Zu-F-Maier-Meisterwerke-der lateinischen-Literatur

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Friedrich Maier: Meisterwerke der lateinischen Literatur – Beiträge zur Praxis der Mittelstufenlektüre, Bamberg (C.C. Buchner-Verlag) 2010. 269 S., € 28,– (ISBN 978-3-7661-5658-7).

Mittelstufenlektüre ist seit geraumer Zeit ein viel diskutiertes Problemkind der sich an den Spracherwerb anschließenden Phase des Lateinunterrichtes. Auch Fr. Maier (M.) hat sich mit kritischen Beiträgen (stellvertretend: ForClass 45 [2002], 175-185; 48 [2005], 252; Mittbl. DAV-NRW 58,1 [2010], 9 f.) an diesem „Dilemma der Mittelstufe“ beteiligt und mit seinem Lesebuch <Pegasus – Gestalten Europas> (Bamberg 2002 ff., Lehrerkommentar 2005 ff.) einen Weg zur Lösung des „Mittelstufenproblems“ gewiesen. Im Unterschied zu dieser Sammlung von Originaltexten (mit Begleitmaterial) zu Wegbereitern wie Grundfragen des modernen Europa von der Antike bis zum Humanismus liegt der Schwerpunkt des anzuzeigenden Werkes auf Lektürevorschlägen (Texte und Materialien), Interpretationsmodellen (mit Sachinformationen, didaktischen Hinweisen, Aufgabenstellungen und Aufträgen für die selbständige Arbeit), Unterrichtsprojekten und fachübergreifenden Modulkonzepten zu den (auch im Unterricht seit jeher) klassischen Basisautoren Nepos, Cäsar, Cicero, Sallust, Ovid, Catull und Martial mit ihren “literarischen Meisterwerken“. Dabei geht M. von der Tendenz aus, daß das weit überwiegende Gros der Schülerschaft das Fach Latein und somit auch die Latein-Lektüre zum Ende der Mittelstufe abschließt (6); dies erfährt der Rez. freilich anders.

Die Einleitung ‘klopft‘ die Lehrpläne der Bundesländer auf die im Kern angestrebten Bildungsziele (9 f.) ab und findet übereinstimmend zwei Bereiche: das kulturelle Gedächtnis Europas sowie die freie, wertebewußte und weltoffene Entfaltung der Persönlichkeit. Kontrast zwischen Antike – als dem “nächsten Fremden“ (U. Hölscher) – und Gegenwart zum Einen, Kontinuität einer über die Jahrhunderte gewachsenen Kulturtradition zum Anderen ergänzen sich im Leitmotiv ‘Modell‘, welches nicht mehr im Sinne von ’nachahmenswertem Vorbild oder Beispiel‘ (11), sondern als ‘Anschauungsmuster oder Denkmodell‘ verstanden wird. Die zugrundeliegende Bildungsidee ist die humanistische – im Doppelsinne der humanitas Ciceros als ‘Bildung und (Mit-)Menschlichkeit‘: ihre Verwirklichung kennzeichnete für diesen den höher, den philosophisch gebildeten Menschen, sie stellt heute programmatisch das Anliegen des humanistischen Gymnasiums und des Faches Latein (wie Griechisch) dar.

Aus den o.g. Bildungszielen werden in einer Art ‘Kerncurriculum‘ der Klassenstufen 9 und 10 für die einzelnen Autoren Interpretationsvorgaben abgeleitet (13): so für Cornelius Nepos “Dramatische Lebensschicksale großer historischer Gestalten – Wendepunkte der Weltgeschichte (z.B. Themistokles, Thrasybulos, Hannibal)“, für Sallust “Gesellschaftliche Mißstände: Kluft zwischen Arm und Reich – moralischer Verfall; Staatskrise durch Putschversuch Catilinas. Die Rolle von Frauen in der Politik“. Für Catull hingegen “Liebe und Leidenschaft. Das Leiden des liebenden Künstlers“, und für die Epigramme Martials die “Gesellschaftskritik. Invektiven gegen menschliche Schwächen“. Der Zugang zu den Autoren – als Beispiel sei hier Caesar genommen – erfolgt über eine Gesamtschau der Persönlichkeit in ihren Facetten, ihrem Lebensprogramm und ihrer Leistung für das Werden Europas. Nach Stimmen zum Autor (hier: Catull, Sueton) entlarven die empfohlenen Textpassagen zu seinem Agieren im Keltischen wie im Bürgerkrieg mit Pompeius Magnus den Machtmenschen im lebenslangen Wetteifer mit dem großen Idol Alexander. Die Sprachhaltung in der Selbstdarstellung, besonders den benannten Reden der Commentarii, die Spannung zwischen stilistischer Rationalität und emotionaler Tiefenwirkung (“mentale Symbole“) erweisen – unter Einbezug moderner Kommunikationspsychologie ebenso wie der antiken Theorie der Rhetorik (60-63) – den Psychagogen, nicht zuletzt auch im Umgang mit seinem ebenbürtigen Gegenbild, dem “ersten Freiheitskämpfer Europas“ Vercingetorix (78-98). M.s didaktische Folgerung, in Sprach- wie Textreflexion die jugendlichen Leser unserer Tage zu Caesars Erzählstrategie und seiner manipulativen Sprachführung hinzuleiten (76 f.; Critognatusrede 83-94), entspricht den Anliegen der Lehrpläne bundesweit und bereitet zugleich auf den Vollender rhetorischer Taktik in Diensten der/seiner Politik (hier: gegen Verres) M. Tullius Cicero vor. Ihn zeigt M. gleichwohl zum Anderen (115-125) Ad Quintum fratrem (epist. I 1) und vor der Disputation von Valladolid (1550) zwischen J. G. de Sepúleveda und B. de Las Casas als frühesten Lehrer allgemeiner Menschenwürde. Textstellen zur “Entschlüsselung des Welt-Codes“ in der ionischen Naturspekulation, zur Entdeckung des moralischen Bewußtseins für das eigene wie staatliche Zusammenleben in der Sokratischen Wende münden mit den Glücksmodellen der hellenistischen Philosophenschulen in die unverändert aktuelle und fundamentalste Frage nach dem (individuellen – W. Jens) ’Sinn des Lebens‘ junger Menschen auch im 21. Jh. (152) – ansprechbar gewiß am Ende der Klasse 10, sprachlich zu bewältigen und gedanklich weiter zu vertiefen für den Rez. aber eher im Verlauf der Oberstufe, und dieser leise Vorbehalt gegenüber M.s doch recht optimistischer Erwartung des sprachlichen wie inhaltlichen Standes schülerseitig zum Ausgang der Mittelstufe gilt auch für das Folgende.

Ovids “Blick in die Seele des Menschen“: Triebstrukturen und Leidenschaften großer Gestalten – Prokne und Philomela (Liebeswahn), Philemon und Baukis (Liebeslohn), die Lykischen Bauern (Boshaftigkeit), Dädalus und Ikarus (Wider die natürlichen Grenzen) – , ihre Schicksale im Spiegel des Mythos und seiner Rezeption, kurz: europäische Symbolfiguren (wie Orpheus und Eurydike) und ihr “Sitz im Mythos“ ebenso wie als Psychogramm des leibhaftig gegenwärtigen Zeitgenossen leiten die Sammlung aus den Metamorphosen (179-210). Das “kunstvolle Spiel mit dem Urtrieb des Menschen“ in Ovids Liebeslehre wird mit einem zyklisch aufgebauten und in Einzelthemen strukturierten Arrangement aus der Ars amatoria aufgefangen (213 f.): Auf dem Forum lauert die Venus – Treffpunkt Circus – Die Kunst der Eroberung – Liebe ist Kriegsdienst – Liebe ist Lust für Beide u.a. Durch die Jahrhunderte von den Disticha Catonis (3. Jh.) über die Carmina Burana und Petrarca (1356) bis ins 20. Jh. kontrovers rezipiert, stehe die vom modernen anthropologischen Standpunkt aus ernstzunehmende “Erotodidaktik“ (N. Holzberg) des tenerorum lusor amorum der 16- bis 18jährigen Jugend auf ihrem Weg der Persönlichkeitsentwicklung und Identitätsfindung (B. Boberg) durchaus nahe und stoße bei der Schülerschaft – auf Gegenliebe (223).

Jeder der von M. versammelten Autoren kann für sich in Anspruch nehmen, einem Kanon der Mittelstufenlektüre anzugehören. Die griffige Einordnung ihrer Schriften als “Meisterwerke“ wird im Zweifelsfalle für einen Nepos oder Sallust anders zu begründen sein als für Cicero oder Catull. Der Bogen für das “kulturelle Gedächtnis“(s.o.) ist hier sicher enger gefaßt als in der fons uberrima <Pegasus>. Gleichwohl wird im Reigen der ausgewählten Textvorschläge eine aktuelle, fachübergreifend (Paulus, Goethe und v. Ranke; Gluck und Orff; Th. Wilder, N. Luhmann u.a.) wie didaktisch verläßliche Interpretationsgrundlage geboten, welche flüssig und verständlich geschrieben durch eine dem Heute entnommene Begrifflichkeit (“Freiheitskämpfer, Staranwalt, Welt-Code“ u.a.) und den steten Blick auf den gemeinsamen Horizont Europa auch eine breitere und jugendliche Leserschaft zur Beschäftigung mit den maßgeblichen Schulautoren (des ersten Lektüreganges) zu motivieren in der Lage ist.

Michael P. Schmude

in: SCRINIUM 56, 1–2 (2011), S. 30-33.

Latein-fuer-das-21-Jahrhundert

Latein-für-das-21-Jahrhundert

Latein für das 21. Jahrhundert –

Grundlagenfach eines europäischen Gymnasiums

 

Unter zwei Vorzeichen mag man sich die Frage stellen, warum Latein als erste Fremdsprache gewählt wird: Latein ist zum einen (unbestritten) die Basissprache Europas – dazu später –, gleichwohl begegnet man zum anderen immer wieder dem Einwand, was man denn damit anfange, was man davon habe, wofür man das gebrauchen könne, was es Einem denn nütze, eine – angeblich – ‚tote‘ Sprache zu lernen.

Einmal abgesehen von der überaus lebendigen Wiedergeburt, die das Lateinische erlebt, sobald man in eine andere europäische Fremdsprache hineinhört, wird hier zunächst ein Blick in Nachbarfächer helfen: Differentialrechnung, Kurvendiskussion oder Vektoren – welche berufliche Nutzanwendung beschert beispielsweise die Mathematik, welchen konkreten, zählbaren Gewinn bringt das – unverzichtbare – Abiturwissen in diesem Fach ? Und stellt sich für viele Themen in weiteren Schulfächern wie Erdkunde, Biologie oder Geschichte, ohne die eine Allgemeine Bildung eben keine mehr wäre, die gleiche Frage nicht ebenso ? Was ‚bringt es‘, die klimatischen Verhältnisse am Äquator, Fauna und Flora der westsibirischen Taiga oder aber die Revolution in Deutschland von 1848 kennengelernt zu haben ?

Geht es nicht vielmehr darum, welche sehr wohl erwünschten Auswirkungen und Veränderungen die Beschäftigung mit einem Schulfach in unseren Köpfen, unserer Gedankenwelt erzielt, ‚angerichtet‘ hat, in welcher Weise sie uns geformt, geschult – gebildet hat ? Greifen wir nicht in späteren Jahren wie selbstverständlich auf Denkanlagen und -modelle zurück, für die wir sehr dankbar sind, daß wir über sie verfügen, ohne uns noch bewusst zu sein, wo wir sie vermittelt bekamen – logisches Denken und systematisches Strukturieren – notwendig und wertvoll für jede berufliche Tätigkeit, über-fachliche Fähigkeiten (nicht nur, aber doch in erheblichem Maße) aus dem Latein- und dem Mathematikunterricht am Gymnasium.

Ganz anders als bei den Neuen Sprachen, deren Gebrauchswert man mühelos, in wenigen Sätzen auf jedem Plakat griffig propagieren kann (und doch gar nicht muss, da er außerhalb jeder Frage steht), liegt der ‚Nutzen‘ des Lateinischen nicht von vornherein und so vordergründig auf der Hand: er tut sich erst demjenigen auf, welche/r sich (und immer auch erst, nachdem sie/er sich) darauf eingelassen hat.

Daß Latein freilich ’schwerer‘ sei als andere Sprachen, gehört in den Bereich der Sage: jede Spracherlernung stellt auf ihre Weise Anforderungen, Vokabeln und unregelmäßige Verben gehören nun einmal dazu wie mathematische Regeln oder Formeln in Physik und Chemie (– vor einer Schwierigkeit nicht gleich davonzulaufen, sondern sich einer Anforderung auch einmal zu stellen und ‚durchzubeißen‘, ist im Übrigen nicht das schlechteste Erziehungsziel). Der Unterschied liegt vielmehr darin, daß der klare, durchstrukturierte Aufbau der lateinischen Sprache ein stufenweises und systematisch-analytisches Erlernen möglich macht mit dem Ziel darauffolgenden Literaturunterrichtes, während in den Neuen Sprachen ein unmittelbarer, unreflektierter Zugriff auf die Kommunikationsfähigkeit, ein ‚Parlieren‘ angestrebt wird – dabei ist es eigentlich müßig, darauf hinzuweisen, daß in allen Unterrichtsfächern die gesetzten Ziele in durchaus unterschiedlichem Maße auch erreicht werden.

 

I . Latein als Muttersprache Europas – Basisvokabular und Modellgrammatik

 

Bekanntlich haben sich die heute gesprochenen, Neuen Sprachen Mittel-und Südeuropas aus dem umgangssprachlichen Alltagslatein des 5. und 6. Jahrhunderts herausgebildet, sind im eigentlichen Sinne regionale, später nationale Dialekte des spätantiken Vulgärlateins. Neben dem Vokabular, welches in den romanischen Sprachen Italienisch, Spanisch, Portugiesisch, Französisch, Rumänisch zu über achtzig Prozent, im Englischen zu zwei Dritteln aus dem Lateinischen stammt, sind auch die einzelnen Grammatiken Lateinische geblieben; nicht zuletzt unsere eigene, deutsche Grammatik lässt sich von der lateinischen her erst recht erschließen. Der umfangreiche Bestand an Fremd- und Lehnwörtern im Deutschen allgemein, in den einzelnen Fachsprachen insbesondere, sowie an naturwissenschaftlich-medizinisch-technischem Vokabular (Computer – Informatik – Processor u.a.m.) ist direkt oder indirekt ein Lateinischer.

Man kann das lateinische System als klarstes Modell dafür nutzen, aus welchen Elementen Sprache überhaupt besteht, wie sie aufgebaut ist und funktioniert, als sprachlichen Setzkasten, in dessen einzelne Kammern man neben die lateinischen Ausgangsfiguren die jeweiligen deutschen Entsprechungen einordnen wird, sodann diejenigen im Englischen, Französischen, Spanischen … usw. Diese Form grammatikalischer Behandlung eines sprachlichen Systems als Fundament und Ausgangspunkt, als Schlüssel für das Erlernen weiterer, hiervon abgeleiteter Sprachen wird allein im Fach Latein betrieben, während sie im neusprachlichen Unterricht bewusst in den Hintergrund gerückt ist. Man hört häufiger, daß Latein als Sprache stehengeblieben sei, daß hier nichts Neues mehr komme – genau dies macht Latein als allgemeinverbindliches, sprachliches Grundlagenmodell umso tauglicher !

 

II. ‚Logisches Denken‘

 

Latein erzieht von Beginn an zu aufmerksamem Hinsehen und genauer Einordnung des Beobachteten, Grundlagen für jeden analytischen Umgang mit zunächst einmal fremden Texten. Diese Art sorgfältiger Sprachreflexion schult ein Verwenden gesprochener wie geschriebener sprachlicher ‚Bausteine‘, deren einzelne Elemente nach festgelegten Kategorien geordnet und systematisch aufeinander bezogen sind – Grammatik im besten Sinne als Grundlage einer Sprachbetrachtung auch in den Tochtersprachen Europas.

Daß gerade bei der Übersetzung ins Deutsche, die niemals eine wortwörtliche sein kann (und will), stets um den bestmöglichen Ausdruck, eine treffende, den Sinn präzise wiedergebende Wendung ‚gerungen‘ werden muss, führt zu einem deutlichen Mehr an muttersprachlicher Kompetenz, Ausdrucksvielfalt und Sprachgefühl. Eine angemessene Wiedergabe lateinischer Satzbauteile und -konstruktionen, die im Deutschen keine deckungsgleiche Entsprechung haben, trainiert ein hohes Maß an Abstraktions- und Übertragungsfähigkeit (Transfer) beim Auffinden des sinngemäßen Pendants im Deutschen.

Die regelmäßige interpretatorische Arbeit im Lateinunterricht bildet methodisch die Fähigkeit aus zur systematischen Analyse, zu gedanklicher Gliederung, Schlußfolgerung und Darstellung von Texten auch der eigenen, deutschen Literatur. Und damit ist zugleich das Stichwort gegeben, welches zum entscheidenden, freilich erst längerfristig und oftmals indirekt wirksamen ‚Nutzen‘ des Lateinunterrichtes führt – zum Methodenwissen, welches fachunabhängig für einen späteren Hochschulgang zu einer weitaus höheren, allgemeinen Studierfähigkeit führt als jede fachspezifisch erworbene Detailkenntnis in einem naturwissenschaftlichen Leistungskurs.

Latein als Denkschule, als ‚Trimm-Dich-Pfad‘ für die ‚kleinen grauen Zellen‘, als Ausweis von Genauigkeit und Unterscheidungsfähigkeit, von geistiger Beweglichkeit und Durchhaltevermögen ist nicht das schlechteste Zeugnis persönlicher Leistungsbereitschaft für Vorstellungsgespräche gerade bei Unternehmen der freien Wirtschaft: Spezialist wird man in jedem Beruf von allein – und das wissen dort auch die Personalchefs.

 

III. Grundlagenliteratur und -kultur Europas

 

Nicht zuletzt aber ist die lateinische Literatur , zu welcher die lateinische Sprache über das vorher Gesagte hinaus gleichfalls führt, für unsere europäische Literatur stets und nach wie vor prägend geblieben – Horaz für die lyrische, Vergils Aeneis für die epische, Plautus, Terenz und Seneca für die dramatische Dichtung (alle in der Nachfolge und als Vermittler griechischer Originale), in mehreren Prosadisziplinen Cicero: das von den Griechen herkommende System der antiken Rhetorik (in der schriftstellerischen Theorie wie in der politischen Praxis seiner Gerichts- und Staatsreden), die Staatsentwürfe (mit ihren vielfältigen Fragen nach dem Zusammenspiel der gesellschaftlichen Kräfte, nach dem Kreislauf der Verfassungsformen [Monarchie, Aristokratie, Demokratie sowie ihren Entartungen], nach dem Verhältnis von Macht und Recht, dem Konflikt von Ethos und Nutzen, der Verantwortung des Einzelnen gegenüber den Belangen der Allgemeinheit), der Kanon römischer Jurisprudenz, die philosophischen Systeme Epikurs, der Akademie Platons, des aristotelischen Peripatos und der Stoa sollten in einem ersten Schritt in lateinischem Gewand seinen römischen Landsleuten vermittelt werden, stehen durch diese lehr- und schulmeisterliche Großtat aber auch heutiger Betrachtung und kritischer Weiterentwicklung zur Verfügung.

Die Haltung des Stoikers Seneca unter einem tyrannischen Regime, seine Bewertung der Lebenszeit wie seine Haltung zum Tod, Glück und Freiheit des Menschen gegenüber Göttern und Schicksal, die gelassene Souveränität der Individualseele: formuliert werden hier grundlegende Daseinsfragen, welche zeitlos geblieben sind – im Kontrast zu ihrer Zeit und Lebenswelt sehen wir die eigene klarer, in der Auseinandersetzung mit ihren zeitbedingten Antworten finden wir Orientierung auf dem Weg zu eigenen. Im ständigen ‚Sich-Reiben‘ an den Lebensmodellen der 2000 Jahre entfernten und doch so nahegebliebenen Antike erschließen wir uns unabhängig von modischen Trends und Mainstreams und eigenständig gegenüber Parolen und Einflüsterungen eines beliebigen Zeitgeistes das uns je Zuträgliche (– diese kritische Individualität und geistige Souveränität hat die Vertreter der Alten Sprachen und ihrer Literaturen besonders totalitären Menschheitsbeglückern von links bis rechts stets suspekt gemacht).

Die mythologische Welt der Metamorphosen Ovids ist allen Gattungen der Bildenden Kunst ein motivischer Steinbruch gewesen, Geschichtsschreibung (Sallust, Livius, Tacitus) findet bis in die (frühe) Neuzeit in lateinischer Sprache statt, die kaiserzeitliche Architektur Vitruvs bleibt Grundlage für die moderne Baukunst ebenso wie Quintilians Ausbildung des Redners für die Entwicklung der Rhetorik oder der spätantike Codex Iustinianus für das europäische Rechtswesen. Römische Alltagskultur und Öffentlichkeit, privates wie staatliches Leben, in der Antike in alle Teile des Imperium Romanum getragen, geben das Muster für die spätere, gemeinsame europäische Entwicklung vor; diese Linien werden im Lateinunterricht aller Klassenstufen anschaulich gemacht, und entsprechende Sachkapitel begleiten von Beginn an bereits die Spracherlernung.

Nehmen die angesprochenen Themen aus Philosophie, Staatslehre, Wirtschaft, Kultur u.a. in Latein auch breiten Raum ein, so sind sie gleichwohl auf dieses Fach gar nicht zu beschränken: die ganze Vielfalt abendländischen Geisteslebens, dessen antike Grundlagen den Untergang des Römischen Reiches überlebt haben, in der karolingischen Renaissance wie in der des Quattrocento und im Humanismus wiederaufgenommen wurden, wird mit lateinischem Schlüssel fächerverbindend erst wirklich eröffnet.

Dabei ist das Lateinische über das gesamte Mittelalter bis tief in die Neuzeit die Lingua franca der Historiker, der politischen wie philosophischen Literaten, des gesamten grenzüberschreitenden intellektuellen Lebens Europas gewesen (nicht zuletzt der Geschichtswissenschaftler findet seine Originalquellen in dieser Sprache vor, und neusprachliche Übersetzungen – wenn es denn überhaupt solche gibt – können nie mehr als nur ein Notbehelf sein). Dem entspricht, daß zu einem modernen Unterricht auch Texte des lateinischen Mittelalters und darauffolgender Jahrhunderte gehören. Als besonderes ‚Krönchen‘ für Latein als ‚Roten Faden‘ Europas sei schließlich darauf hingewiesen, daß diese – wirklich tote ? – Sprache noch bis tief in unser 2o. Jahrhundert das alle nationalen Sprachbarrieren überwindende Medium an den Universitäten geblieben ist und in der Bewegung der modernen Latinitas viva auf (nur für manch einen) verblüffende Weise den Nachweis erbringt, diese Rolle noch in unseren Tagen mit ungebrochener Vitalität und ciceronischer Eleganz spielen zu können … – kurz:

 

IV. Formale und materiale Bildung

 

Die Frage nach Latein ist letztlich die Frage nach dem Stellenwert, den man einer Allgemeinen Bildung einzuräumen bereit ist vor einer kurzfristig angelegten, sicher nützlichen, aber auch auf anderen als den schulisch-gymnasialen Wegen angebotenen Aus-bildung, welche Gegenstand des berufs- oder auch realschulischen bzw. nach-gymnasialen Bereiches ist und auch bleiben sollte. Dabei habe ich hier die Frage des Latinums für alle sprachlichen wie historischen und philosophischen Studienfächer bis zur Medizin einmal bewusst ausgeklammert.

Wer die Zukunft seiner Lebenswelt angehen möchte, sollte sich über ihre Herkunft und deren Gesetzmäßigkeiten im Klaren sein, um hieraus wiederum Maßstäbe für eigenes Handeln zu gewinnen. Und im Blick auf das – zu Recht, aber oftmals oberflächlich – vielzitierte Europa lässt sich kaum ein Schulfach europäischer anwenden und verstehen als das allgemeinbildende, abendländische Grundlagenfach Latein.

 

Michael P. Schmude

 

aus: Forum Classicum 40 (1997), S. 8-11.

Vgl. auch → www.Ulisseweb.eu – Official Documents of the Perugia Convention 06.26.2006.

auch in: Die Weiterbildungslehrgänge Latein (2005-2011), hg. von K. Sundermann. Mainz 2013 [Impulse 15], S. 17-20.