Schlagwort-Archive: Graffiti

Zu-KWWeeber-Couchsurfing-im-Alten-Rom

Zu-KWWeeber-Couchsurfing-im-Alten-Rom

Weeber, K.-W.: Couchsurfing im Alten Rom – Zu Besuch bei Wagenlenkern, Philosophen, Tänzerinnen u.v.a. Darmstadt (WBG Theiss 2022). 232 S., € 22 (ISBN 978-3-8062-4418-2).

aus: FORUM CLASSICUM 65 (2022), S. 281-283.

Ein Gesprächsband – analog in Zeiten der Pandemie, Begegnungen mit fiktiven, literarischen und historischen Gestalten aus dem Alltagsleben des Alten Rom (Halbwelt inclusive), quellengestützt, gelehrt und gleichwohl unterhaltsam – wie man es bei diesem Autor (W.) auch nicht anders erwartet, der zuletzt aus den Graffiti des antiken Pompeji einen Spiegel des ‚normalen‘ Lebens einer antiken Mittelstadt geformt hatte (→ FC 63 [2020], S. 180 f.).

Die Rahmenhandlung besteht in der originellen Idee, anhand einer – lose miteinander verknüpften (u.a. S. 92, 106, 165) – Serie von Gesprächen vor Ort, eingebettet in die Ich-Erzählung einer Reise aus der fernen Barbarik ins Zentrum der damaligen Oikuménē, Einblicke in unterschiedliche Facetten der römischen Gesellschaft zu vermitteln: Stimmungsbilder aus der Welt der ‚kleinen‘ und nicht (mehr) ganz so kleinen Leute, von (auf den ersten Blick) mitunter auch ‚schrägen‘, skurrilen Vertretern (samt Außenseitern) einiger für jede Metropole markanter Berufsgruppen – ihre Sorgen und Träume, Umstände und Bedürfnisse, Leitlinien und Ziele derer, die es ‚geschafft‘ haben, wie derer, die im wiederkehrenden Überlebenskampf mit den Zumutungen eines Molochs stehen – welcher Rom damals schon war. Nicht zuletzt zeigen sich die Damen dort auf ihren gesellschaftlichen Ebenen und auf ihre je eigene, bemerkenswerte Weise als ausgesprochen selbstbewusst, ebenbürtig und lebensbewältigend.

Die jeweils unter ein Motto gestellten Geschichten und Dialoge im Einzelnen gliedern und entwickeln sich aus drei Blickwinkeln: als ‚Germane in Rom‘ zur Zeit des Kaisers Nero läuft unser Autor zunächst beim garum-König von Pompeji auf dem Aventin ein; die – erweiterte – Gastronomie ist durch eine Fast-Food-Wirtin sowie die Mutter einer als locus amoenus ein- und priapeisch ausgerichteten Taverne vertreten, und auch ein Wagenlenker repräsentiert die Unterhaltungsbranche. Der bürgerlichen Welt entstammen ein Lagerverwalter und der Ururenkel von Horazens legendärem Schulmeister. Im zweiten Teil aus dem Umland und als Pendant zur Großstadt – das römische Ämtersystem klingt von ferne an – gesellen sich zum Lager- die Gutsverwalterin, zum garum-Fabrikanten ein Kleinbauer, zum Wagenlenker der Gladiator (samt weiblichem Fan), zur copa tabernalis Trimalchio, König der Freigelassenen (und Selbstdarsteller wie „viele“ im damaligen Germanien ?? – zeitgenössische mallorquinische Parallelen böten sich eher). Naturgemäß fällt in dieser auch deutlich kürzeren Mittelpartie der Spannungsbogen, dem ‚kleinerformatigen‘ Personal entsprechend, etwas ab, aber die Kurve steigt mit der Rückkehr nach Rom wieder an: teils gegensätzliche Bereiche von Körperpflege und Wellness (das Allheilmittel von Neros kretischem Leibarzt und die Klagen einer rechtlosen Kosmetikerin; der soziale Kosmos in der Latrine) oder im erweiterten Rahmen des Showbusiness (Bestattungsmanager und Tänzerinnen-WG in der Subura, Comedian als Sozialaufsteiger oder Edel-Escort in Säulenhallen) ergänzen und runden den ersten Durchgang ab und gipfeln im Gespräch mit dem obersten Staatslehrer der Zeit, dem Stoiker Seneca.

Realienkundliches mischt sich in reichem Maße mit glaubhaft entwickeltem Atmosphärischen und fein beobachtetem Lokalkolorit; kommentierende Beschreibungen zudem von Stimmung, Personal und Ambiente (etwa die Beschreibung eines Parks an einer villa rustica S. 117), aber auch zunächst überraschende Tranfers in modern life (so u.a. opinion leaders S. 15, systemrelevante Berufe, Ultras und Hatespeech S. 31 f. / 219, Speisen to go S. 50, Take-away-Snacks S. 54, Smogglocke S. 80, Stoiker-Softie S. 89, Typberaterin S. 149) werden durchweg getragen von einem heiter bis ironischen und verständnisvoll-empathischen Begleitton. Überhaupt sind in den fein gezeichneten Situationsbildern Gegenwartsbezüge durchweg gesucht, hallen Nachklänge unüberhörbar in die Jetzt-Zeit herüber – vom touristischen Umgang mit lokalem Geschirr bis hin zur Genderfrage (samt generischer Antwort S. 51) und einem Kneipengespräch (S. 53-55), welches inhaltlich wie habituell in jede Moderne passte, der Sorge um Verschwörungstheoretiker (– am Hofe S. 57) oder aber der Umgehung des Tagesfahrverbotes in der City sowie zu Pflasterstand und Spurrillen auf der Via Flaminia (S. 81).

So erhält der/die (noch) Uneingeweihte ebenso absichtsvoll wie beiläufig Auskunft über Entstehungsprozesse (jenseits wenig schmeichelhafter Vorurteile) und Herkunftsregionen der omnipräsenten Würze eines angemessenen convivium, wird Zeuge, dass auch ein veritabler Provinz-Fürst und Werbeprofi in den gehobenen Kreisen der Hauptstadt wieder als homo novus anfängt. Er erhält Einblicke in den ‚Bauch der Stadt‘ (S. 20), das Emporium am aventin-seitigen Tiberufer, in Abläufe, Hafenlogistik und Speicherhallen, von wo aus für Millionen Einwohner der alltägliche Lebensbedarf jeglicher Art gestillt wird – über Nahrungsmittel und Gebrauchsgegenstände bis zu Baumaterialien. Er erlebt die Welt des gnadenlosen Fairplay im Circus Maximus, bestimmt von Fluchtafeln, Talentscouts und Rangordnungen auch innerhalb der Rennställe, lernt die Tarifverhandlungen zwischen den ausrichtenden (indes aus eigener Tasche bezahlenden) Beamten und den domini der Blauen, Weißen, Roten und Grünen factio kennen und übernimmt den Blickwinkel des Nachwuchsfahrers – jetzt noch Sklave, bei entsprechenden Erfolgen später Freigelassener – auf der allen gemeinsamen Stallungs- und Trainingsanlage (stabula und trigarium) im Südwesten des Marsfeldes. Nebst einem Schnellimbiss (Spezialität: Kirchererbsenbrei mit Würstchen, samt Rezept S. 54), flexibel ausgerichtet je nach Anspruchs- und Einkommensniveau der Laufkundschaft, mit Filialen und ambulantem Vertrieb, vernimmt er, nicht unvorbereitet aufgrund einschlägiger Graffiti bereits in Pompeji (s.o.), die fürsorglichen Angebote horizontaler Gastronomie einer salax taberna, erzähltechnisch geschickt verklammert und in ‚der Sache‘ vermittelt durch die copa des zuvor besuchten cenaculum. Naturgetreue Szenen (illegalen) Glückspiels fehlen ebensowenig wie Beobachtungen zur sozialen Schichtung in derartigen loci inhonesti und kontrastieren wirkungsvoll zur Lebenswelt einer traditionsreichen Familie von magistri und grammatici → Hor. ep. II 1, 71: Unterrichtsbesuch (privatim und in der Portikus) samt pädagogischem Diskurs gehören zum Pflichtprogramm, und auch hier bleibt die soziale Frage nicht ausgeklammert (S. 70 f.). Wir erleben eine plastische Beschreibung der Doppelmoral im Umfeld der Vestalinnen-Schwesternschaft (S. 156 f.), einen Graffiti-Künstler bei der Arbeit (S. 198 f.) und einen durchaus ironisch-selbstkritischen (S. 218 ff.) Starphilosophen (und Lehrer Neros), der mit seinen Betrachtungen zu Wutbürgern und ‚Umweltverbrauch‘ im Zuge der ‚Globalisierung‘ der römischen Welt einen weitgespannten Reigen in unsere Tagesaktualität hinein abschließt.

Bei allem Bemühen um lebensnahe und nicht zuletzt auch unterhaltsame Situationen, in Gesprächen mit Stimmungsmesser/innen aus ganz verschiedenen Kreisen der ‚normalen‘ Bevölkerung eines antiken Schmelztiegels, mit stetigen Anknüpfungen an moderne Entsprechungen, die er gleichsam ins Heute übersetzt, bietet unser kommunikationsfreudiger ‚Alltags-Kulturtourist‘ ein Füllhorn ‚so nebenbei‘ vermittelten Sachwissens, auf der Couch oder vor Ort – der Begriff bleibt großzügig gefasst. Jedenfalls stellt W. am Ende konsequent mit einem Verzeichnis, welches en detail alle inschriftlichen wie literarischen Quellen und Zeugnisse zu dramatis personae, zu Gegebenheiten wie Hintergründen enthält, sein fabulierendes ‚Histotainment‘ auf eine verlässliche Basis und gibt solchermaßen ein breitgefächertes wie gehaltvolles Panoptikum aus dem bunten Treiben des antiken caput mundi.

Michael P. Schmude,  Lahnstein

Zu-KWWeeber-Botschaften-aus-dem-Alten-Rom

Zu-KWWeeber-Botschaften-aus-dem-Alten-Rom

Karl-Wilhelm Weeber: Botschaften aus dem Alten Rom – Die besten Graffiti der Antike, Freiburg i. Br. (Herder) 2019. 192 S., € 10,- (ISBN 978-3-451-06827-0).

aus: FORUM CLASSICUM 63 (2020), S. 180 f.

Schriftzeichen und Bildchen, Figürliches und Kritzeleien auf öffentlichen Flächen, Echo aus den Gassen und Winkeln antiker Städte, so haltbar wie der Putz an den Wänden, in welche sie eingeritzt waren, thematisch vielgestaltig und trivial, Eingebungen des Zufalls oder des Übermutes, Vorgänger heutiger Streetart etwa aus Spraydosen: jedenfalls auch eine Textsorte, wenngleich ‚verborgen‘, spontane Stimmen des bunten Treibens der ‚kleinen Leute‘ auf der Straße, stets mit unmittelbarem Lebensbezug und so aktuell wie dieser, Streit in der Nachbarschaft und schulisches Leid, gelebte Liebe und Fanpost, Wahlkampf und Beschimpfung – Momentaufnahmen aus einem römischen Alltag, festgehalten im Ascheregen des Vesuvausbruches 79, ausgewählt und zusammengestellt von K.W. Weeber (W.) aus der umfassenden Sammlung im Rahmen von Band 4 (1871 ff.) des Corpus Inscriptionum Latinarum und damit in einer handlichen Ausgabe von Neuem ins Licht einer Öffentlichkeit gebracht, welcher sie entstammten und wo sie ursprünglich ihren ‚Sitz im Leben‘ genommen hatten. Prominent seit 1857 immerhin das blasphemische Spottgraffito von einer Hauswand auf dem Palatin in Rom (wohl um 200) über den Christen Alexamenos, der einen gekreuzigten Esel anbetet. Auch in Griechenstädten der Zeit fanden Tagesbefindlichkeiten in dieser Form ihren Niederschlag.

Dass sich Graffiti aus Rom selbst in geringerer Zahl erhalten haben, liegt weniger an einem minder prallen Alltagsleben in der Metropole als an der konservierenden Wirkung der Vulkanasche über Pompeji: die übliche Verfallszeit solcher Hinterlassenschaften von Augenblicks- und Freizeitlaunen war allerorts an die Haltbarkeit bröckelnden Wandputzes gebunden (S. 9). Keine Örtlichkeit war gegen Graffiti gefeit – Martial (XII 61, 8-10) und der jüngere Plinius (Ep. VIII 8, 7) berichten amüsiert –, indes durchaus dezenter: fein geritzt, nicht lauthals gesprüht, diskret, nicht unübersehbar wie heutige Spraygraffiti. Das Lateinische kennt hierfür keinen anderen Terminus als scribere, der Begriff kommt vom italienischen Verb (s)graffiare, kratzen. Was Pompeji von Rom unterscheidet, ist die geringe Zahl von Politgraffiti (für die Hauptstadt dagegen Sueton, Nero 45, 2). Allerdings finden sich auch hier unter der Asche die breiter gemalten Pinselstriche der Dipinti (Gemälde), deren gut wahrnehmbare Lettern Wahlaufrufe und allgemeine Verlautbarungen an die breite Öffentlichkeit enthalten (Auftragsarbeiten mit ‚Firmenlogo‘, vergleichbar modernen Reklametafeln oder Wahlplakaten) und die sich gerade darin von der reichlich ‚individuellen‘ Kursivschrift („Sauklaue“ S. 14, zumal ohne Interpunktion) der geritzten, privaten Graffiti abheben. Mithin vereinigt W.s unterhaltsame und handliche Sammlung (aus insgesamt etwa 5600) rund 600 Graffiti und 150 Dipinti mit ihren teils persönlichen, teils eher publikumsorientierten Botschaften – inhaltlich verteilen sie sich auf mehrere Themenkreise, besonders ergiebig ‚Amor & Eros‘, ‚Gladiatoren und Arena‘‚ ‚Wahlkampf‘ oder schlicht ‚Persönliches‘. Das älteste stammt aus d. J. 78 v. Chr.

Auffällig, aber den gesellschaftlichen Konventionen der Zeit entsprechend, die Zurückhaltung von Frauen beim Schreiben (anders: als Objekte) von Graffiti. Gerne genutzt wurden die ‚interaktiven‘ Möglichkeiten dieser Kommunikationsform in Kommentar und Dialog und noch viel lieber die Wand als Nachrichtenbörse für Familiäres wie als Pranger für Zeitgenossen – eine Vorstufe moderner ‚sozialer‘ Netzwerke (S. 73). Und die Hobbydichterlesung der etwas anderen, amourösen Art, literarisch weniger kunstvoll, dafür in ihrer ungekünstelten Schlichtheit unmittelbar anrührend, lässt die Liebeselegie (Properz, Ovid) im Hintergrund erkennen; für den Hagestolz ins Stammbuch, also an die Wand: Alter amat, alter amatur, ego fastidio – Erwiderung: Qui fastidit, amat (S. 31). Deutlich derber erotische Obszönitäten, Preislisten und Qualitätshinweise zu Dienstleistungen in Bordell oder Kneipe. Reminiszenzen an die Schulzeit führen zu Alphabetkritzeleien (S. 186 f.) und literarisierenden Graffiti (Vergil). Kritzeleien (nicht zuletzt von schwärmenden Damen) und professionelle Dipinti im Umfeld des Amphitheaters, berühmt durch eine Massenschlägerei 59 unter den Fans aus den umliegenden Vesuvstädten (Tac. Ann. XIV 17), zeichnen (!) Ausrichter und ihre Kämpfer sowie deren weitergehende Heldentaten. Grüße und epigraphische Selfies (der anteilsmäßig größte Bestand), Notizen aus der Wirtschaft (‚Einkaufskörbe‘, Zinsen), Nugae und Latrinenphilosophie spiegeln Allzumenschliches. Politparolen, berufsgruppen- und frauengestützt, Nahaufnahmen kommunalpolitischen Lebens in Pompeji (S. 121 ff.) – und in Rom: W. nach Ps.(?)-Cic., Commentariolum petitionis, S. 171-178.

In einer launigen, flüssig lesbaren Gesamteinführung ist von besonderem Nutzen die Aufstellung pompeianischer Graffiti in Zahlen (S. 10 f.): man erhält prozentualen Aufschluss über Personennamen, Inhalte, Dichterverse, nicht zuletzt Graffiti in griechischer Sprache (ca. 150). Danach gliedert W. sein Material in 23 weitere Unterkapitel, deren jedes eine Mottoüberschrift trägt – ‚Süß ist die Liebe für unsere Seele‘, ‚Der Netzkämpfer Crescens: Arzt der nächtlichen Puppen‘, ‚In Pompeji ist es schwierig … Wahlkampf ohne Politikverdrossenheit‘ u.a.m.  – und mit einer Einleitung versehen ist, welche die Anbindung an literarische Kunst oder zeitgenössische Politik sucht, aber auch den nahen und ungebrochenen Bezug zur Alltagswelt unserer Tage herstellt. Die Aufschriften werden in loser Folge und verschieden an Zahl (durchnummeriert und damit auch als W. ‚zitierfähig‘; die Nummern aus CIL IV stehen jeweils rechts neben dem Text) nach dem lateinischen Wortlaut übersetzt (Beides ergänzt), mitunter sachlich, ‚textkritisch‘, metrisch oder als Dichterzitat knapp erläutert (S. 19; 28 f. et al.) und häufig, den Abbildungen in CIL folgend, im originalen Schriftzug samt ein- oder beigefügter Bild’karikaturen‘ (S. 80; 90-93; 101) geboten, so dass ein authentischer Eindruck dieser Text- und Kleinkunstform entstehen kann.

Die Beschäftigung mit einer solchen Textsorte lohnt alleine schon die Freude an der detektivischen Suche im Kleinen, am „Knacken des Verpackungs- und Inhaltscodes lateinischer Graffiti“ – darin hat W. ebenso ‚einfach‘ Recht wie in der Erwartung, dass neben ihrem unbestreitbaren alltagshistorischen Quellenwert solche Intermezzi eine motivierende und bereichernde Ergänzung für jeden Unterricht darstellen können.

Michael P. Schmude,  Lahnstein