittler zwischen den himmlischen Göttern – den platonischen Ideen: unkörperlich, zeitlos, unwandelbar – und den Menschen; unsterblich wie die Götter unterliegen sie, Götter der Dichter wie eben auch Amor, allen menschlichen Affekten, und in ihrer Mittelstellung seien sie zur Ideenwelt deren Abbilder. Auf der anderen Seite stehen die Ebenen des Seelenbegriffs (M. 38-45): Homers Psychḗ als „bewegendem Form-und Gestaltungsprinzip“ (Eídolon) gegenüber dem Thymós als (praemortal) individueller, dann (postmortal) kosmischer Lebensenergie entspricht die vorsokratische Unterscheidung zwischen immanenter Lebensseele und transzendenter Geist-(Noús-)Seele. Die platonische Seele, welche sich aus sich selbst heraus bewegt, unentstanden und darum auch unvergänglich ist (Phaidr. 245 c 5 – 246 a 2), findet zu ihrer Bestimmung, der Erkenntnis des Wesens der Dinge, auf dem (nicht-sinnlichen, vgl. Phaid. 99 e 5 f.) Wege der Wiedererinnerung an ihre vorgeburtliche Schau der Ideenwelt (246 a 3 – 249 d 3); dies veranschaulicht schließlich das Gleichnis von der Seele als Rossegespann unter Führung des (selbst-)erkennenden Noús (253 c 7 ff.), welcher beim Anblick des (diesseitigen) Erōtikón allein den Wagen zügeln und zur (jenseitigen) Sphäre der Idee des Schönen hin lenken kann (M. 41 f.).

Auch in der hellenistischen und frühchristlichen Literatur steht der ursprünglich freien und göttlichen, aber ins Irdisch-Materielle gefallenen Einzelseele die kosmogonische Allseele, der göttliche Lógos gegenüber. Im „Urmenschen“ (M. 44), einem „Höheren Selbst“ und „mann-weiblicher Einheit“ aus Licht (Noús) und Leben in ihm (Psychḗ) werde Eros zum göttlichen Boten des Lichts und bereite Psyche auf den Wiederaufstieg und einen erneuten hierós gámos des weiblichen (Liebe) mit dem männlichen (Geist) Prinzip vor. Die „Ebenen göttlicher Bewußtheit“ (die physische, die Empfindungs- und die Mentalsphäre) zu durchdringen = sie sinnend zu erkennen, indem sie bei sich ‚vergessene‘ Inhalte göttlicher Liebe wieder freilege, um auf diesem Wege in die Lichtwelt zu gelangen – dieses Télos der Seele zeige „im dichterischen Symbol“ das Märchen von Amor und Psyche (M. 45).

Das dritte Kapitel bettet Amor und Psyche in den Roman als Ganzen, die Eselsgeschichte des Loukios von Patrai – in der satirischen Kurzfassung des (ungefähren) Zeitgenossen Ps.-Lukian – ein und fragt nach Intentionen des Neupythagoreers und mit ägyptischen Mysterienvorstellungen (Seth – Osiris) vertrauten „philosophus platonicus“ Apuleius für seine (erweiterte) Neubearbeitung des hier problematisierten Verhältnisses von Sein und Schein, von Seele (Mädchen) und Leib (Esel) in Form der Metamorphosen (45-50).

Dementsprechend ist das vierte Kapitel der Psyche-Novelle als solcher (Met. IV 28 – VI 24) gewidmet (60-92): das Geist- und Unsterblichkeitswerden der Seele spiegele sich auf den Realitätsebenen von Märchen wie Mythos und Mysterium, die Große Göttin (Venus) und die überirdische Schönheit in der irdisch gewordenen Seele (Psyche) weisen auf die Spannung der Gottebenbildlichkeit im Geschöpf; Amor, von Venus eigentlich als Cupido zur Züchtigung der hybriden Psyche gesandt, werde zum Opfer seiner, der „Liebe des erkennenden Herzens“ selbst (M. 63 f.). Und die sterbliche Psyche , die ontische Seele als Fühlen, habe im „Streben nach dem Anderen ihrer selbst“ ihren Weg zur Erkenntnis dieses Anderen als transzendierendem Licht und göttlichem Selbst noch vor sich (M. 65 ff.): auf ihre Entrückung in Amors Palast und Schau des Liebesgottes folgen Leiden Psyches (als verzeitlichten Aspektes der Venus) in Trennung und durch die Welt irrender Suche nach der göttlichen, präexistenten Liebe. Drei Proben für Venus (Samenkörner, Vlies der Sonnenschafe, Wasser vom Quell der Styx) münden in den Gang durch die Unterwelt als vierte: wie dabei das Motiv des Totenschlafs das „Vergessen der Unsterblichkeit der inkarnierten Seele“ symbolisiere, so stellt das Mysterium des Wiedererwachens (durch den Pfeil Amors) den Aufstieg der „Sinne der Seele“ aus ihrer sterblichen Befangenheit, die bewußte Geistwerdung der jetzt erkennenden Seele und ihre Erhebung zur himmlischen Hochzeit mit dem jetzt erkannten, wahrhaften Amor auf dem Olymp dar (M. 87 f.). Von der anderen Seite betrachtet versetzt der Gott durch die Kraft seiner Liebe die Seele (Psyche) erst in die Lage, seine Geistwirkung zu erkennen und aus Cupido nunmehr Amor werden zu lassen.

Dieses Zusammenwirken des Herzens als Erkenntnisinstanz der göttlichen Liebe (Amor) mit der sich von Cupido, dem „leidenschaftlichen Herz“ läuternden und zum Höheren Selbst erhebenden Seele (89-92) bildet den Hintergrund für das letzte Kapitel, welches die Initiation (in B. XI) des Romanhelden, des Goldenen Esels Lucius, in die altägyptischen Isis- und Osiris-Mysterien sowie auf die Horus-Ebene als Weg in eine neue (M. 97), letztlich „dreimalselige“ (M. 115) Existenzweise beschreibt. Die Selbstwerdung des Lucius-Apuleius im Roman sieht M. (92, 117-22) schließlich zusammenfassend in weitgehender Analogie zur stufenweisen Entwicklung der Seele (Psyche) im darin eingelegten Märchen. Apuleius als Psychagoge in der Nachfolge des Gottes des Sokrates (seiner eigenen Schrift und Genius) auf der Suche nach seinem wahren und höheren Selbst – mit dem Ziel, „sich dem Ebenbild Gottes anzugleichen“, zum Ausklang (M. 122) – läßt vor möglicher Hybris dann doch fast ein wenig zurückweichen.

In der Reihung und Fülle tief(st)greifender, mitunter vielfältig verknüpfter und sich überschneidender Einzelgedanken und –beobachtungen auf philosophisch-theologischer, poetologischer wie (tiefen)psychologischer Ebene zugleich ist es nicht immer leicht, den ‚Roten Faden‘ im Auge zu behalten; hier hätten mehr zusammenfassende Binnenkapitel klärender wirken können. An mancher Stelle wäre auch ein genauerer Originaltextbeleg für getroffene Aussagen anstelle etwa des allgemeinen Verweises auf Schleiermacher-Platon (bzw. bloße Kapitelzählung) oder Sekundärliteratur wünschenswert gewesen. Überhaupt wird die Primärliteratur in Übersetzung verarbeitet: M. schreibt als Nicht–Klassische Philologin (dafür nicht untypisch auch Aufbau und Gehalt des knappen Literaturverzeichnisses 123-26), ihre Quellen von Hesiod bis in die Spätantike sind Übersetzungen (u.a. Artemis, Kröner) und zweisprachige (Tusculum) Textausgaben – verdienstvoll ohne Zweifel für Studierende, und nützlich in diesem Zusammenhang auch der deutsche Textabdruck (ohne Quellenangabe ?) von Amor und Psyche (127-52). Dessen ungeachtet aber wird der Vielschichtigkeit und dem Facettenreichtum des Untersuchungsgegenstandes eine sehr dichte und tiefgehende, bisweilen erst mit dem zweiten Blick zu durchdringende, in jedem Falle aber lesenswerte Behandlung gewidmet.

                                                                                  Michael P. Schmude, Boppard