Zu-F-Montanari-History-of-Ancient-Greek-Literature

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Franco Montanari: History of Ancient Greek Literature – Vol. 1: The Archaic and Classical Ages; Vol. 2: The Hellenistic Age and the Roman Imperial Period. With the collaboration of Fausto Montana. Transl. from the Italian Original by R. Barritt Costa and Orla Mulholland. Berlin / Boston (de Gruyter) 2022. XXIX & 1174 S., € 290,00 (ISBN 978-3-11-041992-4).

aus: FORUM CLASSICUM 66 (2023), S. 160-163.

Das zweibändige Werk, ursprünglich erschienen Roma 1998 (Laterza), in zweiter, erweiterter Auflage 2017 (Edizioni di Storia e Letteratura) umfasst in einer überaus gehaltvollen und auf das Klarste durchstrukturierten Darstellung die Geschichte der griechischen Literatur in ihren Gattungen, Autoren und Erscheinungsformen von Homer bis Synesios von Kyrene. Biographien und Werke werden ebenso wie deren Sitz im literarischen und gesellschaftlichen Leben nach allen Seiten in ihre Epochen eingebettet und errichten ein minutiöses Gesamtbild der griechischen Antike von der Mykenischen Zeit, den Hellenic Middle Ages und der Dorischen Wanderung (‚Rückkehr der Herakliden‘) bis in die römisch dominierte Spätantike.

Die – ausweislich eines 27seitigen Inhaltsverzeichnisses auf ein Maximum an Detail angelegte – Gliederung folgt in kleinsten Schritten der ‚klassischen‘ Ordnung (welche hier bestenfalls summarisch angedeutet werden kann): eine Introduction zeichnet die Perioden der griechischen Sprache und ihrer Phänomene (Dialekte, Koiné), Text- und Überlieferungsgeschichte nach. The Archaic Age teilt sich in Epik, Lyrische Dichtung, Philosophie und Historiographie sowie Fabel. The Classical Age führt die Vorsokratiker fort und über das frühe Drama (Alte Komödie und Aischylos) zur Sophistik und Sokrates sowie zum klassischen (demokratischen) Theater einerseits, zu Epos und Lyrik des 5. und 4. Jh. v. Chr. andererseits. Von der Medizin der Zeit zeugen die Hippokratische Schule, (nach den Logographen) für die Geschichtsschreibung Herodot als father (seit Cic. leg. I 5) und Thukydides als Begründer der politischen Monographie. Die klassische Rhetorik des 5. Jh. (Lysias), die nachthukydideischen Historiker (Xenophon), Redekunst (Isokrates, Demosthenes) und Nachsokratiker (Alte Akademie und Peripatos) des 4. Jh. leiten über zur folgenden Epoche des Hellenistic Age. Hier stehen zunächst die Neue Komödie (Menander) und Tragödie sowie die Alexandrinische und Pergamenische Philologie, Textkritik und Grammatik. Die Dichtung des Hellenismus repräsentieren als Leuchtturm Kallimachos, daneben Apollonios von Rhodos (Epos), Theokrit (Bukolik) und Herondas (Mimiambus), den philosophischen Sektor bestimmen die Schulen der Skepsis (Akademie), Epikurs und die Frühe wie Mittlere Stoa. Es folgen Wissenschaft (Mathematik und Mechanik, Astronomie und Medizin), Rhetorik (Asianismus vs. Attizismus) und Historiographie (Alexander-Historiker, Polybios, Diodorus Siculus) sowie die jüdisch-alexandrinische Literatur (LXX). In The Roman Imperial Period faltet sich die griechische Literatur – auch in Richtung Fachschriftstellerei – weiter auf: Rede- und Stilkritik, professionell nunmehr in Rom, werden vertreten durch Dionys von Halikarnass, den Autor von Perì Hýpsous, Demetrios und Hermogenes von Tarsos, Geschichtsschreibung (nochmals Dionys sowie Cassius Dio oder dann im Übergang zum MA Prokop von Caesarea) und Geographie (Strabon, Cl. Ptolemaios) um die Peri(h)egetik (‚Reiseführer‘ – Pausanias) ergänzt; ein Solitär bleibt Plutarch aus dem boiotischen Chaironeía. Zugleich treten im 1. Jh. und im Umfeld der NTlichen Schriften jüdisch-christliche Autoren (Philo von Alexandria, Flavius Iosephus) auf, während die philosophisch-wissenschaftliche Literatur die Schulentwicklung aus dem Hellenismus fortführt (Plotin und der Neuplatonismus auf der einen, Galen oder Artemidor von Daldis auf der anderen Seite). Die Zweite Sophistik (im Geiste des Attizismus) verbindet einmal mehr Beredsamkeit und Philosophie (Dion von Prusa ‚Chrysostomos‘, Aelian aus dem latinischen Praeneste), und mit Lukian von Samosata erfolgt der Übergang zur narrativ-fabulierenden Novellistik des griechischen Romans (Longos, Heliodor oder die aisopischen Mythiamben des Babrios). Die kaiserzeitlichen Kompendien, alle Bereiche der kommenden Artes liberales betreffend, reichen von den Grammatikern Apollonios Dyskolos und Aelius Herodian (2. Jh.) bis zum Florilegium des Johannes Stobaios im 5. Jh. Ein nochmaliges Wiederaufblühen erlebt die Rhetorik in der ‚Späten Sophistik‘ des 4. Jh., attizistisch orientiert an den klassischen Vorbildern wie Demosthenes und bereits eingegliedert in die Auseinandersetzung zwischen Heiden- und Christentum nach der Konstantinischen Wende (Libanios von Antiochia). Einen Niedergang hingegen verzeichnet die Dichtung; im Bemühen, überlieferte Muster neu zu beleben, heben sich unter ihren Gattungen Epigramm und Epos hervor, letzteres insbesondere in Form des narrativen (Nonnos, Musaios) und Lehrgedichts, desgleichen orakelnde Hexameter der Sibyllen und spirituelle Hymnen aus dem Umfeld der Mysterienkulte (Orphiká). Zweigeteilt ist das letzte Kapitel über die griechisch-christliche Literatur – in die Phase vor Konstantin: Apostolische Väter, Apologeten, Märtyrerakten, Gnosis und Alexandriner (Clemens, Origenes) sowie in diejenige als Staatsreligion: Arianer, Eusebios von Caesarea, syrisch-palästinische und kappadokische Väter, Antiochener (Johannes Chrysostomos) und das Ende der Schule von Alexandria.

Die Epochenabschnitte im Großen beginnen mit einen historischen Überblick (The Period) und bestimmen die politischen Grundzüge der Zeit: so das Classical Age mit der Definition der namensstiftenden Idee sowie einer Beschreibung Griechenlands nach den Perserkriegen und in der ersten Hälfte des 5. Jh.; es folgen dort eine Behandlung des Perikleischen Zeitalters, des Peloponnesischen Krieges und griechischen Westens, sodann eine Darstellung der Hegemonie Spartas in der ersten und des Zugriffs Makedoniens auf Gesamtgriechenland in der zweiten Hälfte des 4. Jh., bis – wie stets – mit einer Vue d‘ensemble über die literarischen Gattungen der Schritt zum ‚eigentlichen‘ Thema geleistet wird.

Die entsprechenden Kapitel leiten methodisch zunächst in das jeweilige Génos bzw. die maßgebende geistige Strömung ein und verankern diese sodann in ihrem sozialen Umfeld. Es folgen – in zeitlicher Ordnung – die einzelnen Autoren, Leben und Werk(e), ggfs. verbunden mit Bemerkungen zur Textüberlieferung, schriftstellerische Merkmale (regelmäßig wiederkehrende Kapitel zu Komposition und Gehalt, überall zu Language and style; wo neu, auch zur Metrik), Rezeptionsgeschichte. Bei größeren Zusammenhängen, beispielsweise Hellenistische Dichtung (= Kap. IV der betreffenden Epoche), werden strukturähnliche Untergliederungen vorgenommen, hier: (2 ff.) Elegie und Epigramm – Kallimachos – Lehrdichtung – Epos – Bukolik – Tradition und Neuerung – Mimus, und innerhalb deren wiederum ein vergleichbarer Aufbau. Die engmaschige Führung in allen Abschnitten, gestützt durch Kopfzeilen: links Kapitel (Archaic Greek Epic), rechts Untergliederung (Epic cycles and post-Homeric epic), sorgt in der fortlaufenden Lektüre für kontinuierliche Orientierung; der Verzicht auf jegliche Fußnoten bzw. Anmerkungsapparat sowie eine klare und jederzeit wohlverständliche Sprachgestalt geben das Ihre hinzu.

Auch die Werkbeschreibungen im Einzelnen fügen die opera wiederum in ihren historisch-politischen Kontext (Paradebeispiel: Aristophanes) ein. Forschungsprobleme erfahren angemessene Diskussion: die Homerische Frage – Autorschaft und Genese aus der Oral poetry (Homer und die Homeriden von Chios), Weitergabe (Rhapsoden) und verbindliche Sammlung (Peisistratiden) der Gesänge wird (S. 108-126) von den antiken Quellen an (literarischen Zeugnissen; dazu Kommentaren und Scholien, insbesondere der Alexandriner) in allen wesentlichen Stationen der Debatte über Humanismus und Renaissance bis in die Philologie der Moderne (vom Unitarismus Aristarchs von Samothrake [→ S. 779 vs. Chōrizóntes] zum Analytical criticism des Abbé d‘ Aubignac) und Gegenwart bündig zusammengefasst. Die Theognideische stellt (S. 204 f.) die Frage nach Herkunft und Zusammensetzung des – im Vergleich zur Überlieferung anderer frühgriechischer Lyriker (von Pindar einmal abgesehen) – umfangreichen Corpus an (politischen – moralischen – Liebes-) Elegien aus unterschiedlichen Zeiten und dichterischen Anlässen, die Herodoteische (unitary vs. evolutionary criticism, S. 563-566) wie die Thukydideische (S. 580-583) – besonders im 20. Jh. – nach Einheit oder Komposition des Werks und Kontinuität seines Geschichtsbildes. Die Figur des historischen (→ Aristoph. Wolken) wie des literarischen (Platon, Xenophon) Sokrates hat von jeher Fragen aufgeworfen; M. sichtet (S. 418-421) akribisch und kritisch die Quellen zu Beiden – Parallelen zu Jesus von Nazareth in seiner Zeit und im Kontext der Schriften des Neuen Testaments und der jüdisch-christlichen Historiker (Josephus, Lukas; S. 1005, 1013 ff.) liegen auf der Hand. Der auf Aristophanes von Byzanz und Aristarch (s.o.) zurückgehende Kanon der Zehn Attischen Redner steht bei Dionys von Halikarnass (S. 946 f.) vor Augen, wird für Caecilius von Caleacte (Sizilien) reklamiert (S. 948) und unter (Ps.-?) Plutarch (S. 998) erwähnt. Man wünschte sich, bei aller Fragwürdigkeit solcher im Hellenismus einsetzenden Auswahlen, doch – nicht zuletzt aus dem Blickwinkel bereits antiker Literarkritik – an gegebener Stelle noch einige Bemerkungen zum Kanon der Neun Lyriker des Antipatros von Thessalonike (Anth. Pal. IX 184 und 571; Quint. X 1, 58-67, auch bei Dion. Halikarn. und Hermogenes), entweder bei den Dichtern selbst oder bei den alexandrinischen Gelehrten (→ S. 780). Nach Sappho (S. 223 ff.) behandelt M. (S. 280 f.) mit Corinna, Telesilla und Praxilla weitere Lyrikerinnen aus deren Kanon des gleichen Antipater (Anth. Pal. IX 26). Sorgsam entflicht er den Epischen Kyklos aus den Verästelungen seiner Einzelstränge und verweist auch auf gänzlich Verlorengegangenes (Herakléis, Theséis): die ‚homerischen‘, nicht-kyklisch angelegten Großepen setzen den trojanischen Sagenkreis inhaltlich voraus (S. 139), bleiben dichterisch aber eigenständig (Aristoteles, Poet. 1451 a 16-35); stofflich-genealogisch auf Theogonie und Titanomachie, Argonauticá und Thebanischen Kreis folgend, verdankt sich der Troianische in der uns vorliegenden Form mit Kýprien, Aithíopis, Kleiner Ilias, Iliupérsis, Nóstoi und Telegonía maßgeblich der Chrestomathía des Proklos (2. Jh., S. 134). Bei Alldem finden sich nicht nur Literarisch-Philologisches im großen historischen Rahmen, sondern auch sprachgeschichtliche Gesichtspunkte durchgehend berücksichtigt, dazu Archäologisches, soweit für die literarische Entwicklung von Bedeutung (etwa Schliemann, Korfmann und Homer, S. 64-68). Mit Bd. 2 und dem Hellenismus wird die Rezeption zum regelmäßigen Gegenstand von M.s History.

Die ausführliche Behandlung endet dann vergleichsweise unvermittelt: der Übergang zur byzantinischen Ära des Oströmischen Reiches und damit in die griechische Sprache und Literatur des MA bleibt mithin einem kommenden Band dieser verdienstvollen Gesamtschau vorbehalten. Ein Literaturverzeichnis als solches – im Allgemeinen wie zu Einzelnem – fehlt. Am Ende des (in durchlaufender Paginierung gehaltenen) zweiten Teiles stehen eine von E. Squeri gefertigte und alphabetische geordnete Bibliography of Translations (unter denen die Loeb Classical Library [Cambridge MA] klar dominiert) sowie ein Index antiker bis moderner Autoren, nicht allerdings ein Sach- oder etwa geographisches Register – möglicherweise wegen des äußerst genauen Inhaltsaufrisses als entbehrlich angesehen. Die Intention dieses bei allem Umfang doch kompakten und übersichtlichen Werkes von F.M. ist eindeutig die Darstellung, nicht die sekundärliterarische Aufarbeitung oder Dokumentation eines Forschungsstandes; gleichwohl gehört es gerade darum als Alles bis ins Detail überspannende Leseausgabe in die Hand eines/r Jeden innerhalb wie außerhalb von Schule oder Universität an der griechischen Literatur Interessierten.

Michael P. Schmude, Lahnstein

Zu-Schulz-Walter-Griechische-Geschichte

Zu-Schulz-Walter-Griechische-Geschichte

Raimund Schulz / Uwe Walter: Griechische Geschichte – Bd. 1: Darstellung; Bd. 2: Forschung und Literatur. Berlin (de Gruyter) 2022 [Oldenbourg Grundriss der Geschichte Bd. 50]. 278 und 378 S., jeweils € 24,95 (ISBN 978-3 486-58831-6 und 978-3-11-076245-7).

aus: FORUM CLASSICUM 65 (2022), S. 393-395.

Diese Neubearbeitung des ersten Bandes zur Griechischen Geschichte von W. Schuller (1980 – dazu P. Siewert: HZ 236 [1983], S. 134; 62008) behält zum Einen die bewährte, dreigeteilte Konzeption der seit 1978 kontinuierlich wachsenden Reihe OGG bei: Darstellung – Grundprobleme und Tendenzen der Forschung – Quellen und Literatur. Zum Anderen betrachtet sie die weiträumigen Verflechtungen innerhalb des mediterranen Raumes und Griechenland im Rahmen wechselnder Großreiche der Antike (innerhalb der Reihe → Bd. 25 Geschichte Altvorderasiens 22011); Hauptstichworte sind Mobilität, Migration und Kolonisation, Krieg und Bundessysteme sowie die Entwicklung des Polis-Begriffes in seinen regionalen Modellen und Varianten. Dabei wird mit der Zeitspanne von ca. 800-322 v. Chr. die Epochengrenze zum Hellenismus gewahrt, welchen schon in der ursprünglichen Bandaufteilung H.-J. Gehrke (1990, 42008) fortgeführt hatte; voraufgehend Bd. 46 Die Entstehung Griechenlands (2020) – geplant 52 Die ägäische Welt. Troja, Kreta und Mykene – und ‚nach vorne‘ abrundend Bd. 22 Byzanz 565-1453 (42011). Zugleich führen die beiden zu besprechenden Teilbände die Entwicklung der Reihe von einem eher eurozentrierten Standpunkt zum Einbezug des auch außereuropäischen sowie prähistorischen Umfelds konsequent fort. Unter diesem Aspekt sollten gesellschaftliche Sachthemen wie Religion, Wirtschaft, Haus und Familie nicht unberücksichtigt (integriert in c. 2.2/3, s.u.), aber z.T. ausgeklammert bleiben und für sie auf die parallel angelegte Enzyklopädie der griechisch-römischen Antike EGRA verwiesen werden, um die übergeordneten politischen Strömungen in ihren – nicht zuletzt gedanklichen – Voraussetzungen, wechselseitigen Bedingt- und Abhängigkeiten umso profilierter herauszuarbeiten.

Der thematische Aufbau entspricht sich (bis auf Details – wichtig: Bd. 1, S. 175 ff. Ein bipolares Hellas?; Bd. 2, S. 130 ff. Konstruierte Identitäten = Mythen, Vergangenheitsfiktionen, Barbaren, Hellenen) in den Kernteilen von Band 1 und 2. Am Anfang stehen Traditionen und Lebensumwelt einer griechischen Geschichte hier, methodische Kategorien in Forschung und Studium dort. Danach gliedern vier Hauptkapitel, im Umfang beiderseitig abnehmend, den beschreibenden wie den problemorientierten Teil: Grundstrukturen und Basisprozesse – Facetten der griechischen Staatenwelt – Die Griechen machen große Politik (550-400) – Neue Machtkonstellationen und Transformationen des Politischen (400-322). Eine umfassende chronologische Übersicht, stimmig gegliedert in Naher Osten und Kleinasien – Griechische Halbinsel und Ägäis – Großgriechenland und der Westen (vertieft durch eine detailliertere zu Athen S. 129-131), ein den Kapiteln sachlich folgender Kartenteil (ohne den Alexanderzug), ein elementares Auswahlglossar sowie dieses ergänzende Namens- und Sachregister, ferner ethnische und geographische Indices machen bereits den ersten Teil zu einem auch eigenständig verwendbaren Handbuch. Den Forschungsüberblick des 2. Bandes beschließt als dritter Teil ein ausführliches Literaturverzeichnis, welches den Aufbau der ersten beiden nachvollzieht und begleitet, dazu erneut das o.g. dreifache Register mit gemeinsamen wie modifizierten Einträgen.

Der Erzählfaden setzt ein mit den bronzezeitlichen Ägäis-Kulturen am Rande des ‚Fruchtbaren Halbmonds‘ der Großmächte Ägypten, Babylon und der Hethiter. Dezentral, also ohne übergeordnete Führung in ihrem Binnenverhältnis zueinander organisiert, werden die minoisch-mykenischen Paläste als wirtschaftliche und politische Leitstruktur (mit der Verwaltungsschrift Linear B) nach 1050 von den sogen. ‚Dunklen Jahrhunderten‘ abgelöst. Deren Wechsel zwischen wandernd-pastoralen und sesshaft-agrarischen Lebensformen (und dem Übergang von Kupfer und Zinn zum Eisen als Gebrauchsmetall) mündet schließlich in die gemeinschaftlich verfassten Personenverbände der Archaischen Epoche (ab dem 8. Jh.). Der transregionalen Migration begrenzter Gruppen (nicht: ‚Stämme‘ im Sinne etwa einer ‚Dorischen Wanderung‘) entspricht die Ausbildung unterschiedlicher Dialekte eines früheren Griechisch sowie die adaptierende Übernahme der phönikischen zu einer griechischen Alphabetschrift. Bei aller Vielfalt lokaler Ausprägungen unter dem gemeinsamen Dach von Sprache, Schrift und sozio-kulturellen Praktiken, aber auch von Selbstdeutungen im Mythos – literarisiert im Epos – sprechen Texte ab dem 7. Jh. von ‚Hellenen‘. Demgegenüber werden im Forschungsband die Archaik als Epoche in Frage gestellt und chronologisch-lineare Narrative zugunsten kultureller Sachfelder dekonstruiert. In solche gliedert sich sodann auch die Darstellung: so der Oíkos als ordnungspolitischer Baustein eines sich ab 600 institutionalisierenden Gemeindekollektivs; Handelsnetze und Marktorientierung als ökonomischer Rahmen für Migration und Expansion; Schichtungen innerhalb der Pólis als soziale Distinktionen (Solon um 580 in Athen) zwischen aristokratischen Híppeis, bäuerlichen Zeugiten und besitzlosen Theten (darunter unfreie Schuldknechte und Sklaven). Der Polis in ihren Spielarten als Tyrannis, Oligarchie oder Demokratie (Syrakus, Sparta, Athen) stehen alternative Organisationsformen wie das Éthnos (Phoker), der Bundesstaat (Boiotien, Arkadien, Thessalien) oder kultisch zentralisierte Amphiktyonien (Delphi, Paniṓnion) gegenüber; zum Anderen und ohne eigene Staatsqualität hegemonial begründete Kampfbündnisse (Symmachien), so der Peloponnesische Bund (ab Mitte des 6. Jh.), der Attische Seebund (nach Salamis 480) oder (unter Philipp II. 337) der Korinthische Bund. Parallel dazu hier wie im Folgenden Forschungsbericht(e) in Bd. 2 aus Sicht des aktuellen historischen Diskurses.

Gestaltungsräume für Hellenische Geschichte sind Großregionen: für die Magna Graecia (Unteritalien und Sizilien), den „Mittleren Westen der griechischen Welt“ (S. 91), stehen Syrakus und Massilia. Das Mutterland (mit Delphi als religiösem Bezugspunkt) entwickelt im Athen des Kleisthenes und Perikles, in Sparta von Kleomenes I. bis Agesilaos II. (520-359) und während Thebens Dekade zwischen Leuktra und Mantíneia unter Epameinondas († 362) seine politisch-militärischen Triebkräfte. Korinth am Isthmos hat sich als Drehscheibe für Handel wie für Siedlungsbewegungen (insbes. gen Westen) zwischen wechselnden Ambitionen expansiver Mächte zu behaupten, während im Süden Kreta als Umschlagplatz in den Nahen Osten und Nordafrika von Beginn an eine relative Selbständigkeit und nach innen gerichtete Eigenentwicklung wahrt. Ein Netzwerk namhafter Poleis des Ostens, die im Rahmen mutterländischer Kolonisation seit ca. 1000 v. Chr. an der Küste Kleinasiens gegründet werden, repräsentiert Milet, Hafenstadt am Mäander und Knotenpunkt maritimer Verkehrsrouten: über das ionische „Venedig“ (S. 92) laufen die Wirtschaftsbeziehungen von Ägypten und der Levante durch den Bosporus bis zu den Apoikíen rund um das Schwarze Meer. Die mediterrane Weltbühne bestimmen griechische Poleis noch mit der gemeinsamen Abwehr einer Aggression aus dem Osten in den Perserkriegen, bevor sie sich in den innergriechischen Konflikten des Peloponnesischen Krieges und seiner nachfolgenden Parteiungen selbst ‚zerlegen‘ und nach dem Korinthischen Krieg einem wiedererstarkten Persien im allgemeinen ‚Königsfrieden‘ von 386 fügen müssen. Die Ausbreitung des Makedonenreiches seit etwa 350 unter Philipp II. führt die noch einmal auf Initiative Athens vereinten Griechenstädte in die Niederlage bei Chaironeía (338). Mit dem Zug seines Sohnes Alexander seit 334 gegen das Persische Großreich (Granikos, Issos, Gaugamela) – auch er ‚im Auftrag‘ des Korinthischen Bundes zur Sühnung der einstigen Verwüstungen an den Heiligtümern Griechenlands – sowie nach Ägypten und Indien und einem „letzten Aufbäumen“ griechischer Poleis im Lamischen Krieg unter Hypereides und Demosthenes († 322) schließt auch der hier skizzierte historische Abriss.

Mithin bieten Darstellungs- wie Forschungsteil – gemäß der Zielsetzung der gesamten Reihe – den angekündigten struktur- und grundlagenorientierten Epochenüberblick. In durchweg anregendem Sprachduktus wird hier ein kompakter, gleichwohl für Studierende wie Lehrende jederzeit gut verständlicher und angenehm lesbarer Zugriff auf den unterschiedlichen Werdegang griechischer Gesellschaften von der Bronze- und Palastzeit bis zu ihrer Neuausrichtung unter makedonischer Hegemonie vorgenommen.

Michael P. Schmude,  Lahnstein

Zu-KWWeeber-Couchsurfing-im-Alten-Rom

Zu-KWWeeber-Couchsurfing-im-Alten-Rom

Weeber, K.-W.: Couchsurfing im Alten Rom – Zu Besuch bei Wagenlenkern, Philosophen, Tänzerinnen u.v.a. Darmstadt (WBG Theiss 2022). 232 S., € 22 (ISBN 978-3-8062-4418-2).

aus: FORUM CLASSICUM 65 (2022), S. 281-283.

Ein Gesprächsband – analog in Zeiten der Pandemie, Begegnungen mit fiktiven, literarischen und historischen Gestalten aus dem Alltagsleben des Alten Rom (Halbwelt inclusive), quellengestützt, gelehrt und gleichwohl unterhaltsam – wie man es bei diesem Autor (W.) auch nicht anders erwartet, der zuletzt aus den Graffiti des antiken Pompeji einen Spiegel des ‚normalen‘ Lebens einer antiken Mittelstadt geformt hatte (→ FC 63 [2020], S. 180 f.).

Die Rahmenhandlung besteht in der originellen Idee, anhand einer – lose miteinander verknüpften (u.a. S. 92, 106, 165) – Serie von Gesprächen vor Ort, eingebettet in die Ich-Erzählung einer Reise aus der fernen Barbarik ins Zentrum der damaligen Oikuménē, Einblicke in unterschiedliche Facetten der römischen Gesellschaft zu vermitteln: Stimmungsbilder aus der Welt der ‚kleinen‘ und nicht (mehr) ganz so kleinen Leute, von (auf den ersten Blick) mitunter auch ‚schrägen‘, skurrilen Vertretern (samt Außenseitern) einiger für jede Metropole markanter Berufsgruppen – ihre Sorgen und Träume, Umstände und Bedürfnisse, Leitlinien und Ziele derer, die es ‚geschafft‘ haben, wie derer, die im wiederkehrenden Überlebenskampf mit den Zumutungen eines Molochs stehen – welcher Rom damals schon war. Nicht zuletzt zeigen sich die Damen dort auf ihren gesellschaftlichen Ebenen und auf ihre je eigene, bemerkenswerte Weise als ausgesprochen selbstbewusst, ebenbürtig und lebensbewältigend.

Die jeweils unter ein Motto gestellten Geschichten und Dialoge im Einzelnen gliedern und entwickeln sich aus drei Blickwinkeln: als ‚Germane in Rom‘ zur Zeit des Kaisers Nero läuft unser Autor zunächst beim garum-König von Pompeji auf dem Aventin ein; die – erweiterte – Gastronomie ist durch eine Fast-Food-Wirtin sowie die Mutter einer als locus amoenus ein- und priapeisch ausgerichteten Taverne vertreten, und auch ein Wagenlenker repräsentiert die Unterhaltungsbranche. Der bürgerlichen Welt entstammen ein Lagerverwalter und der Ururenkel von Horazens legendärem Schulmeister. Im zweiten Teil aus dem Umland und als Pendant zur Großstadt – das römische Ämtersystem klingt von ferne an – gesellen sich zum Lager- die Gutsverwalterin, zum garum-Fabrikanten ein Kleinbauer, zum Wagenlenker der Gladiator (samt weiblichem Fan), zur copa tabernalis Trimalchio, König der Freigelassenen (und Selbstdarsteller wie „viele“ im damaligen Germanien ?? – zeitgenössische mallorquinische Parallelen böten sich eher). Naturgemäß fällt in dieser auch deutlich kürzeren Mittelpartie der Spannungsbogen, dem ‚kleinerformatigen‘ Personal entsprechend, etwas ab, aber die Kurve steigt mit der Rückkehr nach Rom wieder an: teils gegensätzliche Bereiche von Körperpflege und Wellness (das Allheilmittel von Neros kretischem Leibarzt und die Klagen einer rechtlosen Kosmetikerin; der soziale Kosmos in der Latrine) oder im erweiterten Rahmen des Showbusiness (Bestattungsmanager und Tänzerinnen-WG in der Subura, Comedian als Sozialaufsteiger oder Edel-Escort in Säulenhallen) ergänzen und runden den ersten Durchgang ab und gipfeln im Gespräch mit dem obersten Staatslehrer der Zeit, dem Stoiker Seneca.

Realienkundliches mischt sich in reichem Maße mit glaubhaft entwickeltem Atmosphärischen und fein beobachtetem Lokalkolorit; kommentierende Beschreibungen zudem von Stimmung, Personal und Ambiente (etwa die Beschreibung eines Parks an einer villa rustica S. 117), aber auch zunächst überraschende Tranfers in modern life (so u.a. opinion leaders S. 15, systemrelevante Berufe, Ultras und Hatespeech S. 31 f. / 219, Speisen to go S. 50, Take-away-Snacks S. 54, Smogglocke S. 80, Stoiker-Softie S. 89, Typberaterin S. 149) werden durchweg getragen von einem heiter bis ironischen und verständnisvoll-empathischen Begleitton. Überhaupt sind in den fein gezeichneten Situationsbildern Gegenwartsbezüge durchweg gesucht, hallen Nachklänge unüberhörbar in die Jetzt-Zeit herüber – vom touristischen Umgang mit lokalem Geschirr bis hin zur Genderfrage (samt generischer Antwort S. 51) und einem Kneipengespräch (S. 53-55), welches inhaltlich wie habituell in jede Moderne passte, der Sorge um Verschwörungstheoretiker (– am Hofe S. 57) oder aber der Umgehung des Tagesfahrverbotes in der City sowie zu Pflasterstand und Spurrillen auf der Via Flaminia (S. 81).

So erhält der/die (noch) Uneingeweihte ebenso absichtsvoll wie beiläufig Auskunft über Entstehungsprozesse (jenseits wenig schmeichelhafter Vorurteile) und Herkunftsregionen der omnipräsenten Würze eines angemessenen convivium, wird Zeuge, dass auch ein veritabler Provinz-Fürst und Werbeprofi in den gehobenen Kreisen der Hauptstadt wieder als homo novus anfängt. Er erhält Einblicke in den ‚Bauch der Stadt‘ (S. 20), das Emporium am aventin-seitigen Tiberufer, in Abläufe, Hafenlogistik und Speicherhallen, von wo aus für Millionen Einwohner der alltägliche Lebensbedarf jeglicher Art gestillt wird – über Nahrungsmittel und Gebrauchsgegenstände bis zu Baumaterialien. Er erlebt die Welt des gnadenlosen Fairplay im Circus Maximus, bestimmt von Fluchtafeln, Talentscouts und Rangordnungen auch innerhalb der Rennställe, lernt die Tarifverhandlungen zwischen den ausrichtenden (indes aus eigener Tasche bezahlenden) Beamten und den domini der Blauen, Weißen, Roten und Grünen factio kennen und übernimmt den Blickwinkel des Nachwuchsfahrers – jetzt noch Sklave, bei entsprechenden Erfolgen später Freigelassener – auf der allen gemeinsamen Stallungs- und Trainingsanlage (stabula und trigarium) im Südwesten des Marsfeldes. Nebst einem Schnellimbiss (Spezialität: Kirchererbsenbrei mit Würstchen, samt Rezept S. 54), flexibel ausgerichtet je nach Anspruchs- und Einkommensniveau der Laufkundschaft, mit Filialen und ambulantem Vertrieb, vernimmt er, nicht unvorbereitet aufgrund einschlägiger Graffiti bereits in Pompeji (s.o.), die fürsorglichen Angebote horizontaler Gastronomie einer salax taberna, erzähltechnisch geschickt verklammert und in ‚der Sache‘ vermittelt durch die copa des zuvor besuchten cenaculum. Naturgetreue Szenen (illegalen) Glückspiels fehlen ebensowenig wie Beobachtungen zur sozialen Schichtung in derartigen loci inhonesti und kontrastieren wirkungsvoll zur Lebenswelt einer traditionsreichen Familie von magistri und grammatici → Hor. ep. II 1, 71: Unterrichtsbesuch (privatim und in der Portikus) samt pädagogischem Diskurs gehören zum Pflichtprogramm, und auch hier bleibt die soziale Frage nicht ausgeklammert (S. 70 f.). Wir erleben eine plastische Beschreibung der Doppelmoral im Umfeld der Vestalinnen-Schwesternschaft (S. 156 f.), einen Graffiti-Künstler bei der Arbeit (S. 198 f.) und einen durchaus ironisch-selbstkritischen (S. 218 ff.) Starphilosophen (und Lehrer Neros), der mit seinen Betrachtungen zu Wutbürgern und ‚Umweltverbrauch‘ im Zuge der ‚Globalisierung‘ der römischen Welt einen weitgespannten Reigen in unsere Tagesaktualität hinein abschließt.

Bei allem Bemühen um lebensnahe und nicht zuletzt auch unterhaltsame Situationen, in Gesprächen mit Stimmungsmesser/innen aus ganz verschiedenen Kreisen der ‚normalen‘ Bevölkerung eines antiken Schmelztiegels, mit stetigen Anknüpfungen an moderne Entsprechungen, die er gleichsam ins Heute übersetzt, bietet unser kommunikationsfreudiger ‚Alltags-Kulturtourist‘ ein Füllhorn ‚so nebenbei‘ vermittelten Sachwissens, auf der Couch oder vor Ort – der Begriff bleibt großzügig gefasst. Jedenfalls stellt W. am Ende konsequent mit einem Verzeichnis, welches en detail alle inschriftlichen wie literarischen Quellen und Zeugnisse zu dramatis personae, zu Gegebenheiten wie Hintergründen enthält, sein fabulierendes ‚Histotainment‘ auf eine verlässliche Basis und gibt solchermaßen ein breitgefächertes wie gehaltvolles Panoptikum aus dem bunten Treiben des antiken caput mundi.

Michael P. Schmude,  Lahnstein

Zu-KWWeeber-Botschaften-aus-dem-Alten-Rom

Zu-KWWeeber-Botschaften-aus-dem-Alten-Rom

Karl-Wilhelm Weeber: Botschaften aus dem Alten Rom – Die besten Graffiti der Antike, Freiburg i. Br. (Herder) 2019. 192 S., € 10,- (ISBN 978-3-451-06827-0).

aus: FORUM CLASSICUM 63 (2020), S. 180 f.

Schriftzeichen und Bildchen, Figürliches und Kritzeleien auf öffentlichen Flächen, Echo aus den Gassen und Winkeln antiker Städte, so haltbar wie der Putz an den Wänden, in welche sie eingeritzt waren, thematisch vielgestaltig und trivial, Eingebungen des Zufalls oder des Übermutes, Vorgänger heutiger Streetart etwa aus Spraydosen: jedenfalls auch eine Textsorte, wenngleich ‚verborgen‘, spontane Stimmen des bunten Treibens der ‚kleinen Leute‘ auf der Straße, stets mit unmittelbarem Lebensbezug und so aktuell wie dieser, Streit in der Nachbarschaft und schulisches Leid, gelebte Liebe und Fanpost, Wahlkampf und Beschimpfung – Momentaufnahmen aus einem römischen Alltag, festgehalten im Ascheregen des Vesuvausbruches 79, ausgewählt und zusammengestellt von K.W. Weeber (W.) aus der umfassenden Sammlung im Rahmen von Band 4 (1871 ff.) des Corpus Inscriptionum Latinarum und damit in einer handlichen Ausgabe von Neuem ins Licht einer Öffentlichkeit gebracht, welcher sie entstammten und wo sie ursprünglich ihren ‚Sitz im Leben‘ genommen hatten. Prominent seit 1857 immerhin das blasphemische Spottgraffito von einer Hauswand auf dem Palatin in Rom (wohl um 200) über den Christen Alexamenos, der einen gekreuzigten Esel anbetet. Auch in Griechenstädten der Zeit fanden Tagesbefindlichkeiten in dieser Form ihren Niederschlag.

Dass sich Graffiti aus Rom selbst in geringerer Zahl erhalten haben, liegt weniger an einem minder prallen Alltagsleben in der Metropole als an der konservierenden Wirkung der Vulkanasche über Pompeji: die übliche Verfallszeit solcher Hinterlassenschaften von Augenblicks- und Freizeitlaunen war allerorts an die Haltbarkeit bröckelnden Wandputzes gebunden (S. 9). Keine Örtlichkeit war gegen Graffiti gefeit – Martial (XII 61, 8-10) und der jüngere Plinius (Ep. VIII 8, 7) berichten amüsiert –, indes durchaus dezenter: fein geritzt, nicht lauthals gesprüht, diskret, nicht unübersehbar wie heutige Spraygraffiti. Das Lateinische kennt hierfür keinen anderen Terminus als scribere, der Begriff kommt vom italienischen Verb (s)graffiare, kratzen. Was Pompeji von Rom unterscheidet, ist die geringe Zahl von Politgraffiti (für die Hauptstadt dagegen Sueton, Nero 45, 2). Allerdings finden sich auch hier unter der Asche die breiter gemalten Pinselstriche der Dipinti (Gemälde), deren gut wahrnehmbare Lettern Wahlaufrufe und allgemeine Verlautbarungen an die breite Öffentlichkeit enthalten (Auftragsarbeiten mit ‚Firmenlogo‘, vergleichbar modernen Reklametafeln oder Wahlplakaten) und die sich gerade darin von der reichlich ‚individuellen‘ Kursivschrift („Sauklaue“ S. 14, zumal ohne Interpunktion) der geritzten, privaten Graffiti abheben. Mithin vereinigt W.s unterhaltsame und handliche Sammlung (aus insgesamt etwa 5600) rund 600 Graffiti und 150 Dipinti mit ihren teils persönlichen, teils eher publikumsorientierten Botschaften – inhaltlich verteilen sie sich auf mehrere Themenkreise, besonders ergiebig ‚Amor & Eros‘, ‚Gladiatoren und Arena‘‚ ‚Wahlkampf‘ oder schlicht ‚Persönliches‘. Das älteste stammt aus d. J. 78 v. Chr.

Auffällig, aber den gesellschaftlichen Konventionen der Zeit entsprechend, die Zurückhaltung von Frauen beim Schreiben (anders: als Objekte) von Graffiti. Gerne genutzt wurden die ‚interaktiven‘ Möglichkeiten dieser Kommunikationsform in Kommentar und Dialog und noch viel lieber die Wand als Nachrichtenbörse für Familiäres wie als Pranger für Zeitgenossen – eine Vorstufe moderner ‚sozialer‘ Netzwerke (S. 73). Und die Hobbydichterlesung der etwas anderen, amourösen Art, literarisch weniger kunstvoll, dafür in ihrer ungekünstelten Schlichtheit unmittelbar anrührend, lässt die Liebeselegie (Properz, Ovid) im Hintergrund erkennen; für den Hagestolz ins Stammbuch, also an die Wand: Alter amat, alter amatur, ego fastidio – Erwiderung: Qui fastidit, amat (S. 31). Deutlich derber erotische Obszönitäten, Preislisten und Qualitätshinweise zu Dienstleistungen in Bordell oder Kneipe. Reminiszenzen an die Schulzeit führen zu Alphabetkritzeleien (S. 186 f.) und literarisierenden Graffiti (Vergil). Kritzeleien (nicht zuletzt von schwärmenden Damen) und professionelle Dipinti im Umfeld des Amphitheaters, berühmt durch eine Massenschlägerei 59 unter den Fans aus den umliegenden Vesuvstädten (Tac. Ann. XIV 17), zeichnen (!) Ausrichter und ihre Kämpfer sowie deren weitergehende Heldentaten. Grüße und epigraphische Selfies (der anteilsmäßig größte Bestand), Notizen aus der Wirtschaft (‚Einkaufskörbe‘, Zinsen), Nugae und Latrinenphilosophie spiegeln Allzumenschliches. Politparolen, berufsgruppen- und frauengestützt, Nahaufnahmen kommunalpolitischen Lebens in Pompeji (S. 121 ff.) – und in Rom: W. nach Ps.(?)-Cic., Commentariolum petitionis, S. 171-178.

In einer launigen, flüssig lesbaren Gesamteinführung ist von besonderem Nutzen die Aufstellung pompeianischer Graffiti in Zahlen (S. 10 f.): man erhält prozentualen Aufschluss über Personennamen, Inhalte, Dichterverse, nicht zuletzt Graffiti in griechischer Sprache (ca. 150). Danach gliedert W. sein Material in 23 weitere Unterkapitel, deren jedes eine Mottoüberschrift trägt – ‚Süß ist die Liebe für unsere Seele‘, ‚Der Netzkämpfer Crescens: Arzt der nächtlichen Puppen‘, ‚In Pompeji ist es schwierig … Wahlkampf ohne Politikverdrossenheit‘ u.a.m.  – und mit einer Einleitung versehen ist, welche die Anbindung an literarische Kunst oder zeitgenössische Politik sucht, aber auch den nahen und ungebrochenen Bezug zur Alltagswelt unserer Tage herstellt. Die Aufschriften werden in loser Folge und verschieden an Zahl (durchnummeriert und damit auch als W. ‚zitierfähig‘; die Nummern aus CIL IV stehen jeweils rechts neben dem Text) nach dem lateinischen Wortlaut übersetzt (Beides ergänzt), mitunter sachlich, ‚textkritisch‘, metrisch oder als Dichterzitat knapp erläutert (S. 19; 28 f. et al.) und häufig, den Abbildungen in CIL folgend, im originalen Schriftzug samt ein- oder beigefügter Bild’karikaturen‘ (S. 80; 90-93; 101) geboten, so dass ein authentischer Eindruck dieser Text- und Kleinkunstform entstehen kann.

Die Beschäftigung mit einer solchen Textsorte lohnt alleine schon die Freude an der detektivischen Suche im Kleinen, am „Knacken des Verpackungs- und Inhaltscodes lateinischer Graffiti“ – darin hat W. ebenso ‚einfach‘ Recht wie in der Erwartung, dass neben ihrem unbestreitbaren alltagshistorischen Quellenwert solche Intermezzi eine motivierende und bereichernde Ergänzung für jeden Unterricht darstellen können.

Michael P. Schmude,  Lahnstein