Noch-ist-Griechisch-nicht-verboten

Noch-ist-Griechisch-nicht-verboten

„Noch ist Griechisch nicht verboten“

Europäische Identität auf dem gemeinsamen Fundament lebendiger Inhalte einer <alten> Sprache

 

meine junge tochter fragt mich

griechisch lernen wozu

sym-pathein sage ich

eine menschliche Fähigkeit

die tieren und maschinen abgeht

lerne konjugieren

noch ist griechisch nicht verboten.

(Dorothee Soelle)

 

Am Humanistisch-Altsprachlichen Gymnasium wird als in Klasse 8 neueinsetzende (obligatorische) dritte Fremdsprache zwischen Griechisch und Französisch gewählt, also zwischen einer weiteren Alten oder einer weiteren Neuen Fremdsprache.

Wenn nun anläßlich dieser Wahl die Alte Sprache Griechisch ‚zur Debatte‘ steht, muß man als Erstes vielleicht eine grundsätzliche Unterscheidung vornehmen: Griechisch ist für den modernen Schulunterricht ein Literaturfach, während das Französische vorwiegend auf Kommunikation ausgerichtet ist, und hieraus ergeben sich völlig andersartige unterrichtliche Inhalte und Ziele dieser beiden Sprachenfächer.

Zunächst aber möchte ich gleich vorweg die beiden Haupteinwände ansprechen, die mir immer wieder entgegengehalten werden, sobald ich über Sinn und Zweck des Griechischen am Gymnasium rede:

1.) Eine alte Sprache (Latein) ist genug; keine zweite „tote“ Sprache …

2.) Was kann man überhaupt damit anfangen, was habe ich davon, wenn ich Griechisch lerne …?

Ich möchte mit dem Zweiten beginnen:

Wie jeder mehr oder minder wackere Pennäler habe auch ich mich während meiner Schulzeit in der Mathematik beispielsweise mit Kurvendiskussion, Vektorrechnung, geometrischen Konstruktionen, in der Biologie mit dem faszinierenden Phänomen der Photosynthese, in der Erkunde mit den klimatischen Bedingungen am Äquator oder im Innern Australiens befaßt – ohne Ausnahme sinnvolle und wichtige Wissensgebiete, welche mich geschult und meinen Horizont erweitert haben, Bereiche, die Bildung ausmachen; doch wenn ich beantworten müßte, was ich nun konkret davon gehabt hätte, daß ich dieses betrieben habe, oder was ich vielleicht beruflich damit habe anfangen können, so käme ich vermutlich in Verlegenheit.

Auf der anderen Seite und damit zum ersten Einwand:

wenn es bei der Beschäftigung mit dem Griechischen alleine darum ginge, die altgriechische Sprache zu lernen, Altgriechisch parlieren zu können, dann gälte das Argument in der Tat: eine heute nicht mehr gesprochene Sprache ist genug – hingegen: darin besteht eben nicht das Anliegen des Faches; es handelt sich hier nicht um das bloße Erlernen einer zweiten Alten Sprache, die Spracherlernung ist im Griechischen nur Mittel zum Zweck auf dem Wege zur griechischen Literatur (und Kultur überhaupt).

Und ein dementsprechend gestraffter Durchgang durch die Spracherlernung wird praktiziert durch ständiges Heranziehen dessen, was man in der ersten Alten Sprache Latein (welche geschichtlich gesehen eine Tochter der zweiten, griechischen ist) bereits behandelt hat: sowohl im Vokabular als auch in der Grammatik, in allen wichtigen syntaktischen Erscheinungen, in Infinitiv- wie Partizipialkonstruktionen, Kasusfunktionen wie Nebensatzarten läßt sich das im Lateinischen Gelernte unmittelbar im Griechischen wiedererkennen und anwenden; ein nicht zu verachtender Aspekt ist dabei, mögliche Unsicherheiten oder Lücken aus dem Lateinunterricht durch diese Form der Wiederholung im Griechischen zu festigen bzw. zu schliessen. Die positiven Wirkungen für das Beherrschen von Grammatik schlechthin, für das Wissen darum, wie Sprache überhaupt ‚funktioniert‘, also nicht zuletzt für die eigene Muttersprache Deutsch, kommen hinzu.

Auch das vermeintlich so fremde griechische Alphabet zeigt sich bei näherem Hinsehen als Mutter unseres lateinischen (die Griechen hatten bereits im 8. Jh. v. Chr. Sizilien und Unteritalien kolonisiert und dabei ihre westgriechische Schrift an die Stämme Italiens, namentlich die Römer in Latium weitergegeben): besonders deutlich im Bereich der Großbuchstaben, lassen sich auch die meisten Kleinbuchstaben des griechischen Alphabets ohne große Mühe den entsprechenden unseres lateinischen zuordnen; und nimmt man die aus der Mathematik bekannten Zeichen für die Winkel sowie die festen Zahlen Pi und Rho hinzu, so reduziert sich der tatsächliche Bestand der neu zu erlernenden Zeichen sehr schnell auf eine Handvoll. Zum Ausgleich dafür wird im Griechischen aber auch Alles genauso geschrieben wie es ausgesprochen wird.

Aufgrund dieser zügigen Hinführung durch die Spracherlernungsphase zur griechischen Literatur läßt sich der zweite, bereits angeführte Einwand gegen die erneut Alte, „tote“ Sprache Griechisch („was hab‘ ich davon ...“) zuspitzen auf die Frage „… was hat man von der Beschäftigung mit Literatur ?“ überhaupt – zumal mit derjenigen, welche nicht weniger als das Fundament unserer abendländischen Literatur im Ganzen darstellt.

In den o.g. (und durchaus willkürlich gewählten) Beispielen aus Mathematik, Biologie oder Erdkunde war von dem Wert dieser Gegenstände gesprochen aufgrund dessen, was sie im Menschen / in uns schulen, in welcher Weise sie uns bilden und formen, welche erwünschten Veränderungen sie in unserem Denken bewirken. Nun ist Bildung und Formung natürlich nicht allein per se, sondern vordringlich in dem Maße wünschenswert, wie auch Inhalt und Richtung dieser Bildung und Formung als wünschenswert angesehen werden. Und hier hält das Fach Griechisch ein reiches und vielfältiges Angebot bereit:

  • Wir haben mit Homer die erste faßbare Figur, mit Ilias und Odyssee nicht nur den Anfang, sondern zugleich bereits Höhepunkte der europäischen Literaturgeschichte. Handlungsmotive wie Persönlichkeiten des griechischen Epos bleiben grundlegend für künftige Formen von Dichtung.
  • Der griechische Mythos ist nicht allein erstes Erklärungsmodell einer Geschichte der Völker, er stellt – als ursprünglichste Form philosophischen Fragens – auf bildhafte Weise Grundprobleme der menschlichen Existenz an exemplarischen Gestalten dar, zeigt ihr Ringen, Bewährung wie Scheitern, um Fragen wie die der Willensfreiheit und Selbstverantwortlichkeit des Menschen, seiner Einbettung und Funktion innerhalb eines gesellschaftlichen Gefüges, seines Verhältnisses zum Göttlichen und zum Schicksal, den Konflikten zwischen Macht und Recht, zwischen Ethos und Nutzen u.a.m.: der literarische Ort, an welchem die griechische Literatur zur Auseinandersetzung mit solchen Fragen aufruft, ist die Attische Tragödie des Aischylos, Sophokles und Euripides.
  • Neben der attischen Tragödie bildet die griechische Komödie das zweite Standbein der europäischen Theatertradition: politische Satire, vergleichbar unserem Kabarett, in der Alten Komödie des Aristophanes, bürgerliches Lustspiel im Stile etwa eines Ohnesorg-Theaters in der hellenistischen Komödie des Menander: über Molière, Shakespeare und Lessing wie die Tragödie auf den Spielplänen auch heutiger Theaterhäuser weiterlebend.
  • Mit Herodot und Thukydides beginnt eine Form der Geschichtsschreibung, welche in Quellenanalyse und selbstständigem Forschen (Aut-opsie) eine Methode entwickelt, die sich selbstbewußt von der Fabulierkunst der vorangegangenen Geschichtenerzähler absetzt und als die historisch-kritische auch moderner Geschichtswissenschaft zugrundeliegt.
  • Die Naturphilosophie der Vorsokratiker hatte eine rationale Erklärung des Aufbaus der physikalischen Welt und eine ebensolche Deutung der in dieser wirkenden Kräfte unternommen, hatte bereits nach dem Urgrund der Materie gefragt und dabei u.a. die Elementenlehre sowie die Vorstellung vom Atom entwickelt. Sokrates und Platon holen die Philosophie zum Menschen zurück, lenken diesen durch unablässiges Fragen zu einem Handeln hin, welches an ethisch-sittlichen Maßstäben orientiert ist, stellen zusammen mit Aristoteles die Grundformen menschlichen Zusammenlebens vor und suchen nach dem idealen Staat. Die von Platon und Aristoteles in ihren uns überlieferten Schriften aufgeworfenen Fragen nach den Bedingungen des menschlichen Daseins sind die Fragen, die auch heute gestellt werden – in der griechischen Antike vorweg formuliert, thematisiert, problematisiert: in der Auseinandersetzung mit ihren (zeitbedingten) Antworten, in Annahme wie Zurückweisung, können wir unsere eigenen Lösungen finden. Dieses Angebot ist über-zeitlich.
  • Die wissenschaftliche Medizin beginnt mit dem Namen des Hippokrates und seiner Schule, Aristoteles unterscheidet und begründet erstmals naturwissenschaftliche Disziplinen in einem auch modernen Sinne.
  • Das theoretische ‚System der Rhetorik‘, angewandt und überprüft in der Praxis der attischen Beredsamkeit von Rednern wie Isokrates oder Demosthenes, hat die Maßstäbe zur Beurteilung jeglicher politischer Rede, ihrer (argumentativen) Struktur, ihrer äußeren Form sowie ihrer Wirkabsichten, grundgelegt und schult uns heute in Blick auf ein ‚Anschauungsmaterial‘, welches unsere Parlamente in Fülle bieten. Gesellschaftstheorie und politische Praxis nehmen ihren Ausgang in Griechenland, und die Geburtsstunde demokratischer Verfahren findet statt auf dem Areopag in Athen.

 

Wir sind (mittlerweile) weit davon entfernt, die geistige und reale Welt der griechischen Antike als eine ideale, ewig und unumstößlich gültige zu betrachten, die „stille Einfalt und edle Größe„, welche Winckelmann anfangs des 19. Jh. noch zu erkennen glaubte, taugt nicht als Lebensmodell für das neue Jahrtausend – das tat (und wollte) sie, wohlverstanden, freilich zu keiner Zeit: die griechische Psyche nimmt die Frage nach dem Menschsein vorweg, nach dem Rätsel, das die Sphinx dem Oedipus aufgab, sie zeigt die Höhepunkte wie die Abgründe der menschlichen Seele aller Zeiten, aber sie fragt auf eine grundlegende wie einzigartige Weise nach diesen so eindringlich und kompromißlos, daß sich die Literaturen der folgenden Jahrhunderte bis in das unsere mit diesen zeitlos aktuellen Fragen auseinandersetzen und im Sich-Reiben an den – durchaus nicht immer einmaligen und exemplarischen – Antworten der Griechen ihre je eigenen Standpunkte finden und schärfen. Der ‚Fall Antigone‘ findet Interesse nicht wegen der Art seiner Lösung, die natürlich eine des 5. vorchristlichen Jahrhunderts ist, sondern wegen der von Antigone aufgeworfenen und durchgeführten Frage nach der Rangordnung von Gesetzen der Menschlichkeit vor abstrakter Staatsraison; er bleibt als Problemstellung Vorgabe und Modell literarischer Behandlung noch bei Anouilh in den fünfziger Jahren unserer Zeit – abschließend beantwortet ist er bis heute nicht. Und natürlich haben alle Nationalsprachen Europas auch ihre je eigenen, lesenswerten Literaturen entwickelt – aber sie stehen auf den Schultern der griechischen, und man wird jene besser verstehen, wenn man diese zuerst einmal kennengelernt hat.

 

Doch nicht nur die literarische Fülle, sondern auch weitere Aspekte der Kulturgeschichte sind im Griechischunterricht präsent und werden in unseren modernen Lehrwerken von Beginn an mit einbezogen: kein Sprachenlehrgang ohne griechische Kunst, Archäologie und Architektur, kein Sprachenlehrgang ohne das antike Staatswesen oder politische Theorie, kein Sprachenlehrgang ohne Philosophie, Mythologie oder Religion. Die ganze Vielfalt der griechischen Literatur ist in den Lesestücken der Lektionen vertreten, die verschiedenen Bereiche der griechischen Kultur werden in Sachtexten den Lektionen beigegeben (Die attische Demokratie, der griechische Tempel, Spiel und Sport in der Antike, Delphi, Wirtschaft und Gesellschaft, Theater und Schulwesen u.a.m.) sowie mittels Foto- und Filmmaterial im laufenden Unterricht anschaulich gemacht.  Zwei Beispiele indes mögen den direkten Bezug antiker, hier historisch-politischer auf entsprechende heutige, aktuelle Konstellationen im Einzelfall verdeutlichen:

  • Der obengenannte Historiker Thukydides berichtet in seiner Darstellung des Peloponnesischen Krieges zwischen Athen und Sparta vom Auftritt einer attischen Gesandtschaft vor dem Stadtrat von Melos, um die kleine, neutral gebliebene Kykladeninsel in den Attischen Seebund zu zwingen. Die unverhohlene imperialistische Ideologie, welche in den Reden der Athener herausbricht, ebenso wie die dagegen angekündigten Gegenkräfte, welche jede Überspannung von Macht notwendig heraufführe, bilden das Spiel rivalisierender Großmächte jüngster Zeiten und deren Umgang mit Kleineren innerhalb ihrer Interessensspähren zeitlos ab – wer sich mit diesen gedanklichen Zeugnissen vom Treiben antiker Großmächte befaßt hat, sieht dasjenige der modernen differenzierter und bewußter.
  • Der gleiche Autor führt dem Leser die politische Debatte um die sogenannte ‚Sizilische Expedition‘ vor, ein Paradebeispiel politischer Manipulation der Massen: ein Angriff auf die mit Sparta verbündeten, mächtigen Städte Siziliens mußte in seinem Ausmaß die Kräfte Athens entscheidend überfordern, doch im Rededuell vor der Volksversammlung setzen sich die warnenden Argumente des besonnenen Feldherrn Nikias nicht durch; vielmehr gelingt es der brillanten, aber skrupellosen Rhetorik des Alkibiades, seine Zuhörer für dieses später so verhängnisvolle Unternehmen zu begeistern – wer diesen Demagogen vor seinem geistigen Auge erlebt hat, hört im Zeitalter der Mediendemokratie das politische Wort in Parlamenten, bei Kundgebungen, auf Versammlungen klarer und bewußter, ist geschult, dessen Lockungen nach hier wie da mit der gebotenen, kritischen Distanz zu begegnen, ist frei gegenüber ideologisch-bornierten – und damit recht eigentlich antiquierten – Festlegungen, ist frei letztlich gegenüber jeder Art von Bildern , welche uns zu schnellem, eilfertigem Konsum von Meinungsmachern vorgefertigt überfluten. In diesem Sinne ist Humanistische Bildung Emanzipation, „Freisetzung eines [kritischen und souveränen] Menschen in seine Wirklichkeit“ (H.J. Heydorn, Physiker).

Kaum wird man aus den Lehren, welche diese (und weitere) Fallbeispiele vermitteln, gleich einen Beruf machen wollen – doch hat man wirklich nichts davon, die gesellschaftlichen, die politisch-historischen Vorgänge um Sich selbst herum mit an solchen Stoffen geschärfter Aufmerksamkeit und vor einem solchermaßen verbreiterten Horizont wahrzunehmen ??

 

Nun wird von Seiten derer, die diese geistesgeschichtliche Grundlagenfunktion des Griechischen für unser modernes Denken durchaus anerkennen, aber immer wieder vorgebracht, man könne die literarischen Zeugnisse der Griechen doch auch in Übersetzungen lesen und brauche sich darum nicht erst mit der griechischen Sprache zu befassen. Dem ist folgende Überlegung entgegenzuhalten:

Eine Übersetzung ist stets nur die erste Form von Interpretation: man braucht bloß fünf verschiedene (gedruckte) Übersetzungen eines Abschnittes beispielsweise aus Platon oder Homer nebeneinanderzulegen und wird bald feststellen, daß man fünf verschiedene Versionen desselben Textes vor sich hat – und mit dem griechischen Original dann noch die sechste. Eine Übersetzung kann (und will) niemals Ersatz für das Original sein.

 

Letzter, auch im plakativen Sinne „nützlicher“ Aspekt des Griechischunterrichtes: das heutige, moderne Neu-Griechisch ist in seiner Schriftsprache dem Altgriechischen weitgehend gleichgeblieben, die Aussprache (besonders einiger ziemlich häufiger Vokale) hat sich geändert, hinzu kommen Wortkontraktionen und südländisches Sprechtempo. Wenngleich man also heute am Omonia-Platz in Athen ein Gespräch zwischen zwei Griechen als etwas eher Fremdartiges empfinden wird, braucht man als „Altgrieche“ nur eine Tageszeitung aufzuschlagen und zu lesen beginnen, um sogleich zu wissen, wo man ist. Nicht zu verachten ist schließlich die Hilfe, welche die griechische Sprache zum Verständnis des technischen Vokabulars bzw. der Fachsprache in den Naturwissenschaften, der Medizin, Pharmazie und Psychologie bereitstellt, bei deren Termini es sich weitestgehend um (vielfach noch anglisierte) Graezismen handelt (ohne daß man sich dessen heute bewußt ist – telekinetisch oder autogen, psychosomatisch oder schizophren ?).

 

Man hört auch häufig, Griechisch könne man noch an der Universität lernen, doch ist dies gleichfalls ein Fehlglaube: was in den entsprechenden Universitätskursen angeboten wird, ist ein Schnelldurchlauf in kürzester Zeit durch den Sprachenlehrgang, in welchem man darauf getrimmt wird, zu einem bestimmten Zeitpunkt einmal einen (mittelschweren) Platon-Text wenigstens ausreichend übersetzen zu können; für Literatur-, geschweige denn Kulturunterricht, welcher zudem eine ideale, weil von den Fundamenten ausgehende Vorbereitung für das Studium einer jeden neueren europäischen Literatur darstellt, bleibt da kein Raum. Man hat ‚den Schein‘; man hat Graecum (und für ein paar Studienfächer muß man ein solches auch nachweisen), aber mit Griechischunterricht im oben skizzierten Sinne hat dies wenig zu tun.

 

Ein Problem bleibt freilich: man wählt das Eine, um das Andere zu lassen, und auch das Andere, Französisch, ist ohne jeden Zweifel sinnvoll und wichtig – am besten wäre es, man könnte Beides haben !

Die Entscheidung sollte unter dem Aspekt fallen: was kann ich in dieser Form nur am Gymnasium bekommen, und was wird mir auch noch anderswo angeboten. Möglichkeiten, Französisch oder jedwede andere moderne Fremdsprache zu erlernen, bieten VHS, inlingua, Dolmetscherinstitute u.a., und die sprachliche Schulung, welche man durch den Latein- und Griechischunterricht bereits erhalten hat, ermöglicht ein relativ problemloses Aneignen jeder weiteren modernen Fremdsprache (zumal man noch gar nicht weiß, ob man später nicht anstatt Französisch vielmehr Spanisch, Portugiesisch, Italienisch, Holländisch o.a. beruflich benötigt).

 

Könnte man nun Griechisch nicht auch in Form einer AG neben Französisch (als regulärer Fremdsprache) oder aber als vierte Fremdsprache nach Französisch als Dritter betreiben ?

Eine AG oder ein nur noch vierjähriger Unterricht etwa ab Klasse 10 kommt über die Vermittlung von – durchaus ordentlichen – Sprachkenntnissen selten hinaus. Griechisch in einer AG (mit entsprechend wenigen Stunden) oder als vierte Fremdsprache kann darum sein zweites, sein Hauptanliegen, nämlich zur Literatur hinzuführen, kaum verwirklichen. Französisch hat dieses doppelte Anliegen, Sprache und Literatur, nicht in gleicher Weise, so daß Sprachkenntnisse durch eine AG oder Französisch als 4. FS das wichtigste Ziel des Französischunterrichtes, Kommuni-kationsfähigkeit in allen wesentlichen Bereichen des Alltags, bereits erreichen. Diese kann durch eine der o.g. Formen (VHS, inlingua, Dolmetscherinstitute) ohne weiteres fortgeführt, vertieft und erweitert werden.

In diesem Sinne besteht an mancher Schule die Möglichkeit, ab der Klasse 10 zwischen Französisch und Spanisch noch einmal eine vierte Fremdsprache hinzuzuwählen, gerade auch um die unselige und sachfremde Konkurrenz zwischen Alter und Neuer Sprache mit ihren ganz unterschiedlichen, jeder für sich aber bereichernden Zielsetzungen auszuräumen, eben um das Eine wählen zu können, ohne das Andere lassen zu müssen.

 

Im Zeichen des Zusammenrückens der Völker Europas, des Suchens (und Findens) einer gemeinsamen europäischen Eigenart bleibt die griechisch–römisch–christliche Herkunft und Gegenwart das einheits- und identitätsstiftende Band. Und wer darum an den Grundlagen unseres abendländischen Kulturraumes, an den Anfängen der Geschichte Mitteleuropas und ihren Entwicklungslinien bis in die heutige Zeit Interesse findet, wer sich den Gedanken zu eigen machen kann, daß „… wer nicht weiß, wo er herkommt, nicht weiß, wer er ist …“ (G.), wer Freude an Dichtung, Zugang zu den Grundfragen der Philosophie hat, wer einen Wert ‚an sich‘, einen Sinn in der Beschäftigung mit Literatur sieht, welcher ihm etwas bringt, von welchem er etwas hat (s.o. !), dem macht das allgemeinbildende Grundlagenfach Griechisch ein reiches und bereicherndes Angebot auch und gerade für das neue, noch junge Jahrtausend, und noch ist es – wie gehört – nicht verboten …

 

Michael P. Schmude

 

aus: Festschrift 80 Jahre Johannes-Gymnasium Lahnstein, hrsg. v. A. Bell, K.W. Müller, M.P. Schmude (2001), S. 182-190.

Vgl. auch → www.Ulisseweb.eu – Official Documents of the Perugia Convention 06.26.2006.

Der-Mensch-Maengelwesen-oder-Krone-der-Schoepfung

Der-Mensch-Maengelwesen-oder-Krone-der-Schoepfung

Der Mensch ‑ Mängelwesen oder Krone der Schöpfung ?*

von Michael P. Schmude,  Boppard

aus: Anregung 43 (1997), S. 91-94            [Abiturrede 1996]

 

Die Menschen gehen ihres Weges und bewundern die Gipfel der Berge, die ungeheure Flut des Meeres, das Abwärtsgleiten der breiten Ströme, den Ozean in seiner Unermeßlichkeit und die Kreisbahnen der Sterne ‑ von sich selbst jedoch entfernen sie sich mehr und mehr“ ‑ so der italienische Dichter und Humanist Francesco Petrarca im 14. Jh. in einem Brief an Freunde (de fam. VI <IV 1>) ‑ wer oder was ist der Mensch ?

Diese Frage, in der Vorhalle des Apollontempels zu Delphi als Gebot formuliert ‑ das bekannte „gnṓthi seautón: erkenne Dich selbst“ der Sieben Weisen ‑, bewegt die spekulierenden Geister der Jahrhunderte ‑ im besten Sinne des Wortes speculari als ‚umherschauen, erforschen, beobachten‘. Aus der Frage nach der Ordnung der physikalischen Welt, dem Kosmos, die von den vorsokratischen Naturphilosophen des östlichen Mittelmeeres, von Thales v. Milet, von Pythagoras u.a., seit dem 7. vorchristlichen Jahrhundert aufgeworfen wurde, hatte sich die weitergehende nach der Entstehung menschlicher Gemeinschaft und Kultur ergeben. Wir denken aber auch an den Kyniker Diogenes ‑ den in der Tonne ‑ , wie er im Athen des 4. Jahrhunderts in Diensten desselben Delphischen Apoll am hellichten Tag mit einer Lampe umherläuft, um nach einem Menschen zu suchen (Diog. Laert. 6, 41).

Es war einst eine Zeit, wo es Götter zwar gab, sterbliche Geschlechter aber gab es noch nicht …“ beginnt ein Mythos, welchen Platon den Sophisten Protagoras vortragen läßt (Prot. 32o d ff). Danach bildeten die Götter die Lebewesen zur vorherbestimmten Zeit im Erdinnern aus einem Gemenge von Erde und Feuer und beauftragten das Brüderpaar Prometheus und Epimetheus ‑ den Vorherdenker und den Nachherdenker ‑ , diese ans Licht der Welt zu befördern und mit den hierfür erforderlichen Wesensanlagen auszustatten. Es gelang dem Epimetheus, seinen Bruder zu beschwatzen, ihm diese Aufgabe alleine zu überlassen, und so machte er sich ans Werk.

Er legte dabei zunächst auch einen erstaunlichen Verstand an den Tag: welchen er Stärke zugeteilt hatte, die bedurften nicht besonderer Schnelligkeit, mit dieser hingegen versah er die Schwachen und Kleinen, dazu mit Flügeln oder unterirdischer Behausung. Er vergab Felle gegen Hitze wie Kälte, Hufe und Klauen, wies den verschiedenen Arten verschiedene Formen der Ernährung zu, den einen Kräuter und Früchte, den anderen das Fleisch anderer Tiere; die Räuber begrenzte er in ihrer Vermehrung, während er der Beute durch entsprechende Zeugungskraft den Bestand ihrer Gattung sicherte …

Doch jetzt hatte er ein Problem: nach seiner auf den ersten Blick so umsichtigen Verteilung war nichts mehr für das letzte der sterblichen Geschlechter übriggeblieben, den Menschen. Als der Bruder Prometheus hinzukam und die Bescherung sah, wußte er nur noch dadurch Abhilfe zu schaffen, daß er der Athene die Handwerke und dem Hephaistos das Feuer stahl und den Menschen brachte; bekanntlich hat Zeus ihm dies niemals verziehen und ihn zur Strafe an eine Felswand schmieden lassen – es sollte eines Herakles bedürfen, um ihn später aus dieser wenig befriedigenden Lage zu befreien.

Der Mensch als Mängelwesen, ein Stiefkind der Natur ‑ weniger behende als die geflügelten Schwachen, den Starken unter den tierischen Geschlechtern an Kraft unterlegen und auch in seiner Vermehrung nicht unerheblichen individuellen Schwankungen unterworfen ‑ ist das der Mensch, von welchem der gleiche Protagoras den berühmt-berüchtigten Homo-mensura-Satz prägen sollte: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der Seienden, daß sie sind, der nicht-Seienden, daß sie nicht sind“ (VS 80 B 1) ? Platon hat die Unzulänglichkeiten des Einzelmenschen zum Beweggrund für den Zusammenschluß zu sozialen Gemeinschaften gemacht: die bürgerliche, die politische Fertigkeit hatte Prometheus freilich nicht stehlen können, die verwahrte Zeus einstweilen noch persönlich. In der Politeia sodann, Platons Staatsmodell, ergänzen sich die Menschen mit jeweils derjenigen Fähigkeit, die jeder Einzelne zur allgemeinen Bedürfnisbefriedigung beitragen kann (369 b 5 ff.): der Bauer stellt seinen Pflug nicht selbst her, auch der Arzt benötigt Schuhwerk, und der Kaufmann wird von Kopf- oder Bauchschmerzen geplagt. Allerdings bedarf es als ordnenden Elementes auch hier noch eines allgemeinen Rechtsempfindens.

Demgegenüber prägt Aristoteles den Begriff vom Menschen als Zṓon politikón (Pol. 1253 a 3), welcher später insbesondere für die Stoa (vgl. Cic. off. I 22 [Panaitios]; I 152‑61 [Poseidonios]) maßgebend wurde: wie Cicero es nach ihm formulieren sollte, sei Grund für das Zusammengehen nicht so sehr die Schwäche und Wehrlosigkeit als vielmehr ein gleichsam natürlicher Trieb des Menschen zur Geselligkeit, der Einsiedelei seinem Wesen nach scheue (rep. 1, 39). Es war Epikur, der Vielbemühte und meist Geschmähte, welcher beiden Vorstellungen, die zuvor schon nicht scharf voneinander zu trennen waren, in seinen Kulturphasen Rechnung trug ‑ soweit wir dies jedenfalls aus der dichterischen Kulturentstehungslehre seines römischen Schülers und etwas jüngeren Zeitgenossen Ciceros, Lukrez (5, 925 ff.), ersehen können: während zunächst einmal die äußeren, natürlichen Umstände auf den Menschen Zwang ausüben, sind erst in einem zweiten Schritt menschlicher Verstand und Überlegung Triebkräfte einer sozialen und kulturellen Entwicklung.

Kehren wir zurück zum Homo-mensura-Satz des Sophisten: wenn der Mensch das Maß ist ‑  wer setzt ihm das Maß, wer gibt ihm die Norm, wer zeigt ihm seine  Grenze ? Wo bleibt für ihn dann der Gott, die Ordnung über ihm ?

Als den Menschen die Erde nicht mehr genügte, bauten sie einen Turm, um in den Himmel zu gelangen, und als die chaotischen Giganten die Ordnung der Götter umstürzen wollten, türmten sie Berge gegen den Olymp auf ‑ wie es den Einen erging, erzählt uns das Alte Testament (Gen. 11), was den Anderen blühte, ist am Pergamon-Altar auf der Berliner Museumsinsel zu besichtigen. Doch nirgendwo wird der Mensch in seiner vermeintlichen Stärke und Souveränität so unerbittlich in seine Schranken gewiesen wie in den Über-Menschen der Attischen Tragödie: von Kreon, dem Herrscher über Theben, welcher sich in Staatsraison wider alle Menschlichkeit versteigt, bis zum Meisterdetektiv Ödipus in seiner intellektuellen, aber hybriden Brillanz, mit welcher er schon das Menschenrätsel der Sphinx gelöst und diese in Verzweiflung gestürzt hatte: zerschlagen, weil sie das ihnen ‑ eben doch ! ‑ gesetzte Maß überschritten haben. Nur einer will zum tragischen Helden nicht recht taugen: es ist der vielduldende Odysseus, der listenreiche, der um seine Schwächen weiß und schlau seine Stärken ausspielt ‑ und überlebt.

Ungeheuer ist viel, doch nichts ungeheurer als der Mensch – er herrscht über die Stürme des Meeres und die Erde mit ihrem Getier, herrscht über Rede und Gedanken, über Städte – nur dem Ort der Toten zu entgehen, das hat er nicht gelernt, Hochmut, Unrecht und Frechheit bringt er …„; in diesem Sinne läßt Sophokles den Chor der Antigone (332 ff.) sich vor deren Artgenossen verwahren: was hatte man sich nicht Alles untereinander angetan, stets mit gutem Grund, mit tragischer Notwendigkeit ‑ der Bruder den Bruder von Stadt und Herrschaft ferngehalten, der wiederum die Vaterstadt mit einem fremden Heer angegriffen und belagert, die Brüder sich schließlich im Zweikampf gegenseitig getötet, doch nur einer durfte bestattet werden, der Leichnam des anderen sollte Hunden und Vögeln zum Fraß dienen, die Schwester, die das Bestattungsverbot übertreten hatte, sah der Todesstrafe entgegen, ihr Verlobter, Sohn desjenigen, welcher Verbot wie Strafe erlassen hatte, beging darum Selbstmord, seine Mutter folgte ihm darin ‑ eine Familie, ein Katalog von Leichen ‑ der Mensch dem Menschen Wolf ‑ homo homini lupus …

Versöhnlicher ist nur die Komödie: „… ich bin Mensch, nichts Menschliches ist mir fremd“ ‑ mit diesem Bekenntnis läßt der Afrikaner Terenz ‑ nach einer hellenistischen Vorlage ‑ im 2. Jh. v. Chr. eine seiner Figuren sich selbst charakterisieren (Heautont. 77): doch welcher Mensch ist hier gemeint ‑ der Mensch als Mängelwesen oder der Mensch als Krone der Schöpfung ? Die beiden Quellenschriften zur alttestamentlichen Genesis, der (ältere) Jahwist (Gen. 2, 4b‑25) wie die (jüngere) Priesterschrift (Gen. 1, 1 ‑ 2, 4a) sehen in ihm Mittel- bzw. Höhepunkt der Welterschaffung, ausgestattet mit einer Art Freifahrtschein, sich diese untertan zu machen, könnte man meinen …

Doch bekanntlich behagte das Prunkstück auch seinem Erschaffer immer weniger, je weiter und breiter es sich machte, bis er schließlich die Große Flut schickte, um ‚klar Schiff‘ für einen neuen Anlauf zu bekommen (Gen. 6‑8); bei dem Griechen Hesiod (um 7oo vor) wie bei dem Römer Ovid einige Jahre nach Christi Geburt wird dies über die Deszendenz der Menschengeschlechter hinweg vom Goldenen bis zum Eisernen Zeitalter nötig (Erga 1o9 ff / Metam. 1, 89 ff; 244 ff): übrigens ist diese Vorstellung vom Mißraten des ersten Schöpfungsversuches ein gemeinsames Grundmuster menschlichen Denkens, denn in den Aufzeichnungen verschiedener Kulturvölker mit Schöpfungsberichten, von den Indianern Nordamerikas bis zu den Einwohnern des Zweistromlandes, bedarf es einer Sintflut, um das Mißlingen der Schöpfung noch einmal zu korrigieren. Nun ist dies natürlich kein beliebig wiederholbares Verfahren, und welcher Weg beschritten werden sollte, als auch der zweite Versuch mit der ‚Krone der Schöpfung‘ danebengeriet, findet sich im Neuen Testament gleich mehrfach aufgezeichnet ‑ ihren Mängeln war indes mit Verbesserungsvorschlägen nicht mehr beizukommen, da half nur noch Vergebung statt Strafe. Der Mensch sitzt längst schon im Dunkel des Jammertals.

Es ist der Humanismus, welcher den Menschen wieder in den Mittelpunkt rückt, nach den Möglichkeiten seiner eigenständigen Entfaltung wie nach seiner Daseinsbestimmung als Individuum fragt. Insbesondere der Renaissancehumanismus im Florenz des Quattrocento, im 15. und 16. Jahrhundert, stellt mit der Wiederentdeckung der Klassischen Texte der alten Griechen auch deren zentrale Frage nach der Eigenart des Menschen in den Vordergrund. Wiederaufgenommen im Neu-Humanismus der Deutschen Klassik, reicht seine Kraft trotz zeitgeistbedingter Anfechtungen mancher Epochen bis in unsere Tage, seine Notwendigkeit besteht in ebendem Maße, wie die Kernfrage, welche im Begriff Humanismus Programm geworden ist, auf eine erschöpfende Antwort dringt ‑ aber ist eine solche überhaupt vorstellbar ?

Nun ‑ wir werden dies hier und heute jedenfalls nicht leisten können, und das war auch mit diesem kleinen, eher willkürlich zusammengestellten Panoptikum ganz unterschiedlicher Auffassungen an keiner Stelle beabsichtigt. Vorgeführt werden sollte, wie die Frage nach Wesen und Bestimmung des Menschen aufgeworfen und zeitlos formuliert, kontrovers und zeitbedingt diskutiert, uns Späteren aller Zeiten als Hausaufgabe mit auf den Weg gegeben wurde. In der Auseinandersetzung mit, in Annahme wie Zurückweisung bereits gegebener Antworten, liegen Möglichkeiten, in der Erkenntnis unserer Grenzen wie unserer Verantwortung gegenüber dem Ganzen, in dem von uns geforderten, wohlverstandenen Respekt vor der Schöpfung und ihrer Wohlgeordnetheit, ihrer Eu-kosmía, ein Stück weiter aus dem Neandertal herauszutreten.

Lahnstein, 28. Juni 1996                                                Michael P. Schmude

 

*Erstfassung in: Anregung – Zeitschrift für Gymnasialpädagogik (s.o.); fortlaufend überarbeitet und erweitert in: www.ulisseweb.eu: Official documents – Papers of Malta Convention 09.04-05.2006 sowie Der Mensch – von Prometheus bis Sartre: ein philosophischer Par-Cours, in: Lingue Antiche e Moderne 2 (2013), 79-104.

 

 

Zu-R-Schrott-Homer-Ilias-Buch-I

Zu-R-Schrott-Homer-Ilias-Buch-I

Homer – Ilias, übertragen von Raoul Schrott, kommentiert von Peter Mauritsch  (München, C. Hanser 2008), 631 pp., gebunden 34,95 Euro.

Bereits nach Lektüre des ersten Gesanges von Sch(rott)s Ilias – eingebettet als Zweiter Teil des Troianischen Krieges nach (Inhaltsangaben der) Kypria und vor Aithiopis1 – stellt sich ein ausgesprochen ungutes Gefühl über Sprachform und Diktion dieser Übertragung ein, welche (im hinteren Klappentext) immerhin den Anspruch erhebt, „noch nie zuvor […] dem heutigen Leser dieses große Epos vom troianischen Krieg so nahe [zu bringen], in einer ebenso kraftvollen wie bildhaften Sprache“. Voss (1793), Schadewaldt (1975), Hampe (1979), Ebener (1983), Latacz (2002) haben „wesentlich dazu geführt, daß die Ilias heute kaum mehr gelesen wird …“ (S. XXXII) – man muß solche Verstiegenheit nicht kommentieren. Stattdessen sei der Hinweis erlaubt, daß die Abfolge bei den Homerica zunächst einmal umlaufender, dichtender Volksgeist und seine weitere, jahrhundertelange mündliche Verbreitung durch fahrende Sänger (Rhapsoden) ist, sodann erst (anders Sch. S. XXVIII f.) die Spracharbeit eines Dichters (Homer) deren literarischen Niederschlag schafft – ohne darum doch die Zeugen ihrer Herkunft aus der oral poetry gleich auszumerzen. Ob Platon im Ion diese Entstehungsgeschichte epischer Werke vor Augen hatte, bleibe dahingestellt, der Verweis auf ihn (S. XXXIII) ist wohlfeil – wer wollte seiner Aufforderung an den Rhapsoden seiner Zeit, zu verstehen, „was der Dichter meint“, widersprechen, aber: was er sagt und wie er es meint, bleibt Interpretation und am engsten darin erkennbar, wie er es formuliert: „Homer von seinem Ufer abzuholen, um ihn ins Heute zu bringen“ ist eben nicht mehr genuin Homer, sondern Schrott nach Inhalten der homerischen Ilias, und die von ihm „substituierte“(!) philologische Übersetzung nicht eine „das Wörtliche2 liebende“, sondern eine das Wort des Autors in seinem <Sitz im Leben>. Diese Unterscheidung nimmt Sch.s Übertragung nicht ihren Eigenwert.

Kritikpunkte am literarischen Vorgehen bleiben gleichwohl: So wird eine Veranschaulichung homerischer Figuren – irdischer wie überirdischer – insbesondere durch die bis hin zur Albernheit reichende Banalisierung ihrer Sprachform angestrebt. Völlig unterschiedliche Stilhöhen stehen innerhalb ein und derselben Rede ein und derselben Person in unvermitteltem und unausgewogenem Kontrast nebeneinander; ganz besonders störend wirkt dies in der Rede des Altersweisen Nestor an die Kampfhähne zu Beginn (Il. I 254 ff.). So sprechen keine Heroen des Epos, so spricht der Hanswurst in der Komödie: es ist keinerlei Gespür für eine der jeweiligen literarischen Gattung angemessene Stilebene erkennbar.

Eine Auflistung von schriftsprachlich gezielt und gesucht, bemüht Unpassendem – im Ganzen oder in der Kombination seiner Versatzstücke –  enthielte etwa die Verse Il. I 31, 57, 122, 130, 132, 148, 173, 210, 229, 256, 261, 273, 285, 291f., 300f., 304, 332, 342, 347, 349, 360, 378, 387f., 410f., 521 f., 527, 540, 553, 560, 567, 570, 575f., 581f., 589: welcher jugendsprachliche Mainstream mit diesen (mehr oder minder schweren) verbalen Flapsigkeiten und Redewendungen auch immer bedient werden soll – er wird seine Freude haben an beinahe bürokratischen Gespreiztheiten in vv. 68, 215, 320, sich wenig ereifern über stetig fortlaufende sachliche Ungenauigkeiten wie in vv. 36, 73, 225f., 407, 500, 513, 518, 557 oder 5733 und andererseits brillante Formulierungen, die es natürlich auch gibt, wie in vv. 358, 429, 477 und 607, kaum wahrnehmen. Ein ausgesprochenes Lieblingswort des Übersetzers scheint „Hundsfötterei“ (so in vv. 181, 233) zu sein – wer kennt es, und worin liegt sein Beitrag zum tieferen Verständnis des Gesagten ?  Hierzu fügt sich durchgängig weiter Umgangssprachliches der Art von runter (81), rum (109, 133, 288), drauf (333), was (363, 541, 556)4.

Von diesen einfach zu zahlreichen Mißtönen werden auch die durchaus gelungenen Partien in Frage gestellt: es will im Ganzen nicht recht ‚passen‘ … Und man macht das Geschehen im Epos und die darin handelnden Charaktere nicht dadurch anschaulich(er) oder lebensnäh(er), daß man sie ihrer Eigenart im und für das Epos quā Sprachform entkleidet, welche ihrerseits ja durchaus ihren Beitrag zum platonischen Gebot leistet, „das, was [der Dichter] denkt, in seiner ganzen Breite und Tiefe verstehen zu können“, und ihn derjenige bleiben läßt, der er ist – ein dichtend-gestaltender Rhapsode,  (vielleicht) das Großgriechenland des (frühen) 8. vorchristlichen Jahrhunderts ‚befahrend‘, ein Kollege seines Demodokos und Phemios, von Vergils Iopas, ein Vorfahr Volker von Alzeys und der mittelalterlichen Minstrels ?

Michael P. Schmude, Boppard

 

1Eine ausführliche Inhaltsangabe auch der Ilias selbst (S. 623-31), die Einleitung (S. V-XL) zu Autor und Vortrag, Zeitgeschichte und Gesellschaft, Dramaturgie und Komposition; zu Wörtlichkeit und Interpretation, Sprache und Rhythmik der vorliegenden Fassung (um nur einige Gesichtspunkte zu nennen), sowie ein Anhang (S. 527-621) mit knappem Kommentar und dramatis personae bilden einen Rahmen, in welchen auch Sch.s Monographie: Homers Heimat – der Kampf um Troia und seine realen Hintergründe (München, C. Hanser 2008) sowie die seit dem 22.12.07 in den Feuilletons namentlich der FAZ und der Süddeutschen Ztg. ausgetragenen Debatten um die dort vorgetragenen Thesen einzubeziehen sind. Eine fächerübergreifende (Kulturgeographie und -geschichte, Sprachwissenschaft und Dichtungstheorie) Zwischenbilanz zieht der Tagungsband eines interdisziplinären Symposions an der Universität Innsbruck von 2008: „Lag Troia in Kilikien ? – Der aktuelle Streit um Homers Ilias“, hg. v. Chr. Ulf / R. Rollinger (Darmstadt, WBG 2011).

2So eindimensional ist die griechische Wortfamilie <Lógos> eben gerade nicht.

3Sind Chryseis und Briseis nun schön-wangig oder haben sie runde Backen – so vv. 143/185, und auch 429 deutet in Sch.s [!] Übertragung darauf hin – , während jene in v. 310 gerötete Wangen hat, diese in v. 346 gleichschön ist: man mag sich dabei Unterschiedliches vorstellen, aber das hängt wohl auch mit Sch.s ganz eigenem Verständnis von festen Epitheta zusammen [S. XXXVII f.], so zu Achills schnellem Schritt vv. 58 gegenüber 84 und 488, zu Heras Kuhaugen in vv. 551 gegenüber 568 und ihren weißen Ellen vv. 569/572 gegenüber 595.

4Mühsam ist auch die Druckgestalt: durchgängige Kleinschreibung, auch der Eigennamen und nach Satzende (mit Punkt), mag Geschmackssache sein. Daß auf Interpunktion vielfach verzichtet, stattdessen aber (die zum Deutschen häufig unterschiedliche) Originalbetonung griechischer Eigennamen (aber auch das nicht konsequent) gegeben wird, verbirgt seinen tieferen Sinn. Die Zeilen-/Verszählung verteilt sich ‚großräumig‘.