Archiv der Kategorie: Rezensionen

Zu-F-Montanari-History-of-Ancient-Greek-Literature

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Franco Montanari: History of Ancient Greek Literature – Vol. 1: The Archaic and Classical Ages; Vol. 2: The Hellenistic Age and the Roman Imperial Period. With the collaboration of Fausto Montana. Transl. from the Italian Original by R. Barritt Costa and Orla Mulholland. Berlin / Boston (de Gruyter) 2022. XXIX & 1174 S., € 290,00 (ISBN 978-3-11-041992-4).

aus: FORUM CLASSICUM 66 (2023), S. 160-163.

Das zweibändige Werk, ursprünglich erschienen Roma 1998 (Laterza), in zweiter, erweiterter Auflage 2017 (Edizioni di Storia e Letteratura) umfasst in einer überaus gehaltvollen und auf das Klarste durchstrukturierten Darstellung die Geschichte der griechischen Literatur in ihren Gattungen, Autoren und Erscheinungsformen von Homer bis Synesios von Kyrene. Biographien und Werke werden ebenso wie deren Sitz im literarischen und gesellschaftlichen Leben nach allen Seiten in ihre Epochen eingebettet und errichten ein minutiöses Gesamtbild der griechischen Antike von der Mykenischen Zeit, den Hellenic Middle Ages und der Dorischen Wanderung (‚Rückkehr der Herakliden‘) bis in die römisch dominierte Spätantike.

Die – ausweislich eines 27seitigen Inhaltsverzeichnisses auf ein Maximum an Detail angelegte – Gliederung folgt in kleinsten Schritten der ‚klassischen‘ Ordnung (welche hier bestenfalls summarisch angedeutet werden kann): eine Introduction zeichnet die Perioden der griechischen Sprache und ihrer Phänomene (Dialekte, Koiné), Text- und Überlieferungsgeschichte nach. The Archaic Age teilt sich in Epik, Lyrische Dichtung, Philosophie und Historiographie sowie Fabel. The Classical Age führt die Vorsokratiker fort und über das frühe Drama (Alte Komödie und Aischylos) zur Sophistik und Sokrates sowie zum klassischen (demokratischen) Theater einerseits, zu Epos und Lyrik des 5. und 4. Jh. v. Chr. andererseits. Von der Medizin der Zeit zeugen die Hippokratische Schule, (nach den Logographen) für die Geschichtsschreibung Herodot als father (seit Cic. leg. I 5) und Thukydides als Begründer der politischen Monographie. Die klassische Rhetorik des 5. Jh. (Lysias), die nachthukydideischen Historiker (Xenophon), Redekunst (Isokrates, Demosthenes) und Nachsokratiker (Alte Akademie und Peripatos) des 4. Jh. leiten über zur folgenden Epoche des Hellenistic Age. Hier stehen zunächst die Neue Komödie (Menander) und Tragödie sowie die Alexandrinische und Pergamenische Philologie, Textkritik und Grammatik. Die Dichtung des Hellenismus repräsentieren als Leuchtturm Kallimachos, daneben Apollonios von Rhodos (Epos), Theokrit (Bukolik) und Herondas (Mimiambus), den philosophischen Sektor bestimmen die Schulen der Skepsis (Akademie), Epikurs und die Frühe wie Mittlere Stoa. Es folgen Wissenschaft (Mathematik und Mechanik, Astronomie und Medizin), Rhetorik (Asianismus vs. Attizismus) und Historiographie (Alexander-Historiker, Polybios, Diodorus Siculus) sowie die jüdisch-alexandrinische Literatur (LXX). In The Roman Imperial Period faltet sich die griechische Literatur – auch in Richtung Fachschriftstellerei – weiter auf: Rede- und Stilkritik, professionell nunmehr in Rom, werden vertreten durch Dionys von Halikarnass, den Autor von Perì Hýpsous, Demetrios und Hermogenes von Tarsos, Geschichtsschreibung (nochmals Dionys sowie Cassius Dio oder dann im Übergang zum MA Prokop von Caesarea) und Geographie (Strabon, Cl. Ptolemaios) um die Peri(h)egetik (‚Reiseführer‘ – Pausanias) ergänzt; ein Solitär bleibt Plutarch aus dem boiotischen Chaironeía. Zugleich treten im 1. Jh. und im Umfeld der NTlichen Schriften jüdisch-christliche Autoren (Philo von Alexandria, Flavius Iosephus) auf, während die philosophisch-wissenschaftliche Literatur die Schulentwicklung aus dem Hellenismus fortführt (Plotin und der Neuplatonismus auf der einen, Galen oder Artemidor von Daldis auf der anderen Seite). Die Zweite Sophistik (im Geiste des Attizismus) verbindet einmal mehr Beredsamkeit und Philosophie (Dion von Prusa ‚Chrysostomos‘, Aelian aus dem latinischen Praeneste), und mit Lukian von Samosata erfolgt der Übergang zur narrativ-fabulierenden Novellistik des griechischen Romans (Longos, Heliodor oder die aisopischen Mythiamben des Babrios). Die kaiserzeitlichen Kompendien, alle Bereiche der kommenden Artes liberales betreffend, reichen von den Grammatikern Apollonios Dyskolos und Aelius Herodian (2. Jh.) bis zum Florilegium des Johannes Stobaios im 5. Jh. Ein nochmaliges Wiederaufblühen erlebt die Rhetorik in der ‚Späten Sophistik‘ des 4. Jh., attizistisch orientiert an den klassischen Vorbildern wie Demosthenes und bereits eingegliedert in die Auseinandersetzung zwischen Heiden- und Christentum nach der Konstantinischen Wende (Libanios von Antiochia). Einen Niedergang hingegen verzeichnet die Dichtung; im Bemühen, überlieferte Muster neu zu beleben, heben sich unter ihren Gattungen Epigramm und Epos hervor, letzteres insbesondere in Form des narrativen (Nonnos, Musaios) und Lehrgedichts, desgleichen orakelnde Hexameter der Sibyllen und spirituelle Hymnen aus dem Umfeld der Mysterienkulte (Orphiká). Zweigeteilt ist das letzte Kapitel über die griechisch-christliche Literatur – in die Phase vor Konstantin: Apostolische Väter, Apologeten, Märtyrerakten, Gnosis und Alexandriner (Clemens, Origenes) sowie in diejenige als Staatsreligion: Arianer, Eusebios von Caesarea, syrisch-palästinische und kappadokische Väter, Antiochener (Johannes Chrysostomos) und das Ende der Schule von Alexandria.

Die Epochenabschnitte im Großen beginnen mit einen historischen Überblick (The Period) und bestimmen die politischen Grundzüge der Zeit: so das Classical Age mit der Definition der namensstiftenden Idee sowie einer Beschreibung Griechenlands nach den Perserkriegen und in der ersten Hälfte des 5. Jh.; es folgen dort eine Behandlung des Perikleischen Zeitalters, des Peloponnesischen Krieges und griechischen Westens, sodann eine Darstellung der Hegemonie Spartas in der ersten und des Zugriffs Makedoniens auf Gesamtgriechenland in der zweiten Hälfte des 4. Jh., bis – wie stets – mit einer Vue d‘ensemble über die literarischen Gattungen der Schritt zum ‚eigentlichen‘ Thema geleistet wird.

Die entsprechenden Kapitel leiten methodisch zunächst in das jeweilige Génos bzw. die maßgebende geistige Strömung ein und verankern diese sodann in ihrem sozialen Umfeld. Es folgen – in zeitlicher Ordnung – die einzelnen Autoren, Leben und Werk(e), ggfs. verbunden mit Bemerkungen zur Textüberlieferung, schriftstellerische Merkmale (regelmäßig wiederkehrende Kapitel zu Komposition und Gehalt, überall zu Language and style; wo neu, auch zur Metrik), Rezeptionsgeschichte. Bei größeren Zusammenhängen, beispielsweise Hellenistische Dichtung (= Kap. IV der betreffenden Epoche), werden strukturähnliche Untergliederungen vorgenommen, hier: (2 ff.) Elegie und Epigramm – Kallimachos – Lehrdichtung – Epos – Bukolik – Tradition und Neuerung – Mimus, und innerhalb deren wiederum ein vergleichbarer Aufbau. Die engmaschige Führung in allen Abschnitten, gestützt durch Kopfzeilen: links Kapitel (Archaic Greek Epic), rechts Untergliederung (Epic cycles and post-Homeric epic), sorgt in der fortlaufenden Lektüre für kontinuierliche Orientierung; der Verzicht auf jegliche Fußnoten bzw. Anmerkungsapparat sowie eine klare und jederzeit wohlverständliche Sprachgestalt geben das Ihre hinzu.

Auch die Werkbeschreibungen im Einzelnen fügen die opera wiederum in ihren historisch-politischen Kontext (Paradebeispiel: Aristophanes) ein. Forschungsprobleme erfahren angemessene Diskussion: die Homerische Frage – Autorschaft und Genese aus der Oral poetry (Homer und die Homeriden von Chios), Weitergabe (Rhapsoden) und verbindliche Sammlung (Peisistratiden) der Gesänge wird (S. 108-126) von den antiken Quellen an (literarischen Zeugnissen; dazu Kommentaren und Scholien, insbesondere der Alexandriner) in allen wesentlichen Stationen der Debatte über Humanismus und Renaissance bis in die Philologie der Moderne (vom Unitarismus Aristarchs von Samothrake [→ S. 779 vs. Chōrizóntes] zum Analytical criticism des Abbé d‘ Aubignac) und Gegenwart bündig zusammengefasst. Die Theognideische stellt (S. 204 f.) die Frage nach Herkunft und Zusammensetzung des – im Vergleich zur Überlieferung anderer frühgriechischer Lyriker (von Pindar einmal abgesehen) – umfangreichen Corpus an (politischen – moralischen – Liebes-) Elegien aus unterschiedlichen Zeiten und dichterischen Anlässen, die Herodoteische (unitary vs. evolutionary criticism, S. 563-566) wie die Thukydideische (S. 580-583) – besonders im 20. Jh. – nach Einheit oder Komposition des Werks und Kontinuität seines Geschichtsbildes. Die Figur des historischen (→ Aristoph. Wolken) wie des literarischen (Platon, Xenophon) Sokrates hat von jeher Fragen aufgeworfen; M. sichtet (S. 418-421) akribisch und kritisch die Quellen zu Beiden – Parallelen zu Jesus von Nazareth in seiner Zeit und im Kontext der Schriften des Neuen Testaments und der jüdisch-christlichen Historiker (Josephus, Lukas; S. 1005, 1013 ff.) liegen auf der Hand. Der auf Aristophanes von Byzanz und Aristarch (s.o.) zurückgehende Kanon der Zehn Attischen Redner steht bei Dionys von Halikarnass (S. 946 f.) vor Augen, wird für Caecilius von Caleacte (Sizilien) reklamiert (S. 948) und unter (Ps.-?) Plutarch (S. 998) erwähnt. Man wünschte sich, bei aller Fragwürdigkeit solcher im Hellenismus einsetzenden Auswahlen, doch – nicht zuletzt aus dem Blickwinkel bereits antiker Literarkritik – an gegebener Stelle noch einige Bemerkungen zum Kanon der Neun Lyriker des Antipatros von Thessalonike (Anth. Pal. IX 184 und 571; Quint. X 1, 58-67, auch bei Dion. Halikarn. und Hermogenes), entweder bei den Dichtern selbst oder bei den alexandrinischen Gelehrten (→ S. 780). Nach Sappho (S. 223 ff.) behandelt M. (S. 280 f.) mit Corinna, Telesilla und Praxilla weitere Lyrikerinnen aus deren Kanon des gleichen Antipater (Anth. Pal. IX 26). Sorgsam entflicht er den Epischen Kyklos aus den Verästelungen seiner Einzelstränge und verweist auch auf gänzlich Verlorengegangenes (Herakléis, Theséis): die ‚homerischen‘, nicht-kyklisch angelegten Großepen setzen den trojanischen Sagenkreis inhaltlich voraus (S. 139), bleiben dichterisch aber eigenständig (Aristoteles, Poet. 1451 a 16-35); stofflich-genealogisch auf Theogonie und Titanomachie, Argonauticá und Thebanischen Kreis folgend, verdankt sich der Troianische in der uns vorliegenden Form mit Kýprien, Aithíopis, Kleiner Ilias, Iliupérsis, Nóstoi und Telegonía maßgeblich der Chrestomathía des Proklos (2. Jh., S. 134). Bei Alldem finden sich nicht nur Literarisch-Philologisches im großen historischen Rahmen, sondern auch sprachgeschichtliche Gesichtspunkte durchgehend berücksichtigt, dazu Archäologisches, soweit für die literarische Entwicklung von Bedeutung (etwa Schliemann, Korfmann und Homer, S. 64-68). Mit Bd. 2 und dem Hellenismus wird die Rezeption zum regelmäßigen Gegenstand von M.s History.

Die ausführliche Behandlung endet dann vergleichsweise unvermittelt: der Übergang zur byzantinischen Ära des Oströmischen Reiches und damit in die griechische Sprache und Literatur des MA bleibt mithin einem kommenden Band dieser verdienstvollen Gesamtschau vorbehalten. Ein Literaturverzeichnis als solches – im Allgemeinen wie zu Einzelnem – fehlt. Am Ende des (in durchlaufender Paginierung gehaltenen) zweiten Teiles stehen eine von E. Squeri gefertigte und alphabetische geordnete Bibliography of Translations (unter denen die Loeb Classical Library [Cambridge MA] klar dominiert) sowie ein Index antiker bis moderner Autoren, nicht allerdings ein Sach- oder etwa geographisches Register – möglicherweise wegen des äußerst genauen Inhaltsaufrisses als entbehrlich angesehen. Die Intention dieses bei allem Umfang doch kompakten und übersichtlichen Werkes von F.M. ist eindeutig die Darstellung, nicht die sekundärliterarische Aufarbeitung oder Dokumentation eines Forschungsstandes; gleichwohl gehört es gerade darum als Alles bis ins Detail überspannende Leseausgabe in die Hand eines/r Jeden innerhalb wie außerhalb von Schule oder Universität an der griechischen Literatur Interessierten.

Michael P. Schmude, Lahnstein

Zu-Kleines-Lexikon-griechischer-römischer-Autoren

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Oliver Schütze (Hg.): Kleines Lexikon griechischer Autoren, Stuttgart (J.B. Metzler) 2015. 176 S., € 16,95 (ISBN 978-3-476-02706-1).

Oliver Schütze (Hg.): Kleines Lexikon römischer Autoren, Stuttgart (J.B. Metzler) 2015. 176 S., € 16,95 (ISBN 978-3-476-02707-8).

Die hier anzuzeigenden, ansprechend gestalteten und handlichen Bände reihen sich in gleich mehrfacher Hinsicht ein: zum Einen gehören sie in die bekannte Großfamilie lexikalischer Handbücher des Stuttgarter Metzler Verlages zu (u.a.) Sprache (hg. v. H. Glück, 42010), Literatur (hg. v. G. & I. Schweikle 32007), Philosophie (hg. v. Prechtl / F.-P. Burkard, 32008), Antike (hg. v. K. Brodersen / B. Zimmermann, 22006) und Antiker Literatur: Autoren-Gattungen-Begriffe (hg. v. B. Zimmermann 2004), zum Anderen in eine von dieser ausgehende Untergliederung, die ‚Basisbibliothek Antike‘, und stehen dort neben dem Kleinen Lexikon mythologischer Figuren der Antike oder der Kleinen Einführung in die Altertumswissenschaft. Zugleich sind sie unmittelbare Ableger von Metzlers Lexikon antiker Autoren aus dem Jahr 1997, indem durch den Herausgeber aller dreier Lexika O. Schütze aus den dort versammelten 460 Artikeln eine für die griechische wie römische Literatur repräsentative Auswahl von Texten zu den wirkmächtigsten Schriftstellern des Altertums veranstaltet worden ist.

Beide Sammlungen verstehen sich ausdrücklich (S. 176) als Lesebücher, und somit ist auf jede Form wissenschaftlichen Apparates (Fußnoten, Literaturangaben, Indices) ebenso verzichtet wie auf Einleitung oder zusammenfassende Schlussworte – hierfür ist wiederum auf den gemeinsamen ‚großen Bruder‘ verwiesen sowie die einschlägigen Literaturgeschichten von A. Lesky (31971) bis M. v. Albrecht (32012). Notwendigerweise bleiben die Ergebnisse der jüngsten Forschung (Homer) bei Texten, welche einem 1997 erschienenen Gesamtwerk entstammen, unberücksichtigt und sind auch nicht nachträglich mehr eingearbeitet worden. Die Verfasser/innen der Porträts zeichnen ihre Autoren (Sappho ist der einzige weibliche ‚Leuchtturm‘ – dafür haben wir im Lexikon antiker Autoren LAA noch Korinna oder Praxilla) mit erkennbarer Sympathie, um sie einem offenkundig avisierten breiteren Leserkreis zur Lektüre zu empfehlen.

Die Auswahlen umfassen 30 (LGA) bzw. 27 (LRA) Artikel von zwischen 2 und 12, im Schnitt 4 Seiten. Die Spanne der Literaten reicht bei ‚den Griechen‘ vom Gründungsvater Homer bis zu den Romanciers Longos und Heliodor ins 2./3. Jh., bei den Römern (man vermisst auch im kleineren Kreis den ersten Nationaldichter Ennius) von den Bearbeitern der hellenistischen Neuen Komödie bis zum spätantiken Boethius. Fachschriftsteller (Vitruv; Grammatiker und Rhetoren) sind demnach nicht vertreten, christliche Autoren (Clemens von Alexandria, Laktanz), Apologetik (Tertullian), Patres Graeci (Eusebios von Cäsarea) und Latini (Augustinus) erforderten wiederum ein eigenes Kleines Lexikon der … Vor- und Nachsokratik sind zu stark fragmentiert; Ausflüge ins lateinische oder byzantinische Mittelalter unterbleiben. Die einzelnen, in alphabetischer, also nicht chronologischer oder gattungstheoretischer Folge angeordneten Essays lesen sich ausgesprochen gut und flüssig; sie geben Aufschluss über die Lebensumstände, aus denen heraus die Schriftsteller sprechen, über (vermutet) subjektiv-Autobiographisches im Umfeld der römischen Elegie, über die politischen Umbrüche für Alkaios auf Lesbos (Kampf der Adelspartei um ihre Vormacht), über die gesellschaftliche Situation für Polybios und Terenz in der neuen ‚Heimat‘ (Scipionenkreis), und sie führen anhand der Hauptpunkte des literarischen Schaffens werkbeschreibend und interpretierend auch in deren jeweilige Weltsicht samt Rezeption bis in die Moderne ein, etwa die Humanität eines Terenz homo sum: humani nil a me alienum puto (LRA, S. 153). Der Gedichtkranz der älteren Sulpicia im 3. Buch des Corpus Tibullianum, die sich im Literatenzirkel ihres Onkels (und Gönners Tibulls) Messala Corvinus bewegte, bleibt unerwähnt (aber LAA, S. 675 f.); Maecenas und sein Kreis werden für Vergil (S. 166), Horaz (S. 40) und Properz (distanziert, S. 111) jedenfalls angesprochen. Die Triádes der attischen Tragiker, der Geschichtsschreibung beiderseits, der Elegiker in Rom sind vertreten, die Beredsamkeit in Athen bloß durch Demosthenes: als Stilisten wie als Zeitzeugen wären Lysias und Isokrates durchaus Desiderata.

Mithin stehen am Beginn der Artikel (exemplarisch hierfür sogleich derjenige zu Aischylos LGA, S. 11-18) die mehr oder weniger gesicherten Daten zu Herkunft und Werdegang der beschriebenen Autoren – soweit nicht in besonderer, spezieller Art wie bei Cicero mit dem Werk verwoben – , gefolgt von Merkmalen der literarischen Gattung, welcher sie angehören, sowie der Stellung des eigenen Tuns darin, ferner seiner Wirkung. Dessen Inhalt und Charakteristik bildet im Wesentlichen dann den Kern der Darstellung: die Leserschaft wird deutend eingeführt in die Daseinskonflikte des griechischen Dramas, mitgenommen durch die Personalia der Ilias, die Wechselfälle des Odysseus, die fata des pius Aeneas, wird den verfassungskritischen und ethischen Grundfragen der hellenistischen Philosophie in Ciceros Oeuvre gegenübergestellt – um literarische Kephálaia hier nur anzureißen. Abschließend ist jeweils das Weiterleben der antiken Motive in Mittelalter wie Neuzeit ausgeleuchtet. Daneben ‚kleinere‘ Formen: die Bukolik mit Theokrit und Vergil, ohne Calpurnius Siculus oder Nemesian; Kallimachos folgend die Neoterik mit Catull, das Epigramm mit Kallimachos und Martial (die Anthologia Palatina gehört nicht in diesen Rahmen); satura quidem tota nostra est (Quint. X 1, 93) – mit Horaz (S. 39-41) und Juvenal. Als Klammern zwischen LGA und LRA böten sich der griechisch schreibende Historiker (und Staatstheoretiker) Roms Polybios oder Horaz als römischer Alkaios (S. 20) an.

Eine jede Auswahl hinterlässt notwendig die Frage nach dem, was oder wen sie auslässt: nach Theognis oder Solon, nach Bakchylides, nach Varro oder dem älteren Plinius, nach Persius, Ammianus Marcellinus, Claudian ? Das ist müßig. Die ‚wichtigen‘ Namen sind zu lesen, die geistigen Strömungen in ihren gattungsmäßigen Ausdrucksformen in beiden Sammlungen durch deren markanteste Vertreter bezeichnet, und die griechische wie die römische ist getreu dem Anliegen der zahlreichen Verfasser/innen auf eine gefällige und stets zugängliche Weise dazu angetan, die Beschäftigung mit ‚ihren‘ Autoren anzuregen und zu befördern.

 

Michael P. Schmude, Boppard

 

aus: FORUM CLASSICUM 59 (2016), S. 175 f.

Zu-R-Oniga-Latin-A-Linguistic-Introduction

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Renato Oniga: Latin – A Linguistic Introduction, edited and translated by Norma Schifano. Oxford: University Press 2014. XVIII, 345 S. (Oxford Linguistics)

[gekürzte Fassung in: GNOMON 88 (2016), S. 556-559]

Mit vorliegendem Buch, einer überarbeiteten Neuausgabe des italienischen Originals Il Latino. Breve introduzione linguistica (Mailand 2007), unternimmt R. Oniga (O.), Professor für Latein an der Universität Udine, eine umfassende Einführung in die lateinische Grammatik, wobei er aus linguistischer Sicht Lehrsätze der Generativen Grammatik mit den Grundlagen Klassisch-Philologischer Tradition verbindet. O. spricht selbst von einem Textbuch für Studierende des Lateinischen und der Romanischen Linguistik, aber auch für Lehrende auf der Suche nach neuen Wegen ihrer Vermittlung. Seine synchrone Beschreibung lateinischer Sprachgestalt stellt diese also von einem traditionellen Ansatz her zugleich in den Referenzrahmen eines (maßvoll) generativen Ansatzes modernerer linguistischer Theoriebildung; gemeinsame Zielsetzung beider ist es, auf dem Wege von Abstraktion und Generalisierung wesentliche Eigenarten einer universalen Grammatik zu klären.

Ausgangspunkt für O.s generativen Blick auf die lateinische Grammatik ist die Unterscheidung zwischen Sprachkenntnis und Sprachfertigkeit beim Erlernen moderner Fremdsprachen: sich in England sprachlich realiter zu bewegen, erfordert praktische Fertigkeit, nicht Kenntnis der Werke Shakespeares; lateinisch zu sprechen in einem nicht mehr vorhandenen Lateinland, losgelöst von den Schriften Ciceros, ist sinnfrei – Latein zielt auf Lesen, um zu verstehen, nicht auf Reden, um damit zu handeln, und lenkt den Blick auf Grammatik als autonome wissenschaftliche Disziplin (und Grundlage der Linguistik): dies schafft Raum für die sprachliche Durchdringung literarischer Texte durch Verständnis ihrer linguistischen Strukturen. Die Schwierigkeiten der Linguistik indes, Erkenntnisse eigenständiger Ableitung und Entwicklung einem breiteren Publikum zu vermitteln, sowie die Unzulänglichkeit herkömmlicher Grammatik, ein zunehmend als künstlich oder willkürlich empfundenes Regelsystem grammatischer Phänomene präskriptiv zu erklären, verstellen bisher den Weg zu einer gemeinsamen theoretischen Beschreibung, wie Sprache in einem allgemeinen Sinne funktioniert. Und damit kommt O. zum Grundanliegen der Generativen Grammatik, zu entdecken – nicht vorzuschreiben –, aufgrund welcher mentaler Anlagen linguistisch, also sprachwissenschaftlich erfaßbare Abläufe generiert werden. Mittels eines so gewonnenen Sprachvermögens läßt sich Latein als natürliche Sprache, läßt sich eine lateinische Grammatik als erneuerte scientia recte loquendi Quintilians (inst. orat. I 4, 2) in einem Rahmenwerk moderner Linguistik entwickeln, <as an open working laboratory on language>, nicht zuletzt im Vergleich mit weiteren Fremdsprachen und deren je eigenem Potential, welches eine jede als historisch nicht begrenztes System von Sprachmöglichkeiten besitzt.

Bereits für antike Autoren wie Varro (ling. Lat. 9, 23-29) und Lukrez (rer. nat. 5, 1028-90) ist Sprachfähigkeit naturspezifisch und im Unterschied zu den übrigen Lebewesen dem menschlichen, zumal kindlichen Geist eingeboren und bildet sich dort von selbst weiter. An diese Überlegung knüpft seit der 2. Hälfte des 20. Jh. der amerikanische Linguist Noam Chomsky an: die Beobachtung, daß Kinder fähig sind, ohne jede besondere Unterweisung eine vollständige Beherrschung ihrer Muttersprache zu entwickeln, erfordert von einer Reihe angeborener geistiger Fertigkeiten aus ein innerliches Verständnis für Sprache. Dieses läßt ihren Sprecher / Hörer im Weiteren auch eine unendliche Zahl von Sätzen erzeugen wie verstehen, welche sie zuvor nie gehört haben, geregelt im Sinne einer eingeborenen Universalgrammatik, von welcher die Grammatiken der einzelnen Sprachen abgeleitet sind. Aufgabe linguistischer Forschung ist nun die formale Beschreibung eines endlichen Kreises allgemeiner wie besonderer Regeln, welche diese innere Sprecher-Grammatik ausmachen. O. weist ältere Auffassungen zurück, nach denen natürliche Sprachen historische Kunstprodukte seien, voneinander abweichend und dem menschlichen Geist sozusagen übergestülpt. Dies habe zu einem verbreiteten Mißtrauen geführt gegenüber Grammatik ihrerseits als Kunstprodukt und nicht vergleichbar mit der Logik formaler Sprachen: (auch) diese entwickeln bekanntlich aus einem begrenzten Reservoir an Regeln unbegrenzte – etwa mathematische – Vorgänge. Die Abkoppelung der Grammatik von wissenschaftlicher Theorie führe zur Aufgabe aktiver Analyse und zu einer bloß passiven Hinnahme zu memorierender Phänomene. Gerade der Übersetzungsvorgang aber erfordere eine vorangehende Klärung grammatischer Gegebenheiten der Ausgangssprache, um sie sodann angemessen in die Zielsprache übertragen zu können.

Worte sind Zeichen, und sie haben ihre Entsprechungen in der realen Welt (F. de Saussure) – die Linguistik unterscheidet zwischen (phonetischem) Bezeichner und damit gemeintem Bezeichneten, die Grammatik zwischen Form und Bedeutung. Die kleinsten lautlichen Einheiten, die silbenbildenden Phoneme, führen über Stamm, Vorsilbe, Endung zur morphologischen Struktur des Wortes; seinen jeweiligen Gehalt bekommt ein Wort aber erst aus dem Zusammenspiel mit anderen Wörtern innerhalb einer Phrase als Struktur des Satzganzen. Auf allen drei Ebenen, der phonologischen, der morphologischen, der syntaktischen, sorgt ein System von Regeln für die sprachgerechte Kombination von Phonemen (Lauten) zu Lexemen (Worten) zu Phrasen (Satzgliedern), und dieser für jede natürliche Sprache gültigen Unterscheidung folgt auch O.s traditionell-klassische Beschreibung der lateinischen Grammatik.

Die Abbildung eines sprachlichen Inhalts erfolgt über die Schrift, und hierfür stehen am Anfang jeder Lautlehre verschiedene Systeme (9 f.): die Bildbotschaft eines prähistorischen Piktogramms enthält keine Klangform im linguistischen Sinne; das Chinesische und Japanische repräsentiert mit dem Ideogramm pro Schriftzeichen ein je einzelnes gesprochenes Wort. Die antiken Silbenschriften des Nahen Ostens verwenden ihre Zeichen für ebendiese kleinste wortbedeutungsfähige sprachliche Einheit, namentlich im Linear-B der mykenischen Epoche. Die Phönizier schließlich verbreiten um die Jahrtausendwende v. Chr. im Mittelmeerraum eine Schrift, deren jedes einzelne Zeichen (Segment) einem Laut (Phonem) entspricht, und zwar einem Konsonanten; die Griechen fügen diesem System bei der Übernahme dann Vokalsegmente hinzu, aber der Weg ist konsequent: die Anzahl von Zeichen wird ebenso begrenzt wie die Anzahl ihrer Kombinationsmöglichkeiten grenzenlos. Aufgrund dieser sprachlichen Effektivität verbreitet sich das phönizische Alphabet rasch über die griechischen Kolonien Unteritaliens und die Etrusker ins Rom des ausgehenden 8. Jh. v. Chr.

O. legt seiner Phonologie eine klare Begrifflichkeit zugrunde (13-15): der <Laut> ist ein physisches Phänomen (samt Phonetik als diesen behandelnder Disziplin und phonetischer Umschrift als Darstellungsmittel), das linguistische Phonem ein abstrakter Begriff als kleinstes zwischen zwei Worten bedeutungsunterscheidendes Element; beiden gegenüber steht als (näherungsweises) Zeichen der Buchstabe, für das Phonem der eines Alphabets, für den Laut je ein Symbol des <International Phonetic Alphabets>. Er zeigt anhand moderner Beispiele und Vergleiche, wie a) natürliche Sprecher über die gleiche Anzahl von Lauten, ihre Sprachen nicht unbedingt von Phonemen verfügen; b) dasselbe Phonem in einer Sprache phonetisch verschieden realisiert werden kann (Allophone), etwa entsprechend seiner Stellung im Wort; c) ein Buchstabe zwei Lautwerte abbildet oder der gleiche Laut sich in zwei Buchstaben ausdrückt. Eine differenzierende Betrachtung der Phoneme des Lateinischen steht jedenfalls im Vordergrund, und das gilt ebenso für die Frage nach der ‚richtigen‘ Aussprache: hier tritt der humanistischen, spätantik-spätmittelalterlichem Latein (italischer Sprechart) folgenden pronuntiatio ecclesiastica eine p. restituta jüngerer Zeit gegenüber, welche mittels historischer Linguistik das Klassische Latein des 1. Jh. wiederzubeleben sucht. <Prosody and Metrics> setzt in Silbe und Ton, Fuß und Metron die quantitierende Versstruktur der lateinischen Dichtung in Kontrast zur akzentuierenden der europäischen.

<Wort> als linguistische Einheit zielt in zwei Richtungen (41): auf seine innere, durch (ihrerseits wieder binnengegliederte) Silben gebildete Struktur, unterteilt in Wurzel, Stamm und Endung, sowie auf seine äußere Verwendung, seine Verbindung mit weiteren Worten zu Satzgliedern. Beide, Morphologie wie Syntax, beobachten die Regeln des Zusammenspiels der Einheiten, welches neue Worte bzw. Aussagen generieren kann. Die Frage, ob eine (abstrakte) Einheit, welche dem Flexionsparadigma der Wortart zugrundeliegt (und in stark flektierten Sprachen wie dem Lateinischen und Italienischen nicht mit der Grundform des Lexikoneintrages übereinstimmen muß), als theoretische Erfordernis bereits im mentalen Lexikon des Sprachenlernenden angelegt ist, führt O. zur Definition der <Wurzel> als semantisches Basiskonzept für die Wortfamilie (lexikalisches Morphem). Diese wird, ergänzt durch Kennzeichnung ihrer lexikalischen Klasse (Substantiv, Verb) sowie den Themavokal (grammatikalisches, zumeist auch phonetisch umgesetztes Morphem) als Hinweis auf das Flexionsverhalten (o-Deklination, a-Konjugation), zum <Stamm> als morphologischer Grundeinheit des Lateinischen, nach wie vor abstrakt, weil ohne Flexionsendung, aber in sich mit den für die Anwendung der Bildungsregeln nötigen Hinweisen (Genus nominis, transitive Valenz).

Wortarten und ihre Beugungsregeln führen zu Deklination und Konjugation (den Endungssystemen als solchen folgen ihre Einbettung in die Flexionsparadigmata); die klassische Aufgliederung bezieht die linguistische Sichtweise (samt moderner Beispiele zum Vergleich) stets mit ein – stellvertretend hierfür die hierarchische, nicht länger lineare Betrachtung bei Wortableitung durch Affixe sowie die Differenzierung der Komposita. Adjektiv und Kardinalzahl bilden eigene Klassen, das Partizip nicht mehr; umso nützlicher Übersichten zum nominalen Gebrauch der Verbalstämme in Infinitiv, Partizip, Gerundialia und Supin (128, 137). Syntaktische Funktionen (Demonstrativa, Modusgebrauch der Verben [entsprechend den Satzmodi]) sind in die Behandlung der Wortformen bereits mit integriert [O. unterscheidet nicht ausdrücklich zwischen Verb- und Satzmodus bzw. überhaupt nicht zwischen einzelnen Satzmodi; er spricht allein von indicative und subjunctive als (Verb)modi… s.u.].

Die geregelte Kombination von Wörtern als kleinsten Teilen der Rede (Varro, ling. Lat. 10, 77) zu Sätzen ist Gegenstand der Syntax (Teil 3), Spiegel des wechselweisen Zusammenspiels von Wörtern unterschiedlicher Eigenschaften zu von diesen bestimmten Satzstrukturen. Ausgangspunkt für unser mentales Lexikon ist die Verbvalenz (L. Tesnière 1959), also wie viele grammatische Einheiten eine Verbform an sich bindet, sowie die Unterscheidung, welche semantische Wertigkeit (<Theta-role> [= arguments / positions – Satzteile/-glieder, O. 176 f.]) das Verb seinen einzelnen Ergänzungen jeweils zuweist. Nicht außer acht bleiben sollte, daß bestimmte mehrdeutige Verben (contendere, ducere, petere) ihre jeweilige aktuelle Bedeutung überhaupt erst durch ihre unmittelbare Ergänzung (Objekt, Subjekt) erhalten (et viceversa Substantive wie animus, ratio, res von ihren Verben her). Strukturen kommen nicht als ‚Konstruktionen‘ quasi von außen über den Satz, sondern werden von den Eigenarten der Wörter und ihrer Funktion füreinander, von der Valenz aller Wortarten erzeugt, und Grundeinheit des Satzbaus ist die Wortgruppe oder <Phrase> (182-202). Dies führt über die <Konstituentenanalyse> (L. Bloomfield 1933) zur Phrasenstruktur als nächsthöherer, hierarchisch organisierter Einheit des Satzganzen [und ersetzt die ‚klassische‘ Frage nach den Satzteil-/-gliedfunktionen]; sie ist segmentiert (und benannt nach ihrem Oberbegriff) in eine <Nominal-> und eine <Verbalphrase>, welche sich grundsätzlich aus Hauptkonstituent und dem am engsten mit ihm verbundenen <complement> bilden, und – neben loser angeschlossenem <specifier> – erweiterbar durch <Adjektiv-> wie <Präpositionalphrase>. Die Abfolge der Konstituenten, also die lineare Wortstellung, ist bewußt-variabel, nicht zufällig; Tiefenstruktur ergibt sich aus ihrer hierarchischen Anordnung. Das Satzmodell schließlich sieht O. (als Art Super-Konstituent) in Parallele zu einer komplexen Phrase, und so orientiert es sich auch nicht an der flacheren Struktur der Generativen Semantik, sondern in seiner differenzierten Tiefenschärfe an der von Chomsky begründeten Transformationsgrammatik – sei es in der Kasus-Syntax, in seinen Spielarten als Haupt- und eingebetteter, als Objekt-, Attribut- oder Adverbialsatz, in seinen Bauweisen als Parataxe oder Hypotaxe oder in der Wiedergabe von satzwertigen Infinitiv- und Partizipialkonstruktionen.

Sinnvoll erscheint zum Abschluß eine knappe Synopse der wichtigsten syntaktischen Funktionen im ‚klassischen‘ gegenüber O.s generativem grammatischen System:

 

Klassisch Oniga
Subjekt agent – subject
Genitiv-Attribut
Dativ-Objekt benefactive – indirect object
Akkusativ-Objekt theme – direct object
Adverbiale Bestimmung adjunct – prepositional phrase
Adjektivisches Attribut adjunct – adjective phrase
Praedikat verb phrase

 

Satzteilfunktionen können generell übernommen werden von:

  • Satzgliedern = einzelnen Wörtern oder Wortgruppen
  • Gliedsätzen = Subjekt- / Objekt- / Attribut- / Adverbialsätzen.

Diese ergeben sich bei O. unmittelbar aus der Valenz, der Ergänzungsnotwendigkeit oder –möglichkeit aller einzelnen Wortarten.

Der generative Ansatz, daß sich die Satz- oder besser: Phrasenstruktur aus der Wortvalenz (insbes. des Verbs) heraus entwickelt, führt zur Aufgabe u.a. der Satzmodi (s.u.) als eigenes Thema.

 

Abhängige Aussage

Abhängiger Begehrssatz

infinitival clause (AcI, NcI)

embedded clause

Fragesatz    – Wortfrage

– Satzfrage

wh – questions

yes–no – questions

Dreiteilung:    Aussage – Frage – Begehrssatz

[direkt – indirekt]

nicht eigens thematisiert

[zu dieser Übersicht s. auch die PDF-Version]

 

Es bleiben wenige, offene Fragen:

a) Adjektive (und Adverben) entsprechen den <adjuncts> (187): O. spricht nirgendwo von einem Attribut; Subjekt- und Objektsätze sind <substantive clauses>: wozu gehören dann die Relativsätze als Attributsätze ?

b) Die indirekte Rede wird ausgedrückt (320 f.) durch <infinitival clauses> (AcI) oder durch abhängigen Begehrssatz / Aufforderung – zumal ihre Einordnung als Adverbialsätze erscheint fragwürdig.

c) Satzmodi als eigenständiges Thema fehlen:

  • Realis / Potentialis / Irrealis werden ansatzweise bei den Konditionalsätzen (316) behandelt.
  • Hortativ / Iussiv / Prohibitiv fehlen ebenso wie der erfüllbare / unerfüllbare Wunsch.

Es liegt auf der Hand, daß bei unterschiedlichen Herangehensweisen nicht alle grammatischen Kategorien miteinander kongruent bleiben können. Für die Entwicklung eines eigenen, nativen sprachlichen Systems ist dies ohne Bedeutung, für die Aneignung eines fremden (dort gegebenen) im Zweifelsfalle hilfreich. Entscheidend bleibt aber die Frage, auf welchem Wege sprachliche Strukturen zustande kommen – natürlich, im Zuge einer intrinsischen Entwicklung aus dem sprachenlernenden Subjekt heraus oder extrinsisch, durch Direktiven wie „richtig – falsch – muß …“. Und aus dieser Blickrichtung bietet O.s Einführung in summā mit ihrer sinnvollen und überzeugenden Verknüpfung von Generativem Ansatz und Klassischer Konzeption eine authentische Grammatik des Lateinischen als Form einer natürlichen Sprache, welche nicht von außen als vorgegebenes Werk starrer Regeln aufgesetzt wird, sondern sich aus sich selbst heraus aktiv entwickeln läßt.

 

Michael P. Schmude,  Boppard

Griechisch und Europa

Zu-Griechisch-und-Europa  [aus:  Forum Classicum 49 (2006) S. 43-45]

Griechisch und Europa – dargestellt an ausgewählten Texten aus zwei Jahrtausenden. Hrsg. von Jochen Althoff und Friedrich Kuntz, Bad Kreuznach (PZ) 2005 [Impulse – Beiträge zum altsprachlichen Unterricht Bd. 12], 221 S. –

Dieser Band hat sowohl Lehrer und Schüler in ihrem Unterricht als auch allgemein Interessierte mit nicht (mehr) vorhandenen Griechisch-Kenntnissen im Blick und setzt sich damit in Aufbau wie Umfang von dem voraufgehenden, ersten umfassenden Zugriff auf Das Lateinische als Schlüssel zum Verständnis der politischen und geistesgeschichtlichen Entwicklung Europas von E. Visser1 ab. Auch wenn dieser ebenfalls in einer Textauswahl (Teil 1 für den Lehrer mit Einführung, neuer Übersetzung und vertiefender Interpretation, Teil 2 kommentierte Originaltexte aus allen europäischen Epochen) Wegmarken und geistigen Hintergrund der europäischen Geschichte für den Lateinunterricht bereitstellt, den zweiten ursprünglich geplanten, sprachlichen Schwerpunkt zum Lateinischen als Fundament für das Erlernen moderner Fremdsprachen einem weiteren Heft überläßt2, so teilen sich gleichwohl beide Bände in das Verdienst, die griechisch-römische Antike als kulturelle Basis der europäischen Moderne in einschlägigen Grundlagentexten verankert zu haben, und bleiben in diesem Sinne als Einheit zu sehen. Allerdings geht Griechisch und Europa insofern einen anderen Weg, als im Corpus der Originaltexte die griechische Literatur der vorchristlichen Zeit ausgeklammert bleibt, die Auswahl mithin jenseits der gängigen Autoren des Gymnasiums die griechischen Wurzeln Europas erst außerhalb der Klassischen über Spätantike und Byzantinisches Mittelalter bis in die Neuzeit des heutigen Griechenland und Europa trägt und dabei der Literatur erst einmal das griechische Substrat in den europäischen (gesprochenen wie Fach-) Sprachen (samt Alphabet)3 voranstellt sowie diese ins Verhältnis setzt (S. 8-45).

Das Buch besteht (zu zwei Dritteln) aus einem Sachteil, welcher in die drei übergeordneten Themen 1.) S. 8-76: Sprache und Literatur; 2.) S. 77-98: Mythos und Geschichte; 3.) S. 99-128: Orient und Okzident4 gegliedert ist, sowie einem Textteil: dieser überspannt anhand originaler Texte mit teils bereits andernorts veröffentlichten5, teils eigens hierfür und erstmalig angefertigten Übersetzungen sowie mitunter auch (überwiegend eigenen6) Einführungen, Erläuterungen7 sowie Anmerkungen8 die der Klassischen Antike folgenden Jahrhunderte vom Neuen Testament (Lukas: Weihnachts- und Pfingstgeschichte) über griechische Apologeten des 2. Jh. (Athenagoras, Diognet-Brief), Kirchenväter des 4. Jh. (Basíleios und Gregor v. Nyssa), die ‚Gegenbewegung‘ des Iulian Apostata (← Gregor v. Nazianz) und Liturgisches (Nicaenum von 325; I. Chrysóstomos † 407; Marienhymnus des Romanos, 6. Jh.), mittelalterliche Platoniker und Historiker an der Schwelle zur Neuzeit, aber auch politische Texte und Volkslieder (samt solchen einer ‚Subkultur‘: Rembetika), griechische Lyrik des 20. Jh. (K. Kavafis) bis zur modernen griechischen und Präambel schließlich der Europäischen Verfassung (S. 147-221).

Fundiert wird der Textteil durch voraufgehende, die genannten Großthemen (jeweils in einem A- und B-Teil) untergliedernde Kapitel zur Wirkungsgeschichte von Epos, Fabel, Lyrik, Geschichtsschreibung, Roman (im Wesentlichen nach dem Neuen Pauly) und Fachliteratur (M. Asper), zum griechischen Drama auf europäischen Bühnen9 sowie zu den philosophischen Schulen (M. Asper), S. 47-66; zum Mythos als Erzähl- und als Theaterstoff, als Motiv in Musik und Bildender Kunst, seiner Geographie (S. 77-83) – kurz: als Bestandteil eines Lehrplans Europäische Kultur10; zum Modellcharakter der Achäischen und Dorischen Wanderung für Völkerwanderungen, der Polis für das politische Denken Europas sowie zu ihrer Ausbreitung als Griechische Kolonisation im Mittelmeerraum (S. 87-91). Das Vermächtnis auch in Architektur, Frei- und Bauplastik sowie in der Malerei mündet in die bei aller Kürze souveräne Darstellung der Rezeption antiker griechischer Mythenquellen in der abendländischen Kunst- und Kulturtradition durch U. Reinhardt (S. 92-98). Frauenraub und Perserkriege, Ausbreitung unter Alexander d. Gr. im Hellenismus und Einheit unter dem Imperium Romanum, griechische Philosophie im christlichen Denken zeigen Griechenland als Brücke zwischen Ost und West (S. 100-04), während die Reichsteilung von 395 an zu getrennten Entwicklungen (S. Reitz, S. 105-28) führt.

Stellvertretend herausgegriffen aus dem Sachteil sei zum Einen die instruktive Einführung in die verschiedenen Sprachebenen des Griechischen und ihre Geschichte dreier Jahrtausende von G. Beckel und D. Müller11 (S. 67-76), welche den ersten lexikalischen Abschnitt ergänzt. Zum Anderen der vorzügliche und auch in seiner zwangsläufigen Knappheit gut lesbare Überblick von S. Reitz zum byzantinischen Humanismus Ostroms12 (seit etwa 324) sowie dem direkten (über eine nurmehr vereinzelte Originallektüre im Umfeld der iroschottischen Mönchskirche und ihrer Peregrini seit etwa 600 oder der karolingischen Renaissance des 9. Jh.) und indirekten (durch lateinische Übersetzungen, namentlich des Aristoteles, aus dem Griechischen und Arabischen seit der Scholastik des 12. Jh. insbes. in Unteritalien und Sizilien) Weiterwirken der naturwissenschaftlichen und philosophisch-theologischen Literatur der Griechen als Grundlage der Artes Liberales im Mittelalter und bis zu ihrer Wiedergeburt im Oberitalien des 14. Jh. sowie im Florenz und Venedig des Quattrocento (S. 109-17). Parallel dazu verläuft die syrisch-arabische Traditionslinie der medizinischen (Galen), astronomischen und logischen Originalschriften im Islam seit der Kapitulation Alexandrias 642 und der Verlegung von Schule und Bibliothek zunächst nach Antiochien, während der abbasidischen Renaissance im 9. Jh. ins ostsyrische Harran, und seit etwa 830 der Gründung einer Übersetzungsakademie in Bagdad (Hunain ibn Ishaq 809-873), mit dessen Eroberung 1055 durch Seldschuken der arabische Humanismus endet; sodann der Aristotelismus eines Avicenna (980-1037) in Persien, Averroes (1126-1198) im arabisch besetzten Spanien (Córdoba)13, von wo aus der Weg insbes. über andalusisch-kastilische Übersetzer seit dem 12. Jh. zurück in die europäische Renaissance führt (S. 118-23). Überwunden wird die Trennung schließlich in der Epanástasi des Jahres 1821 zum griechischen Nationalstaat (F. Kuntz, S. 123-28).

Für den Textteil stehe hier einmal die christliche Anleitung zur Pädagogik des Clemens von Alexandria (* um 150, S. 158), der Prolog der hochgebildeten Prinzessin Anna Komnene, Frau des Nikephoros Bryennios († 1137) und Schwester des Kaisers Johannes (1118-1143), über die Taten ihres Vaters Alexios (S. 184-88) oder die Sicht zweier byzantinischer Historiker unterschiedlicher Jahrhunderte auf die Eroberungen Konstantinopels durch die marodierenden Kreuzfahrer 1204 (Niketas Choniates) sowie den Sultan Mehmet II. 1453 (Kritobulos von Imbros), S. 189-93. Im philosophischen Bereich seien insbes. der Dekan der 1045 neugegründeten philosophischen Fakultät der Universität Konstantinopel Michael Psellos zu Platons Ideenlehre genannt sowie der seit 1393 von Mistra aus bis nach Florenz wirkende Neuplatoniker Georgios Gemistos Plethon (Über die Tugenden), S. 176-83, wobei man gerade hier gerne auf Einleitung und Kommentar wartet. Aus der zeitgenössischen griechischen Literatur am bekanntesten ist sicherlich Nikos Kazantzakis, nicht zuletzt durch seine Roman- (und Film-) Figur Alexis Sorbas (S. 210 f.)14, daneben (S. 211-16) die Lyriker und Nobelpreisträger Giorgos Seferis (1963) und Odysseas Elytis (1979).

An die Stelle eines Registers tritt das sehr detaillierte Inhaltsverzeichnis. Daß die Herausgeber neben mancher Pionierübersetzung15 im Epilog Darstellungsdesiderate aufgrund fehlender Bearbeiter bedauern, läßt andererseits immerhin eine – wünschenswerte – Fortführung dieses wichtigen und gelungenen, ebenso anregenden wie gar nicht abschließbaren Projektes erwarten, mit welcher das Griechische als fundamentum des modernen Europa um weitere Pfeiler bzw. die bestehenden um weitere (Auf-)Lagen verbreitert werden können.

Michael P. Schmude, Boppard

 

Anmerkungen:    1Impulse Bd. 11, Bad Kreuznach 1995, vgl. auch MDAV 38, S. 159.    2S. ibid., Vorbem. S. 1.    3Vgl. insbes. die Stemmata S. 21 (Griechisch ® Spanisch) und 45 Genealogie der Alphabete sowie S. 99.    4Für den Unterricht überaus ertragreich die Reihe zum Europabegriff der griechischen Antike von S. Reitz, S. 129-41.    5Etwa S. 160 f. Didaché von K. Wengst; S. 163 Gregor v. Nazianz aus den Éditions du cerf; S.167 Basilius v. Caesarea von W.-D. Hauschild.    6Anders etwa S. 154, 156.   7Wie S. 149-66, 194, 201-03, 207, 214.    8S. 188, 216, 220 f. 9Insbes. K. Eyselein zur Oper als Wiederbelebung des griechischen Theaters, S. 60-63.    10Ein fächerübergreifendes Projekt des Gymnasiums am Kaiserdom in Speyer von A. Lenz und B. Barg, Text erhältlich ebda., Große Pfaffengasse 6, 67346 Speyer, Tel.: 06232-67720 oder: kaiserdom-gymnasium@mannheim-netz.de.    11Hierzu desgleichen mit kommentierten Texten Impulse 7 (1990).    12Grundlegend nach wie vor H. Hunger: Die hochsprachliche profane Literatur der Byzantiner (München 1978, HdA.).    13Zu erwähnen hier der gleichfalls in Córdoba geborene, jüdische Religionsphilosoph Moses Maimonides (1135-1204).    14Nicht vertreten M. Theodorakis oder J. Ritsos (Verweise immerhin S. 201), dafür klingt (S. 206) der Archipoeta (CB 191) an.    15Wie S. 182 f. Michael Psellos: Platon zu den Ideen, vgl. auch Vorbem. S. 147.

Zu-Weeber-Hellas-sei-Dank

Zu-Weeber-Hellas-sei-Dank

Karl-Wilhelm Weeber: Hellas sei Dank – was Europa den Griechen schuldet. Eine historische Abrechnung, München (Siedler) 2012, 397 S., Euro 22,99 (ISBN 978-3-8275-0009-0). –

„Es sind die Wurzeln, nicht die späteren Wachstumsschübe, die dieses Buch zutage führen soll …“: Weeber (W.) läßt bereits in der Einführung (9 f.) keinen Zweifel an seiner – durchaus subjektiven und (aus)wahlweisen – Sicht auf Griechenland als Geber -, weil Hellas als Ursprungsland, ohne doch zu verkennen, daß die Sicht auf eine der überschaubaren griechischen Poleis des Altertums zwangsläufig eine andere sein muß als diejenige auf einen Staat Griechenland der Neuzeit (16, 19, 31 u.ö.).

Die stets eingängige und gut lesbare Darstellung geht den Linien nach, in welchen die gesellschaftliche Entwicklung des antiken Griechenland Vorbild und Muster für das moderne Europa geworden ist. Und es sind schon wuchtige Pfunde, welche Hellas vormals der phönizischen Königstochter mit auf den Ritt durch die nach ihr benannten Gefilde ins Handgepäck und auf die Waagschalen des werdenden Europa gelegt hat – die Politik als „griechisches Gen“ (15-32) sowie die Akropolis „als Visitenkarte der Schule von Hellas“ (77-91) seien hier nur einführend genannt.

Zentral zu allen Zeiten die staatstheoretischen Erörterungen, kanonisch Platons Politeia und Aristoteles‘ Politika, ursprünglich aber die erste Verfassungsdebatte im Geschichtswerk des Herodot (III 80-84): an den persischen Königshof des Jahres 522 v. Chr. verlegt, zeigt sie im Munde dreier adliger Prätendenten, daß es für jede der klassischen Herrschaftsformen berechtigte Gründe für und wider gibt. Platons „Abrechnung mit der Demokratie“ steht unter dem Trauma der Hinrichtung seines verehrten Lehrers, welche für W. (26) freilich gerade nicht Ergebnis einer Art Lynchjustiz gewesen ist – prägnant auf den Punkt gebracht: mit dem „Rufmord an Athens Demokratie“ rächt Platon den vermeintlichen Mord an Sokrates (27). Das Philosophenkönigtum der Politeia ist der aristokratische Gegenentwurf, mit einer neuen Definition von ‚Aristokratie‘ auf der Grundlage von Geist und Moralität. Und Philosophenkönige können demnach auch Frauen sein, Königinnen also – dazu braucht es für Platon keine Quoten, sondern Weisheit und moralisches Format (2714 mit Tim. 18 d 8 f., Pol. 451 d 4 – e 7). Eine fürsorgliche, aber totalitäre Herrschaft berufener Geister, die alle Lebensbereiche durchdringt, Dichtung, Drama, literarische Fiktion ausgrenzt und zwangsläufig Widerspruch hervorruft, für unsere Epoche ganz entschieden in Karl Poppers Offener Gesellschaft von 1945 (letzte Aufl. 1992).

Hatte Platons Utopie gleichwohl Manches gemeinsam mit dem „real existierenden Einheitsstaat Sparta“ (W. 28), so steht das aristotelische Zóon politikón eher auf dem Boden seiner Zeit – und im Rahmen von deren Begrenztheiten (Sklaverei, Status der Frau u.a.). Aristoteles‘ aus den drei Grundformen zusammengesetzte und darum beständigste Mischverfassung (30) findet über die hellenistische Staatstheorie und Ciceros De re publica Eingang auch in modernes Denken, und bei aller – wiederum realistischen ? – Sorge Platons wie des Aristoteles um die politische Urteilskraft einer zumal enthemmten Volksmenge ist der Weg zur Demokratie als einem „erfolgreichen Experiment der Weltgeschichte“ (33-66) beschritten mit den kleisthenischen Reformen zum Ende des 6. Jh. v. Chr.: Der Ostrakismós, besonders eindrucksvoll gleich anfangs (33 f.) in der (unhistorischen) Episode um den Gerechten Aristeides (482 v. Chr.), ist hier wohl speziellster Ausdruck basisdemokratischer Teilhabe an der politischen Macht, der Epitaphios des Perikles (431/30 v. Chr.) „Die Verfassung, die wir haben, heißt Volksherrschaft“ (67-75) wird zu Recht als „visionärer Grundtext der Demokratiegeschichte Europas“ (69) eingestuft. Auch wenn das o.g., auf Vorschlag von Valéry Giscard d’ Estaing eingebrachte Zitat über der Präambel der (im ersten Anlauf gescheiterten) EU-Verfassung aus dem Entwurf des Jahres 2004 wieder herausgestrichen wurde (vgl. L. Zieske: FC 4/2011 284-98), so berührt es im „Paradigmenwechsel hin zu bürgerlicher Freiheit“ (a. O.) eine Markenkompetenz des gemeinsamen Europa unserer Tage – und sozialem Ausgleich und Gerechtigkeit verpflichtete die attische Demokratie ihre Besserverdienenden durch ehrenamtliche ‚Leiturgien‘ (74), mit welchen staatliches Handeln finanziell unterstützt wurde; auf der anderen Seite ruft Perikles aber auch zu Aufstieg durch Leistung (Thuk. II 40, 1).

„Griechenlands Götter nehmen es einem nicht übel, wenn man nicht an sie glaubt“ (93 f.), und es sind Dichter wie Homer, Hesiod und die attischen Tragiker, die sie als lebendige Figuren an sich erst „schaffen“ – so jedenfalls der Wortsinn des Begriffes „Poet“ – und sie neben dem Konkurrenzmedium Bildende Kunst auf die Reise durch zweieinhalb Jahrtausende europäischer Kulturgeschichte schicken, von Ovid bis zu Gustav Schwab (1838/40). Mit Prometheus (98 ff.) beginnt indes der Prozess des Sich-Absetzens, Zeus hat es versäumt, der Schöpfung des homo naturalis diejenige des homo civilis (103) folgen zu lassen, und so wandelt sich das Bild des Feuer-Frevlers zum eigentlichen, aktiven (Nietzsche) Kulturstifter, der für den anmaßenden, untätigen Despoten auf dem Olymp nurmehr Verachtung übrig hat (Goethe), dessen entfesseltes Vorpreschen aber auch in die Katastrophe Frankensteins (Mary Shelley 1818) einmünden kann: wieviel „Prometheus bound“, wieviel Epi-metheus hat der Vorkämpfer gegen die „Einschränkung des Menschen“ (Camus) nötig, und – (105 f.) wozu brauchen die Götter überhaupt Feuer (Lukian von Samosata) ?

Thukydides, politischer Analyst wie Opfer des von ihm dargestellten innergriechischen Bürgerkrieges, mehr noch aber der „Vater der Geschichtsschreibung“ (Cic. leg. I 5) spüren der Kausalität menschlichen Handelns in historischen Abläufen nach, wobei für Letzteren Legendäres sehr wohl exemplarisch bleiben kann. Von daher hätte der angesprochenen (142), geradezu philosophischen Begegnung zwischen dem Athener Solon und dem Lyderkönig Kroisos zur Frage nach dem Glück „in Zeit und Raum“ (W.) durchaus auch eine etwas ausführlichere Behandlung gebührt. Zugleich steht Herodot damit dem ganzheitlichen Ansatz moderner Historiographie näher als sein jüngerer Nachfolger (133, 137).

Die freie Rede, angelegt schon bei Homer und im Vortrag der Rhapsoden (146), lehrmäßig verfaßt erstmals in der jungen Demokratie von Syrakus 467/66 v. Chr. durch Korax und Teisias (147 f.), begründet auf peithó (Überredung-Überzeugung) und parrhesía (Redefreiheit), erfährt ihr Raffinement in der Sophistik namentlich eines Gorgias aus (dem gleichfalls sizilischen) Leontinoi in Athen. Aristoteles (156 f.) durchleuchtet sie dialektisch, auf ihre moralische Ambivalenz hin in der Rhetorik mit ihren Überzeugungsebenen éthos – páthos – lógos (1356 a 1-33), sein Zeitgenosse Demosthenes läßt ihre praktische Wucht in seinen Philippischen Reden gipfeln, welche Cicero in seinem letzten politischen Kampf gegen Marc Anton ebenso zum Vorbild werden wie die Rednerschulen Kleinasiens dem jungen Cicero (und Caesar) zum Studienziel (144 f.). Der Kontrast zur aktuellen Darbietung à la PowerPoint liegt auf der Hand, und W. betont völlig zu Recht, daß der lógos, die Sprache, als Alleinstellungsmerkmal des politischen Wesens (165 f.) den Kern jeder Menschenbildung – sowie eines entsprechenden Lehrplanes – ausmacht und als Kommunikationsmedium, von den Griechen vollendet, von den Römern gepflegt (167), heutige Präsentationstechniken im wahrsten Sinne in den Schatten stellt.

Die Erfindung von Wissenschaft und Philosophie (169-207), „Theater ist Kult“ – Tragische Trilogie und Satyrspiel, Alte (politische) und Neue (bürgerliche) Komödie (209-31), Olympischer Sport – und agonale Kultur (233-52), Nabel der Welt und Sitz der Sieben Weisen: Delphi und die Inszenierung von Glaubwürdigkeit (253-76), Erotische Konzepte, Asklepiosstab und der Eid des Hippokrates (277 ff.) sind weitere Momente, für welche „wir Hellas Dank schulden“, „Hellas Dank sei“ (231, 276, 299 u.ö.), auch für „unser tägliches Griechisch – Efcharistó, Hellás!“ (316). Die Begründung des Musendienstes aus bescheidenen Anfängen im 7./6. Jh. v. Chr. erlebt eine glanzvolle Institutionalisierung „als Leuchtturmprojekt staatlicher Kulturförderung“ (343) im Alexandria der Ptolemäer an der Wende des 4. zum 3. Jh. Der Niedergang des hellenistischen Mouseion, seiner Philologie und Bibliothek seit der Belagerung der Stadt durch Caesar (57 v. Chr.) mündet in spätantikem Vergessen; erst das Jahr 2002 erweist mit der Neuerrichtung der Bibliotheca Alexandrina griechischer Wissenschaft und alexandrinischer Muse – wir ahnen es – Dank (356).

Dies Alles wird in einer flüssigen und lebensnahen, auch für den Nichtspezialisierten gut verständlichen Sprache (nicht ohne manches Augenzwinkern) dargeboten. Hierbei wird man W.s Befund (11 f.) zustimmen, daß bei allen zahllosen, aber indirekten Rückgriffen auf unser gemeinsames kulturelles Erbe das Schulfach Griechisch als sein originärer Vermittler viel zu spärlich wahrgenommen und allzu oft einem platten, auf unmittelbare Nutz- und Anwendungseffizienz ausgerichteten Begriff von schulischer Allgemein- und Persönlichkeitsbildung geopfert wird. Ungeachtet hingegen, welches – unterschiedliche – Gewicht man im Einzelnen auf Gegenstände wie Adressaten des Dankes legen möchte, schließt sich Rez. der Gesamtaussage des Autors sehr wohl und gerne an.

Michael P. Schmude,  Boppard

aus: Forum Classicum 56 (2013) S. 65-67.

Zu-F-Maier-Meisterwerke-der lateinischen-Literatur

Zu-F-Maier-Meisterwerke-der-lateinischen-Literatur

Friedrich Maier: Meisterwerke der lateinischen Literatur – Beiträge zur Praxis der Mittelstufenlektüre, Bamberg (C.C. Buchner-Verlag) 2010. 269 S., € 28,– (ISBN 978-3-7661-5658-7).

Mittelstufenlektüre ist seit geraumer Zeit ein viel diskutiertes Problemkind der sich an den Spracherwerb anschließenden Phase des Lateinunterrichtes. Auch Fr. Maier (M.) hat sich mit kritischen Beiträgen (stellvertretend: ForClass 45 [2002], 175-185; 48 [2005], 252; Mittbl. DAV-NRW 58,1 [2010], 9 f.) an diesem „Dilemma der Mittelstufe“ beteiligt und mit seinem Lesebuch <Pegasus – Gestalten Europas> (Bamberg 2002 ff., Lehrerkommentar 2005 ff.) einen Weg zur Lösung des „Mittelstufenproblems“ gewiesen. Im Unterschied zu dieser Sammlung von Originaltexten (mit Begleitmaterial) zu Wegbereitern wie Grundfragen des modernen Europa von der Antike bis zum Humanismus liegt der Schwerpunkt des anzuzeigenden Werkes auf Lektürevorschlägen (Texte und Materialien), Interpretationsmodellen (mit Sachinformationen, didaktischen Hinweisen, Aufgabenstellungen und Aufträgen für die selbständige Arbeit), Unterrichtsprojekten und fachübergreifenden Modulkonzepten zu den (auch im Unterricht seit jeher) klassischen Basisautoren Nepos, Cäsar, Cicero, Sallust, Ovid, Catull und Martial mit ihren “literarischen Meisterwerken“. Dabei geht M. von der Tendenz aus, daß das weit überwiegende Gros der Schülerschaft das Fach Latein und somit auch die Latein-Lektüre zum Ende der Mittelstufe abschließt (6); dies erfährt der Rez. freilich anders.

Die Einleitung ‘klopft‘ die Lehrpläne der Bundesländer auf die im Kern angestrebten Bildungsziele (9 f.) ab und findet übereinstimmend zwei Bereiche: das kulturelle Gedächtnis Europas sowie die freie, wertebewußte und weltoffene Entfaltung der Persönlichkeit. Kontrast zwischen Antike – als dem “nächsten Fremden“ (U. Hölscher) – und Gegenwart zum Einen, Kontinuität einer über die Jahrhunderte gewachsenen Kulturtradition zum Anderen ergänzen sich im Leitmotiv ‘Modell‘, welches nicht mehr im Sinne von ’nachahmenswertem Vorbild oder Beispiel‘ (11), sondern als ‘Anschauungsmuster oder Denkmodell‘ verstanden wird. Die zugrundeliegende Bildungsidee ist die humanistische – im Doppelsinne der humanitas Ciceros als ‘Bildung und (Mit-)Menschlichkeit‘: ihre Verwirklichung kennzeichnete für diesen den höher, den philosophisch gebildeten Menschen, sie stellt heute programmatisch das Anliegen des humanistischen Gymnasiums und des Faches Latein (wie Griechisch) dar.

Aus den o.g. Bildungszielen werden in einer Art ‘Kerncurriculum‘ der Klassenstufen 9 und 10 für die einzelnen Autoren Interpretationsvorgaben abgeleitet (13): so für Cornelius Nepos “Dramatische Lebensschicksale großer historischer Gestalten – Wendepunkte der Weltgeschichte (z.B. Themistokles, Thrasybulos, Hannibal)“, für Sallust “Gesellschaftliche Mißstände: Kluft zwischen Arm und Reich – moralischer Verfall; Staatskrise durch Putschversuch Catilinas. Die Rolle von Frauen in der Politik“. Für Catull hingegen “Liebe und Leidenschaft. Das Leiden des liebenden Künstlers“, und für die Epigramme Martials die “Gesellschaftskritik. Invektiven gegen menschliche Schwächen“. Der Zugang zu den Autoren – als Beispiel sei hier Caesar genommen – erfolgt über eine Gesamtschau der Persönlichkeit in ihren Facetten, ihrem Lebensprogramm und ihrer Leistung für das Werden Europas. Nach Stimmen zum Autor (hier: Catull, Sueton) entlarven die empfohlenen Textpassagen zu seinem Agieren im Keltischen wie im Bürgerkrieg mit Pompeius Magnus den Machtmenschen im lebenslangen Wetteifer mit dem großen Idol Alexander. Die Sprachhaltung in der Selbstdarstellung, besonders den benannten Reden der Commentarii, die Spannung zwischen stilistischer Rationalität und emotionaler Tiefenwirkung (“mentale Symbole“) erweisen – unter Einbezug moderner Kommunikationspsychologie ebenso wie der antiken Theorie der Rhetorik (60-63) – den Psychagogen, nicht zuletzt auch im Umgang mit seinem ebenbürtigen Gegenbild, dem “ersten Freiheitskämpfer Europas“ Vercingetorix (78-98). M.s didaktische Folgerung, in Sprach- wie Textreflexion die jugendlichen Leser unserer Tage zu Caesars Erzählstrategie und seiner manipulativen Sprachführung hinzuleiten (76 f.; Critognatusrede 83-94), entspricht den Anliegen der Lehrpläne bundesweit und bereitet zugleich auf den Vollender rhetorischer Taktik in Diensten der/seiner Politik (hier: gegen Verres) M. Tullius Cicero vor. Ihn zeigt M. gleichwohl zum Anderen (115-125) Ad Quintum fratrem (epist. I 1) und vor der Disputation von Valladolid (1550) zwischen J. G. de Sepúleveda und B. de Las Casas als frühesten Lehrer allgemeiner Menschenwürde. Textstellen zur “Entschlüsselung des Welt-Codes“ in der ionischen Naturspekulation, zur Entdeckung des moralischen Bewußtseins für das eigene wie staatliche Zusammenleben in der Sokratischen Wende münden mit den Glücksmodellen der hellenistischen Philosophenschulen in die unverändert aktuelle und fundamentalste Frage nach dem (individuellen – W. Jens) ’Sinn des Lebens‘ junger Menschen auch im 21. Jh. (152) – ansprechbar gewiß am Ende der Klasse 10, sprachlich zu bewältigen und gedanklich weiter zu vertiefen für den Rez. aber eher im Verlauf der Oberstufe, und dieser leise Vorbehalt gegenüber M.s doch recht optimistischer Erwartung des sprachlichen wie inhaltlichen Standes schülerseitig zum Ausgang der Mittelstufe gilt auch für das Folgende.

Ovids “Blick in die Seele des Menschen“: Triebstrukturen und Leidenschaften großer Gestalten – Prokne und Philomela (Liebeswahn), Philemon und Baukis (Liebeslohn), die Lykischen Bauern (Boshaftigkeit), Dädalus und Ikarus (Wider die natürlichen Grenzen) – , ihre Schicksale im Spiegel des Mythos und seiner Rezeption, kurz: europäische Symbolfiguren (wie Orpheus und Eurydike) und ihr “Sitz im Mythos“ ebenso wie als Psychogramm des leibhaftig gegenwärtigen Zeitgenossen leiten die Sammlung aus den Metamorphosen (179-210). Das “kunstvolle Spiel mit dem Urtrieb des Menschen“ in Ovids Liebeslehre wird mit einem zyklisch aufgebauten und in Einzelthemen strukturierten Arrangement aus der Ars amatoria aufgefangen (213 f.): Auf dem Forum lauert die Venus – Treffpunkt Circus – Die Kunst der Eroberung – Liebe ist Kriegsdienst – Liebe ist Lust für Beide u.a. Durch die Jahrhunderte von den Disticha Catonis (3. Jh.) über die Carmina Burana und Petrarca (1356) bis ins 20. Jh. kontrovers rezipiert, stehe die vom modernen anthropologischen Standpunkt aus ernstzunehmende “Erotodidaktik“ (N. Holzberg) des tenerorum lusor amorum der 16- bis 18jährigen Jugend auf ihrem Weg der Persönlichkeitsentwicklung und Identitätsfindung (B. Boberg) durchaus nahe und stoße bei der Schülerschaft – auf Gegenliebe (223).

Jeder der von M. versammelten Autoren kann für sich in Anspruch nehmen, einem Kanon der Mittelstufenlektüre anzugehören. Die griffige Einordnung ihrer Schriften als “Meisterwerke“ wird im Zweifelsfalle für einen Nepos oder Sallust anders zu begründen sein als für Cicero oder Catull. Der Bogen für das “kulturelle Gedächtnis“(s.o.) ist hier sicher enger gefaßt als in der fons uberrima <Pegasus>. Gleichwohl wird im Reigen der ausgewählten Textvorschläge eine aktuelle, fachübergreifend (Paulus, Goethe und v. Ranke; Gluck und Orff; Th. Wilder, N. Luhmann u.a.) wie didaktisch verläßliche Interpretationsgrundlage geboten, welche flüssig und verständlich geschrieben durch eine dem Heute entnommene Begrifflichkeit (“Freiheitskämpfer, Staranwalt, Welt-Code“ u.a.) und den steten Blick auf den gemeinsamen Horizont Europa auch eine breitere und jugendliche Leserschaft zur Beschäftigung mit den maßgeblichen Schulautoren (des ersten Lektüreganges) zu motivieren in der Lage ist.

Michael P. Schmude

in: SCRINIUM 56, 1–2 (2011), S. 30-33.

Zu-E-Stein-Hölkeskamp-Das-archaische-Griechenland

Zu-E-Stein-Hölkeskamp-Das-archaische-Griechenland

Elke Stein-Hölkeskamp: Das archaische Griechenland – Die Stadt und das Meer, München (Beck) 2015 [C.H. Beck Geschichte der Antike]. 302 S., € 16,95 (ISBN 978-3-406-67378-8).

Der anzuzeigende Band bildet den Auftakt einer sechsteiligen Reihe des Beck-Verlages zur antiken Geschichte, welche den Bogen vom archaischen über das klassische Griechenland sowie den Hellenismus zur römischen Republik und Kaiserzeit bis in die Spätantike spannt. In acht Kapiteln entwickelt Stein-Hölkeskamp (StH.) hierin die Geschichte des vorklassischen Griechenland zwischen dem 12. und 6. Jh. v. Chr. und erweitert damit den konventionellen Epochenansatz um das Ende der mykenischen Zeit bis über die ‚Dunklen Jahrhunderte‘ hinweg. Die Vorstellung von einer Primitivisierung nach dem Niedergang der Paläste und einer Renaissance im 8. Jh. wird im Lichte anwachsenden archäologischen Materials aus der nichtliterarischen Zwischenzeit ebenso aufgegeben wie die Annahme eines linearen und überall parallel laufenden Prozesses, der bruchlos und im Sinne einer Kausalkette notwendig von den homerischen Helden über Solon zu Sokrates, von Adelsherrschaft und Tyrannis zur attischen Demokratie, von der Archaik als Vorgeschichte zur Klassik als Höhepunkt und Abschluß führte; vielmehr zeigen sich in regional versetzten Phasen Kulturkontinuitäten wie -brüche, geht der Weg vom Fürstenpalast Homers zur Polis, vom ansässigen Bauern zum Kolonisten und Bürger in einem Nebeneinander von Handlungssequenzen, welche vormals in kontinuierlicher Abfolge gesehen wurden (S. 12-14).

Die einzelnen Kapitel fügen sich einer gemeinsamen Ordnung: nach einer einleitenden Passage, welche durchweg die frühe griechische Dichtung, aber auch Philosophie oder Herodot sprechen läßt, wird der systematische, Groß-Hellas zusammenschauende Hauptteil der Darstellung durch Fallstudien unterlegt, die am Beispiel der Mikrogeschichte einzelner Poleis Entwicklungen diachron nachzeichnen und – über die bestbezeugten Athen und Sparta hinaus – den geographischen Rahmen auf das ‚andere Griechenland‘ hin weiter abstecken, abgeschlossen wiederum durch ein Fazit, welches die Eingangs- bzw. Grundüberlegungen unterstreicht und dabei Ergebnisse der Fallstudien mit einbindet. Überdies werden die auf die Kapitel verteilten gesellschaftlichen Gruppen in den Fallstudien zusammengeführt, in deren Rahmen sie wiederum als kooperierende oder konkurrierende dramatis personae den Werdegang ihres Gemeinwesens auf je eigene Weise gestalten. Die ersten beiden Abschnitte nehmen einen gemeinsamen Bezugspunkt und beleuchten ihn aus unterschiedlicher Quellensituation und zeitlicher Perspektive: die Palastanlagen, für welche namengebend diejenige des festländischen Mykene wurde, erlebten ihre Blütezeit im 14./13. Jh. und standen ihrerseits unter dem Einfluß der jüngeren minoischen Zivilisation auf Kreta (17.-15. Jh.). Neben den architektonischen Zeugnissen etwa von Pylos und Tiryns auf der Peloponnes, Theben in Boiotien, Jolkos in Thessalien sowie zahlreicher ‚mykenischer‘ Siedlungen außerhalb dieser Zentren (und von unterschiedlicher Ausdehnung) geben insbesondere die Tontäfelchen des Linear-B Einblick in die hierarchische Struktur dieser den vorderasiatischen Stadtmonarchien ihrer Zeit verwandten, dazu untereinander wie ‚international‘ bestens vernetzten Gesellschaften, ihren sozialen Aufbau, ihr Wirtschafts- und Abgabensystem, ihr Gefolgschaftswesen (S. 25 f.). Mit dem Untergang der zentralistischen Hochkultur wurde eine Schrift offenbar entbehrlich, die Paläste verfielen unwiederbringlich, die Herrscherfiguren erhielten ihren Platz im Mythos. Gleichwohl ist eine submykenische Tradition und gar postpalatiale Blüte lokal wie politisch begrenzter, aber weiterhin auch überregional agierender Fürstentümer bis Mitte des 11. Jh. durch Keramikfunde und Grabbeigaben belegt. Erst ab etwa 1075 kann man aufgrund des Fehlens materieller wie schriftlicher Zeugnisse tatsächlich von ‚Dunklen Jahrhunderten‘ sprechen (S. 37), durch welche hindurch wiederum und entgegen einem kontinuierlichen kulturellen Fortschrittsprozess auf der Ebene der Grundstrukturen bescheidenere autonome Einheiten überdauerten und zum Fundament des gemeinsamen Polissystems werden konnten.

Die ‚Welten des Homer‘ auf der anderen Seite sind durch Alphabet und Schriftlichkeit geprägt, die Palastzeit Geschichte, ihre epische Darstellung in den spätmykenischen Lebensverhältnissen bereits durchzogen von den gesellschaftlichen Umbrüchen des 8. Jh.: Gegenstand indes sind noch die Machthaber der früheren Epoche in ihrem Ringen untereinander, gesehen mit den Augen einer neuen Zeit und ihres Aufbruchs. Im Vordergrund steht hierbei die Frage, ob und in welchem Maße diese literarisierten Textzeugen einer mündlichen Erzähltradition Aussage- und Quellenwert für die zeitgenössischen Gesellschaftsstrukturen haben, zu deren Legitimation sowohl eine Vergangenheit schaffen als auch eine gestalterische Zukunftsprojektion entwickeln (S. 60). Jedenfalls spielen Ilias wie Odyssee innerhalb der Polisrealität späterer Jahrhunderte und damit zur Zeit ihrer Verschriftlichung (S. 67), ist „in den Epen die Polis bereits allgegenwärtig“ (S. 79). Dies bestätigt sich in der Fallstudie der phäakischen Königsstadt Scheria (Od. 6 ff.), welche bereits das Verschmelzen monarchischer und polisdemokratischer Elemente zeigt (S. 95). Im Unterschied zur konventionellen Herangehensweise zieht StH. (S. 14) die Behandlung der frühgriechischen Kolonisation derjenigen der Polis vor, indem sie – literarische (Texte) und archäologische (Steine) Quellen gegeneinander abwägend – Migration nicht als Folge von demographischen und/oder ökonomischen Schwierigkeiten im Mutterland sieht, sondern das beidseitige Ringen der Gemeinschaften um auskömmliche Siedlungsstrukturen herausstellt: Kreativität im Aufbau und – phasenverschobene – Innovationserfahrungen in den einzelnen Neugründungen konkurrieren mit Reorganisationsprozessen, die sie bei den ‚Zurückgebliebenen‘ erst anstoßen, ein Lernfortschritt, welcher die Verbreitung neuer sozialer und politischer Modelle in der alten wie neuen Welt beförderte (S. 119 f.). Motive mögen Stáseis (Bürgerkriege), Streben nach neuen Handlungsspielräumen, bloße Abenteuerlust gewesen sein, von der Heimatgemeinde geplante Unternehmungen homogener Gruppen indes nur in Einzelfällen – die von StH. dann aber eingehend charakterisiert werden (S. 102 ff.). Der durchweg aristokratische Anführer (Oikístes) besorgt zugleich die kultische Legitimation in einem Gründungsmythos, und die Erwartungen dieser höchst mobilen (und zahlenmäßig kleinen) Gruppen wie ihre Erfahrungen jenseits der heimischen Oíkoi im Westen, an der Schwarzmeer- und nordafrikanischen Küste seit der Mitte des 8. Jh. dürften in den idyllischen nicht weniger als in den Horrorgeschichten der zeitgleichen homerischen Odyssee ihr poetisch-verschriftlichtes Echo gefunden haben.

Die stadtstaatliche, in sich geschlossene und mit je eigenen Institutionen, Normen und Identität ausgestattete Polis als Kult- wie politische Gemeinschaft (sowohl oligarchischer als auch demokratischer Variante) teilt sich mit anderen Poleis einen gemeinsamen geographischen wie kulturellen Raum; innerhalb dessen wettstreitet sie zugleich wirtschafts- und machtpolitisch – was Kriege als eine „typische Form der Interaktion zwischen Poleis“ miteinschließt (S. 124). Nach innen ist sie wiederum verzahnt mit einem bewohnten ländlichen Raum bzw. Hafenumland als unabdingbarem wirtschaftlichen Einzugsgebiet und binnenuntergliedert in Phylen, Demen und weitere Kleineinheiten (S. 135). Im Unterschied zu den hierarchisch aufgebauten und ständisch gegliederten frühen Hochkulturen findet die souveräne und selbstbestimmte Polisbürgerschaft ihren gemeinsamen Raum im urbanen Zentrum mit Agora, Verwaltungsgebäuden, Heiligtümern und Feststätten, wie sie sich (von der Autorin an zahlreichen Beispielen im Einzelnen belegt) seit dem 8. Jh. insbesondere in den Siedlungsgebieten des Westens herausbilden und von dort aus erst in die Poleis des Mutterlandes zurückwirken – nicht zuletzt im Zeugnis der schreibenden Zeitgenossen (S. 126 f.). Entwicklungslinien dieser autonomen soziopolitischen Einheiten mit periodisch wechselnden, aber sachbezogen zuständigen Ämtern, mit vorberatenden, geschäftsführenden und kontrollierenden Ratsorganen sowie mit beschlussfassenden Versammlungen der Vollbürger samt „geregelter Interaktion“ in der Öffentlichkeit der Agora vollzieht StH. in aller Vielfalt von der Königszeit in Ilias und Odyssee an (S. 140 ff.).

Auf das Konzept der Polis folgen in der Behandlung konsequent die tragenden Bevölkerungsgruppen: Bauern – Aristokraten – Bürger, eingelegt: die Tyrannis (S. 221-55). Das archaische Griechenland war ein bäuerliches, das von den Bauern bewirtschaftete Umland bildete Rückgrat und Basis der Kernsiedlungen (S. 159 f.). StH. beschreibt detailliert und in Anbindung an deren literarischen Widerhall soziale Strukturen sowie Lebens- und Arbeitsverhältnisse zunächst Regionen übergreifend, um sie dann für die überschaubare Umgebung des dichtenden Landwirts Hesiod (S. 170 f.) anhand einer Interpretation von dessen Werken und Tagen in der Fallstudie Askra (Böotien) punktgenau zu verifizieren. Krise und Bedrohung dieser Welt bereits seit dem 8. Jh. durch Erbrecht, Demographie und Klima, durch das Fehlen eines nennenswerten exportfähigen Handwerks wie Handels finden ihr Echo um 600 in den Reformen Solons, der Umgang der lokalen Führungsschicht (Basileís) damit in seinen Elegien (S. 182-84). Die als Gruppe offene, durch individuelle – ökonomische, soziale, moralische – Überlegenheitsmerkmale definierte (S. 188) Aristokratie maß sich untereinander in permanentem Wettbewerb, nach innen auf dem kultivierten und ‚netzwerkenden‘ Symposion, nach außen bei den panhellenischen Agónen – Fallstudie natürlich: Olympia – , die in den Siegerskulpturen künstlerische, in den Epinikien (Pindar) poetische Verarbeitung fanden (S. 201-04). Die Umbrüche der adligen (Fernhandel, Kriege, Stáseis), mit der bäuerlichen durchaus verwobenen Schicht spiegelt StH. in der Lyrik des 7./6. Jh. (Alkaios, Theognis), und Dichter wie Archilochos, Tyrtaios und Xenophanes bereiten (S. 218 f.) in ihren auf den Gemeinnutz zielenden Wertmaßstäben für eine bislang selbstbezogene Prominenz und deren tyrannischen Superlativ (S. 254) den Übergang zu einem Polisbürgertum vor. Neue Strukturen von Zugehörigkeit und Teilhabe an Entscheidungsprozessen auf kommunaler Ebene – so in Attika (S. 270-73) die Demen- und Phylenreform des Kleisthenes (509/08) – bereiten den Boden für das Zusammenspiel der politischen Einheiten in klassischer Zeit.

Ein ganz großes Plus dieses Buchs ist die konsequente Gliederung und der überall klare Aufbau. Der trotz zahlreicher Fachtermini auch für Nicht-Fachleute stets gut erklärte und flüssig aufzunehmende Text, von Karten, Zeichnungen und Abbildungen passend unterstützt, ist nicht ganz frei von Wiederholungen in Einzelnem, und mancherorts lässt ein ‚behagliches‘ „dieses … aber jenes auch“ eine wünschenswerte Klärung offen, doch vielleicht ist das in einem einführenden Handbuch nicht anders angebracht. Ein knapper Anmerkungsapparat (S. 279-82) belegt nahezu ausschließlich die in allen Kapiteln zahlreichen Textzeugen der (meist) zeitgenössischen griechischen Originale. Das Literaturverzeichnis ist gleichfalls kapitelweise aufgefaltet und stellt den Titeln (durchweg neueren Datums) jeweils einen kurz gefassten, informativen Forschungsbericht voran. Ein Namens- und Ortsregister beschließt diesen kundigen und lesenswerten Gang durch die frühe, eigenständige Phase hellenischer Geschichte zwischen Stadt und Meer.

Michael P. Schmude, Boppard

aus: FORUM CLASSICUM 58 (2015), S. 194-197.

Zu-Schulz-Walter-Griechische-Geschichte

Zu-Schulz-Walter-Griechische-Geschichte

Raimund Schulz / Uwe Walter: Griechische Geschichte – Bd. 1: Darstellung; Bd. 2: Forschung und Literatur. Berlin (de Gruyter) 2022 [Oldenbourg Grundriss der Geschichte Bd. 50]. 278 und 378 S., jeweils € 24,95 (ISBN 978-3 486-58831-6 und 978-3-11-076245-7).

aus: FORUM CLASSICUM 65 (2022), S. 393-395.

Diese Neubearbeitung des ersten Bandes zur Griechischen Geschichte von W. Schuller (1980 – dazu P. Siewert: HZ 236 [1983], S. 134; 62008) behält zum Einen die bewährte, dreigeteilte Konzeption der seit 1978 kontinuierlich wachsenden Reihe OGG bei: Darstellung – Grundprobleme und Tendenzen der Forschung – Quellen und Literatur. Zum Anderen betrachtet sie die weiträumigen Verflechtungen innerhalb des mediterranen Raumes und Griechenland im Rahmen wechselnder Großreiche der Antike (innerhalb der Reihe → Bd. 25 Geschichte Altvorderasiens 22011); Hauptstichworte sind Mobilität, Migration und Kolonisation, Krieg und Bundessysteme sowie die Entwicklung des Polis-Begriffes in seinen regionalen Modellen und Varianten. Dabei wird mit der Zeitspanne von ca. 800-322 v. Chr. die Epochengrenze zum Hellenismus gewahrt, welchen schon in der ursprünglichen Bandaufteilung H.-J. Gehrke (1990, 42008) fortgeführt hatte; voraufgehend Bd. 46 Die Entstehung Griechenlands (2020) – geplant 52 Die ägäische Welt. Troja, Kreta und Mykene – und ‚nach vorne‘ abrundend Bd. 22 Byzanz 565-1453 (42011). Zugleich führen die beiden zu besprechenden Teilbände die Entwicklung der Reihe von einem eher eurozentrierten Standpunkt zum Einbezug des auch außereuropäischen sowie prähistorischen Umfelds konsequent fort. Unter diesem Aspekt sollten gesellschaftliche Sachthemen wie Religion, Wirtschaft, Haus und Familie nicht unberücksichtigt (integriert in c. 2.2/3, s.u.), aber z.T. ausgeklammert bleiben und für sie auf die parallel angelegte Enzyklopädie der griechisch-römischen Antike EGRA verwiesen werden, um die übergeordneten politischen Strömungen in ihren – nicht zuletzt gedanklichen – Voraussetzungen, wechselseitigen Bedingt- und Abhängigkeiten umso profilierter herauszuarbeiten.

Der thematische Aufbau entspricht sich (bis auf Details – wichtig: Bd. 1, S. 175 ff. Ein bipolares Hellas?; Bd. 2, S. 130 ff. Konstruierte Identitäten = Mythen, Vergangenheitsfiktionen, Barbaren, Hellenen) in den Kernteilen von Band 1 und 2. Am Anfang stehen Traditionen und Lebensumwelt einer griechischen Geschichte hier, methodische Kategorien in Forschung und Studium dort. Danach gliedern vier Hauptkapitel, im Umfang beiderseitig abnehmend, den beschreibenden wie den problemorientierten Teil: Grundstrukturen und Basisprozesse – Facetten der griechischen Staatenwelt – Die Griechen machen große Politik (550-400) – Neue Machtkonstellationen und Transformationen des Politischen (400-322). Eine umfassende chronologische Übersicht, stimmig gegliedert in Naher Osten und Kleinasien – Griechische Halbinsel und Ägäis – Großgriechenland und der Westen (vertieft durch eine detailliertere zu Athen S. 129-131), ein den Kapiteln sachlich folgender Kartenteil (ohne den Alexanderzug), ein elementares Auswahlglossar sowie dieses ergänzende Namens- und Sachregister, ferner ethnische und geographische Indices machen bereits den ersten Teil zu einem auch eigenständig verwendbaren Handbuch. Den Forschungsüberblick des 2. Bandes beschließt als dritter Teil ein ausführliches Literaturverzeichnis, welches den Aufbau der ersten beiden nachvollzieht und begleitet, dazu erneut das o.g. dreifache Register mit gemeinsamen wie modifizierten Einträgen.

Der Erzählfaden setzt ein mit den bronzezeitlichen Ägäis-Kulturen am Rande des ‚Fruchtbaren Halbmonds‘ der Großmächte Ägypten, Babylon und der Hethiter. Dezentral, also ohne übergeordnete Führung in ihrem Binnenverhältnis zueinander organisiert, werden die minoisch-mykenischen Paläste als wirtschaftliche und politische Leitstruktur (mit der Verwaltungsschrift Linear B) nach 1050 von den sogen. ‚Dunklen Jahrhunderten‘ abgelöst. Deren Wechsel zwischen wandernd-pastoralen und sesshaft-agrarischen Lebensformen (und dem Übergang von Kupfer und Zinn zum Eisen als Gebrauchsmetall) mündet schließlich in die gemeinschaftlich verfassten Personenverbände der Archaischen Epoche (ab dem 8. Jh.). Der transregionalen Migration begrenzter Gruppen (nicht: ‚Stämme‘ im Sinne etwa einer ‚Dorischen Wanderung‘) entspricht die Ausbildung unterschiedlicher Dialekte eines früheren Griechisch sowie die adaptierende Übernahme der phönikischen zu einer griechischen Alphabetschrift. Bei aller Vielfalt lokaler Ausprägungen unter dem gemeinsamen Dach von Sprache, Schrift und sozio-kulturellen Praktiken, aber auch von Selbstdeutungen im Mythos – literarisiert im Epos – sprechen Texte ab dem 7. Jh. von ‚Hellenen‘. Demgegenüber werden im Forschungsband die Archaik als Epoche in Frage gestellt und chronologisch-lineare Narrative zugunsten kultureller Sachfelder dekonstruiert. In solche gliedert sich sodann auch die Darstellung: so der Oíkos als ordnungspolitischer Baustein eines sich ab 600 institutionalisierenden Gemeindekollektivs; Handelsnetze und Marktorientierung als ökonomischer Rahmen für Migration und Expansion; Schichtungen innerhalb der Pólis als soziale Distinktionen (Solon um 580 in Athen) zwischen aristokratischen Híppeis, bäuerlichen Zeugiten und besitzlosen Theten (darunter unfreie Schuldknechte und Sklaven). Der Polis in ihren Spielarten als Tyrannis, Oligarchie oder Demokratie (Syrakus, Sparta, Athen) stehen alternative Organisationsformen wie das Éthnos (Phoker), der Bundesstaat (Boiotien, Arkadien, Thessalien) oder kultisch zentralisierte Amphiktyonien (Delphi, Paniṓnion) gegenüber; zum Anderen und ohne eigene Staatsqualität hegemonial begründete Kampfbündnisse (Symmachien), so der Peloponnesische Bund (ab Mitte des 6. Jh.), der Attische Seebund (nach Salamis 480) oder (unter Philipp II. 337) der Korinthische Bund. Parallel dazu hier wie im Folgenden Forschungsbericht(e) in Bd. 2 aus Sicht des aktuellen historischen Diskurses.

Gestaltungsräume für Hellenische Geschichte sind Großregionen: für die Magna Graecia (Unteritalien und Sizilien), den „Mittleren Westen der griechischen Welt“ (S. 91), stehen Syrakus und Massilia. Das Mutterland (mit Delphi als religiösem Bezugspunkt) entwickelt im Athen des Kleisthenes und Perikles, in Sparta von Kleomenes I. bis Agesilaos II. (520-359) und während Thebens Dekade zwischen Leuktra und Mantíneia unter Epameinondas († 362) seine politisch-militärischen Triebkräfte. Korinth am Isthmos hat sich als Drehscheibe für Handel wie für Siedlungsbewegungen (insbes. gen Westen) zwischen wechselnden Ambitionen expansiver Mächte zu behaupten, während im Süden Kreta als Umschlagplatz in den Nahen Osten und Nordafrika von Beginn an eine relative Selbständigkeit und nach innen gerichtete Eigenentwicklung wahrt. Ein Netzwerk namhafter Poleis des Ostens, die im Rahmen mutterländischer Kolonisation seit ca. 1000 v. Chr. an der Küste Kleinasiens gegründet werden, repräsentiert Milet, Hafenstadt am Mäander und Knotenpunkt maritimer Verkehrsrouten: über das ionische „Venedig“ (S. 92) laufen die Wirtschaftsbeziehungen von Ägypten und der Levante durch den Bosporus bis zu den Apoikíen rund um das Schwarze Meer. Die mediterrane Weltbühne bestimmen griechische Poleis noch mit der gemeinsamen Abwehr einer Aggression aus dem Osten in den Perserkriegen, bevor sie sich in den innergriechischen Konflikten des Peloponnesischen Krieges und seiner nachfolgenden Parteiungen selbst ‚zerlegen‘ und nach dem Korinthischen Krieg einem wiedererstarkten Persien im allgemeinen ‚Königsfrieden‘ von 386 fügen müssen. Die Ausbreitung des Makedonenreiches seit etwa 350 unter Philipp II. führt die noch einmal auf Initiative Athens vereinten Griechenstädte in die Niederlage bei Chaironeía (338). Mit dem Zug seines Sohnes Alexander seit 334 gegen das Persische Großreich (Granikos, Issos, Gaugamela) – auch er ‚im Auftrag‘ des Korinthischen Bundes zur Sühnung der einstigen Verwüstungen an den Heiligtümern Griechenlands – sowie nach Ägypten und Indien und einem „letzten Aufbäumen“ griechischer Poleis im Lamischen Krieg unter Hypereides und Demosthenes († 322) schließt auch der hier skizzierte historische Abriss.

Mithin bieten Darstellungs- wie Forschungsteil – gemäß der Zielsetzung der gesamten Reihe – den angekündigten struktur- und grundlagenorientierten Epochenüberblick. In durchweg anregendem Sprachduktus wird hier ein kompakter, gleichwohl für Studierende wie Lehrende jederzeit gut verständlicher und angenehm lesbarer Zugriff auf den unterschiedlichen Werdegang griechischer Gesellschaften von der Bronze- und Palastzeit bis zu ihrer Neuausrichtung unter makedonischer Hegemonie vorgenommen.

Michael P. Schmude,  Lahnstein

Zu-GA-Caduff-Antike-Sintflutsagen

Zu-GA-Caduff-Antike-Sintflutsagen

GIAN ANDREA CADUFF, Antike Sintflutsagen (Hypomnemata – Untersuchungen zur Antike und zu ihrem Nachleben 82). Göttingen 1986, pp. 308.

Aus: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 39 (1987), pp. 285-86.

[285]  C.s. Arbeit nähert sich dem Sintflutgedanken im Rahmen des jeweiligen mythologischen Kosmos, mithin als bildhafter Äußerung einer bestimmten Weltsicht; bewußt vermeidet er historisierende Interpretationen im Sinne eines Reflexes faßbarer Ereignisse aus der Urzeit. Sein reicher Quellenteil (S. 16-72) wie dessen eingehende Analyse (S. 73-199) richten sich in erster Linie aus an der Gestalt des Flutheros sowie an den systematisierenden Einbettungen des Flutmotivs in Philosophie, Astrologie und Geschichtsschreibung; einzelne Flutberichte, Götterstreit als mythischer Ausgangspunkt und aitiologische sowie topische Verwendungen runden die ausführlichen Sammlungen ab.

Gemeinsam ist den Flutheroen, daß jeweils verschiedene Lokaltraditionen Anspruch auf sie erheben: Deukalion lassen die ältesten Zeugen Hesiod und Pindar nach seiner Rettung in die lokrische Nachbarschaft des Parnaß gelangen, während genealogische Bestrebungen im Sinne einer „Hellenentheorie“ ihn nach Thessalien (Hellanikos) und Dodona (Aristoteles) übertragen: nach seiner Verknüpfung mit Hellen, dem Stammvater, bzw. Hellas als Stammland der Hellenen ,wandert‘ Deukalion in dem Maße, wie deren Lokalisierung strittig wird, und ermöglicht einzelnen Regionen und Dynastien die Anbindung an das „panhellenische Stemma“. Beeinflussung durch die ältere orientalische Tradition, möglicherweise parallel zur Übernahme hethitischer Mythen seit der dorischen Wanderung – eine literarische Vermittlung ist erst mit Berossos von Babylon um 300 v. Chr. denkbar – , steht für C. außer Zweifel, wenngleich eine direkte Vorlage nicht nachzuweisen ist (S. 132).

Umstrittener ist eine eigenständige Flutsage um Dardanos, den Stammvater des trojanischen Herrschergeschlechtes, und Samothrake (Lykophron; Dionys von Halikarnaß nennt Arkadien als Ausgangspunkt); schon der älteste Zeuge Platon ordnet sie zeitlich der deukalionischen Flut bei.

Philosophisch steht der Flutgedanke innerhalb einer Entwicklung ,vom Feuchten zum Trockenen‘ (Anaximander, Xenophanes), erhält andererseits als Pendant zum Weltenbrand (Philólaos, Lukrez) bzw. zur stoischen Ekpýrōsis (Diogenes von Babylon) mit der periodischen Abfolge epochenstiftende Wirkung und bildet im ,Großen Jahr‘, einem sich zyklisch wiederholenden Zusammentreffen der Planeten in einem Sternzeichen, den ,kosmischen Winter‘ (Aristoteles). Die zeitliche Reihung einzelner Fluttraditionen in den Chroniken nimmt der Katastrophe ihre urzeitliche Einmaligkeit und macht sie zum historisch faßbaren Ereignis; so kennen späte griechische Vorstellungen eine Folge von ogygischer, deukalionischer und dardanischer Flut, während in der christlichen Chronographie die biblische Sintflut allen vorausgeht. Als (lokale) Kulturentstehungsschwelle dient eine Flut dem Geschichtsabriß des Zenon von Rhodos, während der Kataklysmós Deukalions im platonischen Timaios im Sinne einer ,Überlieferungsgrenze‘ den Bruch im griechischen Geschichtsbewußtsein markiert; mit diesem „ältesten geschichtlichen Bezugspunkt“ (C. S. 184) abgestimmt und somit eine Konstruktion der Chronographie (seit Kastor von Rhodos) scheint die jüngste, ebenfalls nachplatonische Fluttradition um den Titanen Ogygos: Varro setzt ihn als König von Theben um 2100 v. Chr. an, christliche Autoren synchronisieren die ogygische Flut in Attika (u. a. Clemens von Alexandria) mit dem Auszug der Israeliten aus Ägypten (lulius Africanus). Eine nichtsystematisierte Eigenbezeugung findet sich freilich nicht.

Durchaus einleuchtende, jedoch stets behutsam vorgetragene theologische Folgerungen zieht C. im dritten Abschnitt „Interpretationen“ (S. 200-81): die
[286]  Aufhebung der kosmischen Ordnung und ihre Rückversetzung in den ungeordneten vormaligen Urzustand entzieht sich in den ursprünglichen Flutüberlieferungen der Frage nach der Theodizee gemäß menschlichem Schuld-Sühne-Denken. Symbol für die Schwelle zum Neubeginn nach der Katastrophe wird im orientalischen Bereich „das Opfer (des geretteten Helden) auf dem Berge“, im abendländischen die Rolle des Heros als Kulturstifter (← Prometheus). Dieser erfüllt quasi ein Aussetzungs- (vergleichbar einem Sündenbock-) oder Erlösungsopfer- Ritual: die großen Sintflutgestalten des Orients (Utnapištim, Xisuthros, Atrahasis, Gilgameš) verlassen im Zuge der Flut das Diesseits, um, da (vorgeblich persönlich) dem höchsten Gotte (Enlil) verhaßt geworden, durch diesen (im Ritus fest verankerten) Akt dessen Zorn von den Menschen zu nehmen und die kosmische Harmonie (zwischen Ober- u. Unterwelt) zugunsten ihres Geschlechtes wiederherzustellen.

Mit (in Gestalt des Flutheros) überstandener Sintflut ist der Mensch „als fester Teil der Schöpfung anerkannt“ (C. S. 276); und so findet neben dem Gefühl der „eigenen Existenzberechtigung“ das allmähliche Aufkommen einer Sinnfrage an das Handeln der Götter „ein Stück weit“ (C. S. 281) Ausdruck auch in den Traditionen von der Großen Flut.

                                                                                                 MICHAEL P. SCHMUDE

Da: Rivista di Storia e Letteratura religiosa 24 (1988), pp. 347-50.

[347] Il racconto del diluvio universale, che si abbatte sulla terra con gli effetti di una catastrofe e distrugge ogni forma di vita su di essa facendo sopravvivere solamente un resto privilegiato, da cui prende inizio una nuova era, e, nelle sue molteplici forme, il più familiare alla maggior parte dei cicli leggendari popolari. Il lavoro di Caduff (originariamente una dissertazione presentata a Zurigo con W. Burkert nel 1978) si avvicina alle tradizioni letterarie dell‘ Occidente e alla cultura dell’Antico Oriente, distaccandosi volutamente dalle interpretazioni storicizzanti ehe leggono il racconto del diluvio come riflesso di un fatto realmente accaduto in tempi antichissimi; egli lo interpreta invece come elemento, da un lato, del cosmo mitologico di quei tempi e perciò espressione immaginosa di una ben precisa visione del mondo, dall‘ altro considerando il modo in cui viene a strutturarsi nel rito (pp. 11-13).

Per classificare (pp. 16-72) ed analizzare (pp. 73-199) il ricco materiale delle fonti, Caduff utilizza come punto di riferimento innanzitutto la figura dell‘ „eroe del diluvio“, in primo luogo Deucalione, poi Dardano e (ormai in via di sistemazione) Ogige, il loro collegamento con diverse tradizioni locali e, nel contempo, l’inserimento del motivo del diluvio nella filosofia, nell‘ astrologia e nei racconti storici; singoli racconti di diluvio, lotte di dei come mitici punti di partenza e loro utilizzazione a scopo sia eziologico sia topico completano le ampie raccolte.

La versione più diffusa dei racconti del diluvio e collegata al nome di Deucalione e trova la sua rappresentazione più nota nella „Vulgata di età imperiale“ nel primo libro delle Metamorfosi di Ovidio (160-415 passim); nonostante il racconto particolarmente dettagliato delle varie fasi, questa tradizione offre pochi elementi concreti; Deucalione non è niente di più di una sigla (Caduff p. 73), una semplice indicazione geografica del Parnaso (in Focide), intesa non come determinazione del luogo della catastrofe. In base ad altre fonti risulta chiaro ehe non si può parlare né di una tradizione del diluvio relativa alla Grecia in generale, né di un‘ idea originaria del diluvio che interessa tutto il mondo (che corrisponderebbe ad un‘ immagine di stampo Orientale).

Le testimonianze piu antiche e sicure (Esiodo fr. 234 M-W e Pindaro, Ol. IX, 41-56) collocano il materiale riguardante Deucalione in territorio locrico intorno al Parnaso, a cui l’eroe del diluvio, dopo la sua salvezza, sarebbe arrivato (collegamenti con Delfi „che si trova sull‘ altro lato“ di questo centro originario del racconto greco del diluvio si basano su fonti più recenti, Caduff pp. 77 e 122). D‘ altra parte – come Caduff riesce a mettere in luce – non si può prescindere da considerazioni relative al problema genealogico, nel senso di una „teoria degli Elleni“, che spostano Deucalione in Tessaglia (Ellanico, FGrHist. 4 F 6 ab e 117)  [348]  e lo collegano ad Elleno, padre originario dei Greci ehe là aveva le sue radici e lo fanno diventare suo figlio (Ps. Apollodoro, Bibl. T 49). La medesima tendenza, il collegamento cioè di Deucalione con la terra che generalmente si considera originaria degli Elleni, comporta anche il suo collegamento con la città di Dodona nella Grecia nord-occidentale (Aristot. Meteor. 352 ab); una volta presupposto il collegamento con Elleno, vale a dire con la regione dell‘ Ellade (originariamente tessalica, cfr. Hom. Il. II 683 e altrove), Deucalione „vaga“ nella misura in cui diventa incerta la localizzazione dell’Ellade; lo spostamento in Epiro, nei Nostoi omerici con la figura di Neottolemo, rende possibile la genealogia molossa che là ha le sue radici (cfr. Pind. Nem. IX 37-40) e il collegamento con lo „stemma panellenico“ (Caduff p. 106). La fuga di Deucalione ad Atene (Marm. Par., FGrHist. 239 A 2/4 per l‘ anno 1528/7) e l’attribuzione di Anfizione come figlio e fratello (più giovane) di Elleno (Ps. Apollod. Bibl. I 49; ma cfr. ib. III 187 e FGrHist. 239 A 5 f.) sulla base di un confronto con le liste dei re di Atene (← Ellanico) favoriscono l’incorporazione di una genealogia panellenica (Caduff pp. 108 s.). Le testimonianze più recenti sui santuari di Zeus Olimpio in Atene (cfr. FGrHist. 239 A 4; Caduff pp. 111-13) e di Zeus Afesio in Argo (Arriano, FGrHist. 156 F 16) richiamano a loro volta (con giuste riserve da parte di Caduff p. 114) la tradizione di Dodona (cfr. Delfi).

Per quanto riguarda l‘ influsso che la tradizione Orientale esercitò sul mito di Deucalione – accanto al racconto noachico di Genesi ( VI 5 – IX 17; testimonianze per una equiparazione di Noè e Deucalione si trovano nella letteratura cristiana delle origini, in particolare gnostica in Caduff pp. 31-35) – ci si rifà al racconto sumerico conservatoci solo in frammenti e alle due epopee accadiche su Atraasi e Gilgameš; varianti locali collegano Deucalione al santuardo della dea Syria a Gerapoli (D. – Sisytheos in Luciano, Syr. D. 12 f.) e all‘ eroe frigio del diluvio Priaso (Nonno Dionys. 13, 520-44). Già Esiodo mostra di conoscere alcune tradizioni orientali, ma solo con i Babyloniaka di Beroso (FGrHist. 680 F 4, intorno al 300 d. C ), si può pensare ad un tramite letterario (mito di Xisuthros/Ziusudra; Caduff pp. 123s). Sebbene non sia possibile dimostrare l‘ esistenza di un modello Orientale diretto per il materiale relative a Deucalione, non si può mettere in dubbio la sua dipendenza da tradizioni molto più antiche (vale a dire sumeriche), formatesi con ogni probabilità parallelamente all‘ assunzione di miti ittiti a partire dalle migrazioni doriche (Caduff pp. 129-132).

Dati questi presupposti un racconto del diluvio indipendente relativo a Dardano, il padre originario della stirpe regia troiana (Hom. Il. XX 214 ff.), e alla Samotracia è discutibile; come fonte principale (e quindi relativamente tarda) Caduff indica qui (p. 39s./136) l‘ Alexandra di Licofrone e gli scolii da essa dipendenti (Joh. Tzetzes). Caduff, piuttosto, mostra che già nelle più antica testimonianza di Platone non avevano avuto esito i tentativi di sincronizzazione con il diluvio di Deucalione – e tanto meno lo avrebbero potuto avere nella cronologia più tarda –; e così anche il collegamento di Dardano con la Samotracia – da cui egli si dice sia fuggito quando il diluvio si abbattè sulla Troade d‘ Asia Minore (p. 134) – dipende da fonti che, sebbene antiche, sono però secondarie (Hes. fr. 117 M-W; Ps. Apollod. Bibl. III 138). La testimonianza di Diodoro (Bibl. hist. V 47, 2-48, 3) rispecchia il carattere chiaramente locale di una tradizione samotracica del diluvio (per di più anteriore a Dardano) che per nessun aspetto avrebbe già avuto la sua fissazione nel rito (Caduff p. 141).  [349]  L‘ Arcadia come punto di partenza per un racconto di Dardano e già nota a Dionigi di Alicarnasso (Ant. Rom. I 61, 1-3).

Della presenza dei motivi del diluvio universale nella filosofia di ambito sapienziale (pp. 142-146), nell‘ astronomia (pp. 146-153) e nella storia (pp. 154 ss.), trattati in seguito da Caduff, non possiamo qui che parlare a grandi linee: le testimonianze filosofiche descrivono la catastrofe del diluvio da un lato nel corso del suo sviluppo „dalle acque all‘ asciutto“ (Anaximand. VS 12, A 11, 1; Xenophan. VS 21, A 33, 5/6) dall‘ altro in collegamento con l‘ incendio del mondo (Philolaos VS 44, A 18; cfr. Lucr. rer. nat. V 392.98/ 411-15); con ciò la ciclità produce effetti che danno vita ad un‘ epoca, sia in un cosmo che rimane sempre uno (Aristotele), sia in un cosmo continuamente soggetto a nuova nascita (VS così più volte, Caduff p. 146). Immagini che mettono in collegamento il cosiddetto „grande anno“ – un incontro di pianeti in una determinata combinazione degli astri che si ripete ad intervalli di tempo (di durata variabile) – con catastrofi del mondo che si verificano ciclicamente, rispecchiano soprattutto le affermazioni di Aristotele (Meteor. 352 a; cfr. Censorin., dies nat. 18, 11) e la sua equiparazione del cataclisma all‘ „inverno“ cosmico; lo stesso dicasi per l‘ indicazione dell‘ ekpýrōsis (Stoa; Diog. Babylon.), come “estate“ in Beroso di Babilonia (FGrHist. 680 F 21) (che sembra poi essere in debito in misura di gran lunga maggiore all‘ astrologia orientale, Caduff p. 153). Con il contemporaneo allinearsi di singole tradizioni sul diluvio nelle cronache (in parte, a dire il vero, assai recenti), la catastrofe perde il carattere di avvenimento unico relative alle origini del mondo e si avvia a diventare fatto storicamente determinabile (cfr. Caduff p. 154s.); immagini greche spiegano i riferimenti pur tardi nello scolio a Platone di Tim. 22 a e nei Dionysiaka di Nonno (III 200-19) come un susseguirsi di diluvi ogigici, deucalionici e dardanici. Davanti a tutti sta il diluvio biblico in Agostino {de civ. D. XVIII 8, che si richiama ai cronografi cristiani). Anche nel compendio storico di Zenone di Rodi (FGrHist. 523 F 1 = Caduff pp. 53-55) troviamo dopo il diluvio universale come inizio di una nuova cultura (locale) (Telchini-Eliade) il cataclisma (Deucalione) che segna un‘ epoca storicizzata (rottura nella coscienza storica greca, vd. anche Plat. Tim. 22 a-c; cfr. Caduff p. 157s.).

Indizi per la più recente tradizione, senza dubbio postplatonica (Tim. 23 b) relativa ad un eroe del diluvio, la ritroviamo in Castore di Rodi (FGrHist. 250 F 1/9), che parla del re dei Titani Ogige, e in Varrone (Caduff p. 45s.) che lo indica (de re rust. 3, 1 / 2 f.) come costruttore e re di Tebe (già prima del diluvio!) consentendo così di fissare un limite temporale intorno al 2100 a. C. Autori cristiani, soprattutto Taziano (or. ad Graec. 39) e Clemente Alessandrino (Strom. I 21: 102, 5 – 103, 1) localizzano il diluvio ogigico in Attica (cfr. Thallos, FGrHist. 256 F 2) e lo sincronizzano (lulius Afric. in Eus. Praep. Ev. X 10, 7-22 passim; in proposito Caduff p. 167s.) con l‘ uscita degli Israeliti dall‘ Egitto. Tuttavia il diluvio ogigico non vive di vita propria (almeno non sistematizzata) (Caduff p. 180) e al suo „eroe“ mancano le caratteristiche tipiche di un Deucalione o di un Dardano (in particolare quella di fondatore di una nuova cultura); senza perciò mettere in dubbio qualsivoglia collegamento con il nucleo genuino del racconto, Caduff (p. 185s.) ritiene che le tradizioni del diluvio relative a Ogige siano una costruzione della cronografia a partire da Castore, che si accorda con l‘ inizio di una „nuova tradizione“ (come punto di riferimento storico più antico, Caduff p. 184) platonica (Tim. 22 a).

[350] Nel terzo capitolo „Interpretazioni“ (pp. 200-281) Caduff espone le proprie conclusioni di carattere teologico che, seppur presentate con somma prudenza, sono sempre pienamente convincenti: nelle tradizioni dell‘ Asia Minore (Enuma Eliš → Genesis), in quelle del restante Oriente (Gilgameš e altri) come pure in quelle greche, lo scoppio del diluvio universale viene per lo più spiegato come sconvolgimento dell‘ ordine cosmico e suo ritorno alle stato originario già senza ordine, come strumento di potere quasi esclusivamente nelle mani di un dio supremo (senza che questi possa tuttavia realizzare completamente il suo piano, Caduff p. 205). Nelle tradizioni del diluvio originarie non si trova invece alcun cenno a questioni relative alla teodicea: la catastrofe avviene per volere di Dio e si sottrae ad un‘ idea di colpa-peccato secondo categorie umane (Caduff p. 216); tutt‘ al più è vista come „giusta“ la salvezza dell‘ eroe del diluvio (Ziusudra-Atrahasis-Utnapištim) – Noè e „il male dell‘ umanità del racconto biblico starmo qui in un contesto più evoluto (cfr. Caduff p. 213s.). Come segno distintivo per la fissazione del nuovo inizio dopo il diluvio universale Caduff pone in primo piano in ambito orientale „la vittima (dell‘ eroe salvato) sulla montagna“ (p. 217-224), in ambito occidentale il ruolo dell‘ eroe come fondatore della nuova cultura (← Prometeo; nessun contrasto con il tempo precedente, Caduff p. 237) (pp. 225-239): proprio sotto l‘ aspetto del nuovo inizio il motivo del diluvio nelle sue varie accezioni e secondo l‘ impronta locale dei racconti del diluvio può servire come Aition per le azioni rituali (Caduff pp. 239-258): usanze collegate alle Antesterie ateniesi (in collegamento con i cosiddetti Hydrophoria, Caduff p. 214s.) così come nelle „rappresentazioni del diluvio universale“ di Gerapoli (Caduff p. 249, 251ss.) consentono qui i più ampi paralleli. Per la sorte dell‘ eroe del diluvio, che sopravvive in un Larnax (forziere-Deucalione) oppure in un Askos (pelle di animale – Dardano), Caduff (pp. 258-274) avanza l‘ idea di un rituale di esposizione — nel senso di un capro espiatorio, vale a dire di vittima salvifica, una funzione che lo innalza in una posizione di superiorità, ma anche di isolamento di fronte al suo prossimo; come Pharmakoi i grandi personaggi del diluvio dell‘ Oriente (Utnapištim, Xisuthros, Atrahasis, Gilgameš), odiati personalmente dal dio supremo (Enlil), abbandonano, durante il diluvio, il mondo terreno, per poter, attraverso questo atto (fortemente ancorato al rito), stornare dall‘ umanità l‘ ira del dio. Come „saggi“, (← terra dai due fiumi, v. l‘ assira Adapa; Caduff p. 268ss.) ristabiliscono così a favore del proprio genere un‘ armonia cosmica turbata (tra mondo superiore e mondo inferiore).

L’uomo, con il superamento del diluvio universale (nella figura dell‘ eroe del diluvio), è riconosciuto „come parte stabile della creazione“ (Caduff p. 276). Nell‘ aver vissuto un‘ esperienza di terrore e persino di morte, l‘ umanità diventa consapevole della sua capacità di autoaffermazione e con ciò di una certa autonomia (Caduff p. 278s.); accanto alla percezione del proprio diritto all‘ esistenza il graduale interrogarsi sul perché gli dei agiscano in un determinato modo, trova espressione, per un certo lasso di tempo (Caduff p. 281), anche nelle tradizioni del grande diluvio.

                                                                                                   MICHAEL P. SCHMUDE

Zu-W-Blösel-Die-römische-Republik

Zu-W-Blösel-Die-römische-Republik

Wolfgang Blösel: Die römische Republik – Forum und Expansion, München (Beck) 2015 [C.H. Beck Geschichte der Antike]. 304 S., € 16,95 (ISBN 978-3-406-67413-6).

Der Titel mutet zu eng gefasst an – W. Blösel (B.) beschreibt nicht allein das Rom der republikanischen Epoche seit dem Umsturz unter (L. Iunius) Brutus, sondern beginnt mit der Stadtentstehung im 9. Jh. v. Chr. und endet mit dem Untergang der res publica im zweiten Triumvirat. Wesentlich sind für B. drei Kernbegriffe: das pomerium (Stadtgrenze) als Scheidewand zwischen domi und militiae, das forum als Ausgangspunkt für jede öffentliche Laufbahn sowie das comitium als Versammlungsplatz und Stätte bürgerlicher Machtvergabe auf dem Forum; als religiöses Zentrum thront der Iuppiter-Tempel auf dem Capitol. Den innerstädtischen Comitien zur Wahl der Beamten ohne Gewaltbefugnis stehen solche auf dem Marsfeld (außerhalb des Pomeriums) gegenüber für die künftigen Inhaber eines militärischen Mandats (imperium). Von hier aus entwickelt B. in sieben Schritten die Geschichte der Republik von ihren archaischen Ursprüngen bis zur Einmündung in den Prinzipat des Augustus; Leitgedanke der dynamischen Expansion von einem italischen Stadtstaat zum römischen Weltreich ist die dauerhafte Rückbindung aller Amtsträger an das Forum, das steingewordene politische Herzstück des Imperium Romanum.

Der Gründungsmythos weist Rom als „Stadt ohne Ursprung“ (F. Dupont 2013) aus, als rituell beglaubigte (Plut. Rom. 11) Vereinigung von Fremdankömmlingen unter Führung des Romulus, eines Vertriebenen aus dem nahen Alba Longa (S. 15). Seinem – von Varro auf das Jahr 753 datierten – Akt der Stadtgründung aus Siedlungen auf dem Palatin, dem Quirinal und Esquilin steht die Auffassung einer allmählichen Stadtwerdung als deren Zusammenwachsens (Synoikismós) gegenüber, für griechische und etruskische Poleis vom 9. bis 6. Jh. durchaus üblich (S. 20). Siedlungsspuren in dieser verkehrsgünstig an der Kreuzung von Hirtenroute und Salzstraße gelegenen, von den etruskischen Nachbarn (nordwestlich), den Latinern (südlich), Faliskern und Sabinern (im Osten) heimgesuchten Mündungsregion des Tiber finden sich aus dem 15. und dann aus dem 10. Jh., vor-städtische Hüttenansammlungen und Nekropolen auf den o.g. Hügeln sowie im Forumstal erst aus dem 8. Jh. Die Schaffung der für das klassische Rom kennzeichnenden Institutionen verteilt die literarische Tradition sodann auf die kanonischen Sieben Könige (unterschiedlicher, aber dominierend etruskischer Herkunft) als stadtstaatliche Gründungsheroen. Zeitgleichen griechischen Tyrannen nicht unähnlich, bleiben sie in Zahl wie historischer Bewertung ein Konstrukt seit dem 4. Jh., die Vertreibung des ‚letzten‘ Tarquiniers (509/08) ein gewollter Synchronismus mit den Parallelereignissen in Athen, selbst deren Protagonist, Brutus der Hofnarr, eine Kunstfigur aus den Idealen einer republikanischen Nobilität (S. 29-31).

Wegmarken gliedern den Werdegang der libera res publica bis zur res publica amissa (Chr. Meier 21980), die B. weitgehend in der chronologischen Abfolge von Aufstieg und Fall der republikanischen Einrichtungen beschreitet, einhergehend mit der unaufhaltsamen Ausbreitung des Imperium Romanum über den gesamten Mittelmeerraum hinweg sowie dem zunehmenden Auftreten imperialer Ego’s. Dabei ist der Aufbau der einzelnen Kapitel so gehalten, dass eine Überblickspartie die historischen Verhältnisse, etwa die römischen Magistrate, in ihrer Entwicklung als Ganzes charakterisiert und sodann die einzelnen Phänomene, etwa Prätur oder Tribunat, näher beschrieben werden. Zwischenresümees zum Abschluss der einzelnen Sequenzen wären dem Gesamtzugriff auf den Stoff keineswegs abträglich gewesen.

Die Beseitigung des Königtums bedeutete ausdrücklich nicht die Zerschlagung des monarchischen imperium: dieses wurde vielmehr auf jährlich gewählte Oberbeamte, namentlich das doppelt besetzte Konsulat aufgeteilt; der rex blieb in sacraler Schrumpfform erhalten – auch dies vergleichbar im archaischen Griechenland, namentlich Athen. Innenpolitisch wurde diese erste Phase der Republik von den Ständekämpfen (seit 494: Auszug auf den mons sacer) zwischen Patriziern und Plebejern dominiert. Als überlange Geburtswehen des jungen Staates zumindest fragwürdig, die Standesidentitäten in der Umbruchphase nach der Königszeit zunächst eher offen, gelten als vorläufige Befriedung die Licinisch-Sextischen Gesetze von 367/66 mit der Zulassung der Plebejer zum Konsulat; Livius und Dionys von Halikarnass lassen die Zwistigkeiten gleichwohl noch bis zur letzten plebeischen Sezession 287 (auf den mons Ianiculus) andauern, während sie bei früheren Chronisten wie Fabius Pictor, dem Älteren Cato oder Polybios mit den Zwölftafelgesetzen Mitte des 5. Jh. enden.

Außenpolitisch galt es, sich gegen die etruskischen und latinischen Städte im mittelitalischen Umfeld zu behaupten, und hier tritt Rom zu Beginn der Republik durch zwei Verträge hervor: der erste mit den phönizischen Karthagern regelt die Machtsphäre im westlichen Mittelmeer zugunsten der Nordafrikaner, hält diese andererseits von der Küste Latiums fern; das foedus Cassianum von 493 vereinigt die Städte des schon älteren Latinerbundes (samt coloniae) unter der Führung Roms insbesondere gegen die Äquer, Volsker und Sabiner (S. 51). Die rivalisierende Etruskerstadt Veji wird in drei Kriegen bis zu ihrer Zerstörung und Eingemeindung 396 niedergerungen. Der ungehinderte Einfall der Gallier (390/87) führt zu einer Befestigung der Stadt (‚Servianische‘ Mauer); er unterbricht zwar fürs Erste die römische Expansion tiberaufwärts, nicht aber die konsequente Ausweitung des ager Romanus in Latium (S. 55).

Der zweite Schritt dehnt die Vormacht in der Region auf ganz Italien aus. Zuvor behandelt B. die Konsulatsverfassung von 367/66 (s.o.): in dieser resultiert der seit dem Ende des 5. Jh. wachsende Anspruch der Plebs über Volks- und Militärtribunat, plebeische Ädile und Quästoren hinaus auf politische Mitgestaltung in höchsten Staatsämtern und führt zur Kollegialität wie zur Heranbildung einer patrizisch-plebeischen Oberschicht. Der patrizische ‚Stand‘ als solcher hatte sich indes bereits nach der Mitte des 5. Jh. herausgeschält (S. 47), und auch die „arrivierten“ Plebejer (S. 62) schotteten sich alsbald gegen ambitiones aus der großen Mehrheit ihres Standes (homines novi) ab. Zugangskriterium für einen Sitz im Senat – unter Aufsicht der Zensoren – war nunmehr die Bekleidung eines kurulischen Amtes (S. 59). Schwerpunkte bis zum Jahr 264, regional ausgreifend und fortschreitend, sind für B. hernach neben einer erfolgreichen (und durchaus nicht gewaltfreien) Bündnis- und hierarchisch stark differenzierten Einvernahmepolitik (coloniae, municipia und andere Formen der Abhängigkeit) gegenüber den vielfältigen italischen Stämmen und Gemeinden zum Einen der Latiner- (341-338) sowie drei Kriege gegen die Samniten (343-290), welche ursprünglich aus den Bergtälern des Apennin in die fruchtbare Küstenebene Latiums und Kampaniens drängten. Seit 312 wird die Via Appia sukzessive als Heeresstraße parallel zur Küste ausgebaut und über Capua landeinwärts schließlich (243) bis nach Brundisium an der Adria weitergeführt. Zum Anderen und gleichzeitig zu den laufenden Auseinandersetzungen mit künftigen socii im Norden (Etrusker, Umbrer, Picener) die letztlich (275) siegreiche gegen den epirotischen König Pyrrhos (→ sein ‚Bonmot‘), den die griechischen Bürgerschaften Süditaliens (namentlich Tarent) gegen das Hegemonialstreben Roms zu Hilfe gerufen hatten und der sogleich als Sachwalter auch der Samniten, Lukaner und Bruttier auftrat.

Der dritte Schritt greift in zwei Richtungen auf die Oikuméne über: an sich waren die Machtsphären zwischen italischem Festland und karthagischem Nordafrika geklärt, auch die Zugehörigkeit Siziliens zur karthagischen in einem dritten Vertrag (306) mit Rom geregelt – B. korrigiert das Bild von der bloßen Handelsnation Karthago ohne weitergehende Interessen im jeweiligen Hinterland seiner Häfen (S. 91), und am Ende des 1. Punischen Krieges ist dessen Stellung im westlichen Mittelmeer zumindest angeschlagen. Die Eroberung von Sardinien und Korsika 237 machen das Tyrrhenische zum römischen Binnenmeer, Feldzüge bis in die Poebene (Via Flaminia 220) sichern die Gallia cisalpina, die Illyrer werden zu amici unterworfen. Den 2., von der Iberischen Halbinsel ausgehenden Punischen Krieg teilt B. (S. 110): mit der Kapitulation Capuas 210 vor den römischen Konsuln endet Hannibals Offensivkraft in Italien mangels Nachschub. Die Verlegung des Kriegsschauplatzes durch Scipio ins nordafrikanische Numidien erzwingt 202 die dortige Entscheidungsschlacht bei Zama: Karthago wird zur Regionalmacht zurückgestutzt, im 3. Punischen Krieg schließlich ausgeschaltet. Die Römer erobern den Osten im 2. Jh. vor allem gegen den Seleukidenkönig Antiochos III. sowie Philipp V. von Makedonien: während noch an den Isthmischen Spielen 196 der Konsul Flamininus die ‚Freiheit Griechenlands‘ erklärt, verwirkt Philipps Sohn und Nachfolger Perseus mit der Niederlage im 3. Makedonischen Krieg 168 bei Pydna sein Königreich wie die Eigenständigkeit der griechischen Poleis. Der letzte Aufstand des achäischen Bundes führt 146 zur Auslöschung Korinths und zum Ende griechischer Eigenstaatlichkeit in der Antike (S. 131). Rom ist Weltmacht.

Die Erfolge nach außen hatten Umbrüche im Innern gezeitigt – mit dem Jahr 133 beginnt das Jahrhundert der Bürgerkriege, so dass gerade dieser Teil von B.s Darstellung einen deutlich gesellschaftspolitischen Bezug hat (S. 155 ff.): die Ackergesetzgebung der Gracchen zugunsten der durch ständigen Kriegsdienst von Verelendung bedrohten Bauernsoldaten Roms; der zunächst militärisch (Jugurtha, Kimbern und Teutonen) bedingte, in Stadtrom virulente (Veteranen) Aufstieg des Parvenü Marius, welcher die schon im Spanischen Krieg (154-133) sich abzeichnende militärische „Dequalifizierung“ der Nobilität umso deutlicher machte; der Bundesgenossenkrieg 91-88 um die Verleihung des Bürgerrechts, an Regelungen der Jahre nach 338 anknüpfend – Gewalt wird gesellschaftsfähig im Binnenraum (S. 188). Die Konsulate Cinnas, des Parteifreundes von Marius und (wie er) Gegenspielers des Optimaten Sulla, dessen Ostfeldzug gegen Mithridates VI. von Pontos (87-84) und (zweimaliger) Marsch auf Rom, Diktatur wie Beseitigung des sullanischen ‚Systems‘(S. 211 f.) münden in das Schlusskapitel der Römischen Republik, nach Spartakusaufstand und Seeräuberkrieg, Ostkommando und Gallia ulterior in die Triumviratszeiten unter Pompeius und Caesar (ab 60), M. Antonius und Octavian (also jeweils Ost-West-Konstellationen), denen der letzte Republikaner Cicero trotz catilinarischer Aristie und Tyrannenmord am Ende (43) doch zum Opfer fällt – Augustus begründet 27 den Prinzipat (S. 265).

Dies Alles ist – der aufgezeigten Struktur folgend – detailliert geschildert, nicht immer frei von Sprüngen, den Schauplatzwechseln geschuldet. Kartenmaterial, das gerne auch etwas größerformatig hätte ausfallen können, begleitet anschaulich das machtpolitische Ausgreifen der Tiberstadt (nützliche ‚Sprachen-Karte‘ S. 49). Kurz gehaltene Anmerkungen bieten Quellen, eine kleinschrittige, erläuterte Zeittafel sorgt für chronologische Orientierung. Das Literaturverzeichnis folgt der Kapitelgliederung und nennt jeweils nach einem kompakten Forschungsüberblick die durchweg neueren Titel. Personen- (kein Sach-) und Ortsregister runden diesen ereignisgesättigten und eingehenden Blick auf Gestaltwerdung wie Verlust der res publica Romana ab.

Michael P. Schmude, Boppard

aus: FORUM CLASSICUM 58 (2015), S. 198-201

Zu-K-J-Hölkeskamp-Libera-res-publica

Zu-K-J-Hölkeskamp-Libera-res-publica

Karl-Joachim Hölkeskamp: Libera res publica. Die politische Kultur des antiken Rom – Positionen und Perspektiven, Stuttgart (Steiner) 2017, 400 S., € 59 (ISBN 978-3-515-11729-6).

In zehn Beiträgen führt der Professor für Alte Geschichte an der Universität Köln K.-J. Hölkeskamp (H.) zum Einen seine 2004 in Stuttgart erschienene Sammlung SENATUS POPULUSQUE ROMANUS. Die politische Kultur der Republik – Dimensionen und Deutungen fort und begründet zum Anderen methodisch wie empirisch seinen „kulturalistischen“ (S. 7) Ansatz der Rekonstruktionen einer Republik. Die politische Kultur des antiken Rom und die Forschung der letzten Jahrzehnte (München 2004). Der hier anzuzeigende Band nun verknüpft wissenschaftsgeschichtliche Bestandsaufnahme mit gelebten Dimensionen republikanischer Politik. Ein durchgehender Roter Faden, welcher als übergeordnete Fragestellung die einzelnen Arbeiten miteinander verbindet, ist die Unterscheidung zwischen (theoretischer, gewollt-geplanter) politischer Konzeption und (praktischer, real existenter) historischer Wirksamkeit der Institutionen des römischen Staats in ihrem Ineinandergreifen und ihren Bedingtheiten viceversa.

In Th. Mommsens Römischem Staatsrecht (31887-88) ist dies der Gegensatz zwischen rechtlich-systematischer Form und historisch-realem Inhalt, bei Ed. Meyer (Römischer Staat und Staatsgedanke 41975) derjenige zwischen „wirklicher Bedeutung und streng rechtlich gefasster Funktion“ insbesondere des Senats: für Mommsen bildet die Magistratur – als zentrale Bezugsgröße der beiden anderen Instanzen Volksversammlung und Senat – den Ursprung staatlicher Ordnung und steht als „Verkörperung des Staatsbegriffs“ noch vor der „Volksgemeinde“ (Abriss des Römischen Staatsrechts 21907, S. 64); dabei enthebt sich das imperium der Amtsträger konzeptionell dem Wandel der Zeiten ebenso wie das ‚System‘ als solches, während die Verfassungswirklichkeit über Königszeit, Republik und Prinzipat auf eine stetige Abschwächung der (vormals einheitlichen und allein in sich selbst begründeten) Vollgewalt der Beamten hinauslief (H., S. 10 f.). Und das institutionelle Zentrum, aus welchem die Magistrate auf Zeit heraus-, sich gegenüber- und (hierarchisch jetzt aufgestiegen) wieder eintraten, war als „Zentralregierung der Gemeinde“ der Senat (S. 39 f.). Dem entgegen steht (S. 43 ff.) der Ansatz F. Münzers (Römische Adelsparteien und Adelsfamilien 1920), welcher – vieldiskutiert und gründlich widerlegt (S. 71) – in den politischen Bündnissen patrizischer (und führender plebeischer) gentes, deren Persönlichkeiten und Parteiungen (factiones) die eigentlichen, Generationen übergreifenden arcana imperii (Tac. ann. II 36, 1 / 59, 3) sieht – bis hin zur Übernahme der ‚Obermagistrate‘ als Ergebnis von Gruppenhändeln. Das Konsulat im Sinne eines Regierungskollegiums mit Entscheidungsgewalt wird indes bereits von M. Gelzer (1931) in Frage gestellt; dieser versucht sich andererseits mit seiner Nobilität der römischen Republik von 1912 als Gesellschaftshistoriker vom juristischen Übervater zu emanzipieren (dazu S. Strauß: Von Mommsen zu Gelzer ? Die Konzeption römisch-republikanischer Gesellschaft in „Staatsrecht“ und „Nobilität“, Stuttgart 2017).

Um das Konzept der ‚politischen Kultur‘ kreisen die folgenden Aufsätze: nicht mehr das Verfahrens- und Entscheidungshandeln von Institutionen oder Magistraten, nicht mehr die sozialen Grundstrukturen der politischen Ordnung und ihrer gesellschaftlichen Ensembles stehen im Mittelpunkt, sondern die ‚politische Grammatik‘ (Chr. Meier 1966) der römischen Republik, die Ritualsyntax ihrer performativen Vollzüge, das spezifische Vokabular ihrer Prozessionen (S. 73-105). Verhandelt werden Beziehung und Übertrag symbolischer Ansprüche vor einem System von Zeichen und Botschaften innerhalb des kommunikativen Dreiecks zwischen der durch den Anlass (einmalig) erhöhten Person, ihrer jeweiligen politischen Klasse und dem populus als institutionalisierter civitas – eine ‚Poetik der Macht‘, sichtbar etwa in den vielschichtigen Ensembles des Triumphzuges oder der pompa funebris, aber auch in den vorgegebenen Formen des Zusammentretens der Bürger, den comitia und concilia, auf der – im Idealfalle konsensualen – Grundlage „gemeinsamen Römertums“ (S. 242) der dramatis personae. Den Rahmen für dieses verwobene Ensemble von civic rituals als Herrschaftsform, für die Vernetzung von symbolisiertem Wertekanon und kultischer Praxis liefert die eigentümliche Stadtstaatlichkeit bürgerschaftlicher Einheiten wie Athen und Rom in der Antike, Florenz und Venedig in MA und Renaissance.

‚Prominenzrollen‘ (zwischen Patriziat und plebeischer Elite) und ‚Karrierefelder‘ in Kontinuität und Wandel (S. 107-122) – (kollektiver) Konsens und (individuelle) Konkurrenz: Analysemodelle zur Erklärung gesellschaftlicher Strukturen vom 4. Jh. bis zum Principat (S. 123-161) verfolgen die „Karriere eines Konzepts“ aus dem Blickwinkel neuerer Forschungsdiskussion weiter. Unter den Aspekten der Concordia contionalis: Mehrheitsentscheidungen und ihre Verhandlung in den Comitien des Volkes (S. 163-188), von Hierarchie und Konsens: Pompae in der politischen Kultur der Republik (S. 189-236), aber auch der Memoria (S. 237-271) in den zeitgenössischen Propagandamedien der monumenta oder der Münzprägung (S. 273-309) werden konkrete Kommunikationssituationen des öffentlichen Diskurses fortgeführt. Der Reigen schließt mit der politischen Kultur (in) der Krise (S. 311-327) und mündet in der Frage nach kausalen, funktionalen Zusammenhängen, veränderlichen Wechselbeziehungen oder einfach bloßem Zusammentreffen von Faktoren in der „letzten Generation“ der (überforderten ?) untergehenden Republik.

Die einzelnen Aufsätze sind unabhängig voneinander lesbar und zu unterschiedlichen Anlässen abgefasst, was Doppelungen in Einzelnem einschließt (e.g. S. 123, 311). Das Buch im Ganzen ist flüssig geschrieben, wobei Sprachduktus und Begrifflichkeit durchweg anspruchsvoll mit einhergehen. Die Erst- bzw. geplante Weiterveröffentlichung(en) sind zu Beginn jeden Beitrages und auf S. 390 vermerkt. Ein umfangreiches, alphabetisches Gesamt-Literaturverzeichnis (S. 329-387) sowie eingehende Personen- (modern-antik) und Sachregister schlüsseln den Band auf.

Michael P. Schmude, Lahnstein

aus: FORUM CLASSICUM 61 (2018), S. 145-146.

Zu-KWWeeber-Couchsurfing-im-Alten-Rom

Zu-KWWeeber-Couchsurfing-im-Alten-Rom

Weeber, K.-W.: Couchsurfing im Alten Rom – Zu Besuch bei Wagenlenkern, Philosophen, Tänzerinnen u.v.a. Darmstadt (WBG Theiss 2022). 232 S., € 22 (ISBN 978-3-8062-4418-2).

aus: FORUM CLASSICUM 65 (2022), S. 281-283.

Ein Gesprächsband – analog in Zeiten der Pandemie, Begegnungen mit fiktiven, literarischen und historischen Gestalten aus dem Alltagsleben des Alten Rom (Halbwelt inclusive), quellengestützt, gelehrt und gleichwohl unterhaltsam – wie man es bei diesem Autor (W.) auch nicht anders erwartet, der zuletzt aus den Graffiti des antiken Pompeji einen Spiegel des ‚normalen‘ Lebens einer antiken Mittelstadt geformt hatte (→ FC 63 [2020], S. 180 f.).

Die Rahmenhandlung besteht in der originellen Idee, anhand einer – lose miteinander verknüpften (u.a. S. 92, 106, 165) – Serie von Gesprächen vor Ort, eingebettet in die Ich-Erzählung einer Reise aus der fernen Barbarik ins Zentrum der damaligen Oikuménē, Einblicke in unterschiedliche Facetten der römischen Gesellschaft zu vermitteln: Stimmungsbilder aus der Welt der ‚kleinen‘ und nicht (mehr) ganz so kleinen Leute, von (auf den ersten Blick) mitunter auch ‚schrägen‘, skurrilen Vertretern (samt Außenseitern) einiger für jede Metropole markanter Berufsgruppen – ihre Sorgen und Träume, Umstände und Bedürfnisse, Leitlinien und Ziele derer, die es ‚geschafft‘ haben, wie derer, die im wiederkehrenden Überlebenskampf mit den Zumutungen eines Molochs stehen – welcher Rom damals schon war. Nicht zuletzt zeigen sich die Damen dort auf ihren gesellschaftlichen Ebenen und auf ihre je eigene, bemerkenswerte Weise als ausgesprochen selbstbewusst, ebenbürtig und lebensbewältigend.

Die jeweils unter ein Motto gestellten Geschichten und Dialoge im Einzelnen gliedern und entwickeln sich aus drei Blickwinkeln: als ‚Germane in Rom‘ zur Zeit des Kaisers Nero läuft unser Autor zunächst beim garum-König von Pompeji auf dem Aventin ein; die – erweiterte – Gastronomie ist durch eine Fast-Food-Wirtin sowie die Mutter einer als locus amoenus ein- und priapeisch ausgerichteten Taverne vertreten, und auch ein Wagenlenker repräsentiert die Unterhaltungsbranche. Der bürgerlichen Welt entstammen ein Lagerverwalter und der Ururenkel von Horazens legendärem Schulmeister. Im zweiten Teil aus dem Umland und als Pendant zur Großstadt – das römische Ämtersystem klingt von ferne an – gesellen sich zum Lager- die Gutsverwalterin, zum garum-Fabrikanten ein Kleinbauer, zum Wagenlenker der Gladiator (samt weiblichem Fan), zur copa tabernalis Trimalchio, König der Freigelassenen (und Selbstdarsteller wie „viele“ im damaligen Germanien ?? – zeitgenössische mallorquinische Parallelen böten sich eher). Naturgemäß fällt in dieser auch deutlich kürzeren Mittelpartie der Spannungsbogen, dem ‚kleinerformatigen‘ Personal entsprechend, etwas ab, aber die Kurve steigt mit der Rückkehr nach Rom wieder an: teils gegensätzliche Bereiche von Körperpflege und Wellness (das Allheilmittel von Neros kretischem Leibarzt und die Klagen einer rechtlosen Kosmetikerin; der soziale Kosmos in der Latrine) oder im erweiterten Rahmen des Showbusiness (Bestattungsmanager und Tänzerinnen-WG in der Subura, Comedian als Sozialaufsteiger oder Edel-Escort in Säulenhallen) ergänzen und runden den ersten Durchgang ab und gipfeln im Gespräch mit dem obersten Staatslehrer der Zeit, dem Stoiker Seneca.

Realienkundliches mischt sich in reichem Maße mit glaubhaft entwickeltem Atmosphärischen und fein beobachtetem Lokalkolorit; kommentierende Beschreibungen zudem von Stimmung, Personal und Ambiente (etwa die Beschreibung eines Parks an einer villa rustica S. 117), aber auch zunächst überraschende Tranfers in modern life (so u.a. opinion leaders S. 15, systemrelevante Berufe, Ultras und Hatespeech S. 31 f. / 219, Speisen to go S. 50, Take-away-Snacks S. 54, Smogglocke S. 80, Stoiker-Softie S. 89, Typberaterin S. 149) werden durchweg getragen von einem heiter bis ironischen und verständnisvoll-empathischen Begleitton. Überhaupt sind in den fein gezeichneten Situationsbildern Gegenwartsbezüge durchweg gesucht, hallen Nachklänge unüberhörbar in die Jetzt-Zeit herüber – vom touristischen Umgang mit lokalem Geschirr bis hin zur Genderfrage (samt generischer Antwort S. 51) und einem Kneipengespräch (S. 53-55), welches inhaltlich wie habituell in jede Moderne passte, der Sorge um Verschwörungstheoretiker (– am Hofe S. 57) oder aber der Umgehung des Tagesfahrverbotes in der City sowie zu Pflasterstand und Spurrillen auf der Via Flaminia (S. 81).

So erhält der/die (noch) Uneingeweihte ebenso absichtsvoll wie beiläufig Auskunft über Entstehungsprozesse (jenseits wenig schmeichelhafter Vorurteile) und Herkunftsregionen der omnipräsenten Würze eines angemessenen convivium, wird Zeuge, dass auch ein veritabler Provinz-Fürst und Werbeprofi in den gehobenen Kreisen der Hauptstadt wieder als homo novus anfängt. Er erhält Einblicke in den ‚Bauch der Stadt‘ (S. 20), das Emporium am aventin-seitigen Tiberufer, in Abläufe, Hafenlogistik und Speicherhallen, von wo aus für Millionen Einwohner der alltägliche Lebensbedarf jeglicher Art gestillt wird – über Nahrungsmittel und Gebrauchsgegenstände bis zu Baumaterialien. Er erlebt die Welt des gnadenlosen Fairplay im Circus Maximus, bestimmt von Fluchtafeln, Talentscouts und Rangordnungen auch innerhalb der Rennställe, lernt die Tarifverhandlungen zwischen den ausrichtenden (indes aus eigener Tasche bezahlenden) Beamten und den domini der Blauen, Weißen, Roten und Grünen factio kennen und übernimmt den Blickwinkel des Nachwuchsfahrers – jetzt noch Sklave, bei entsprechenden Erfolgen später Freigelassener – auf der allen gemeinsamen Stallungs- und Trainingsanlage (stabula und trigarium) im Südwesten des Marsfeldes. Nebst einem Schnellimbiss (Spezialität: Kirchererbsenbrei mit Würstchen, samt Rezept S. 54), flexibel ausgerichtet je nach Anspruchs- und Einkommensniveau der Laufkundschaft, mit Filialen und ambulantem Vertrieb, vernimmt er, nicht unvorbereitet aufgrund einschlägiger Graffiti bereits in Pompeji (s.o.), die fürsorglichen Angebote horizontaler Gastronomie einer salax taberna, erzähltechnisch geschickt verklammert und in ‚der Sache‘ vermittelt durch die copa des zuvor besuchten cenaculum. Naturgetreue Szenen (illegalen) Glückspiels fehlen ebensowenig wie Beobachtungen zur sozialen Schichtung in derartigen loci inhonesti und kontrastieren wirkungsvoll zur Lebenswelt einer traditionsreichen Familie von magistri und grammatici → Hor. ep. II 1, 71: Unterrichtsbesuch (privatim und in der Portikus) samt pädagogischem Diskurs gehören zum Pflichtprogramm, und auch hier bleibt die soziale Frage nicht ausgeklammert (S. 70 f.). Wir erleben eine plastische Beschreibung der Doppelmoral im Umfeld der Vestalinnen-Schwesternschaft (S. 156 f.), einen Graffiti-Künstler bei der Arbeit (S. 198 f.) und einen durchaus ironisch-selbstkritischen (S. 218 ff.) Starphilosophen (und Lehrer Neros), der mit seinen Betrachtungen zu Wutbürgern und ‚Umweltverbrauch‘ im Zuge der ‚Globalisierung‘ der römischen Welt einen weitgespannten Reigen in unsere Tagesaktualität hinein abschließt.

Bei allem Bemühen um lebensnahe und nicht zuletzt auch unterhaltsame Situationen, in Gesprächen mit Stimmungsmesser/innen aus ganz verschiedenen Kreisen der ‚normalen‘ Bevölkerung eines antiken Schmelztiegels, mit stetigen Anknüpfungen an moderne Entsprechungen, die er gleichsam ins Heute übersetzt, bietet unser kommunikationsfreudiger ‚Alltags-Kulturtourist‘ ein Füllhorn ‚so nebenbei‘ vermittelten Sachwissens, auf der Couch oder vor Ort – der Begriff bleibt großzügig gefasst. Jedenfalls stellt W. am Ende konsequent mit einem Verzeichnis, welches en detail alle inschriftlichen wie literarischen Quellen und Zeugnisse zu dramatis personae, zu Gegebenheiten wie Hintergründen enthält, sein fabulierendes ‚Histotainment‘ auf eine verlässliche Basis und gibt solchermaßen ein breitgefächertes wie gehaltvolles Panoptikum aus dem bunten Treiben des antiken caput mundi.

Michael P. Schmude,  Lahnstein

Zu-S-Merten-Felisa-et-secreta-Romae

Zu-S-Merten-Felisa-et-secreta-Romae

Sabine Merten: Felisa et secreta Romae – Felisa und die Geheimnisse Roms. München (Circon) 2023 [Schüler Lernkrimi Latein]. 96 S., € 13 (ISBN 978-3-8174-4360-4).

aus: FORUM CLASSICUM 66 (2023), S. 278-279.

Soviel vorab – eine vergnügliche und spannende Kriminalgeschichte, in deren Mittelpunkt eine zunächst kleine, sodann an ihren Abenteuern wachsende Straßenkatze steht, welche sich vom Ort ihrer behüteten Jugend unter einer Brücke etwas außerhalb Roms auf den Weg macht ins bunte Leben und laute Treiben der großen Stadt am Tiber. Und sie wird begleitet von Vokabelangaben, Erläuterungen zum antiken Schauplatz (→ Res Romanae) sowie einführenden Bemerkungen zur Grammatik überhaupt, der lateinischen im Besonderen, welche sich aus den originalsprachlichen Einsprengseln in den zunächst einmal deutschen Text ergeben und in zusammenfassenden Übungen gesichert werden. Didaktische Konzeption ist diejenige der Compact Lernkrimis des Münchner Circon-Verlages, angebunden der Vokabeltrainer phase6. Die kontinuierliche Steigerung der Anforderungen mündet in ein Prüfungs-Quiz zum Abschluss der story und rundet diese lehrwerksunabhängige Einstiegslektüre parallel zum Spracherwerb motivierend ab. Ein alphabetisch geordnetes Glossar der verwendeten Vokabeln am Ende des in Layout wie visueller Gesamtausstattung ansprechenden Büchleins macht die Erlebnisse der catta parva zur Individuallektüre ebenso geeignet wie gut handhabbar für den Klassenverbund.

Der Jugendkrimi um die junge Katze Felisa (der Name – ein sprechender [feles und Lisa] und im Spanischen eigenständiger Vorname – erinnert zugleich an den Katzenthriller [für Erwachsene] Felidae von M. Schaack [1994]) ist in Diktion wie Anlage altersgerecht (Unterstufe) gestaltet. Er wird mit Fotos (6 Tiber, 10 Via Appia, 32 Hundemosaik) und veranschaulichenden Rekonstruktionszeichnungen (18 auf dem Emporium am Tiber und 53 auf dem Forum Romanum, 26 Villa, 44 Circus Maximus, 58 Triclinium) reich bebildert und ist in kurzen Abständen von den bereits genannten Übungen (vierzig exercitia zu Wortarten und Morphologie, Lexik und Satzbau, Übersetzung und Textverständnis) kunterbunt aufgelockert (zu diesen 82-86 ein Lösungsteil). Die fortlaufende Erzählung (ihre historischen Bezüge sind nicht allzu eng gefasst, was in den Sachhinweisen allerdings hätte eingeordnet werden können, dazu → u.) steigert sich in Umfang wie Anspruch der organisch-übergangslos eingelegten lateinischen Passagen, welche überall passend mit Vokabellisten sowie sprachlichen und sachlichen Hilfen unterfüttert werden; realienkundliche Kleintexte sind schülernah und gut verständlich – und auf alle wird aus der narratio heraus direkt verwiesen. Das Bändchen gibt sich als Lernbegleiter für das erste Latein-Jahr, und demzufolge stehen am Beginn die ‚Klassiker‘ des Anfangsunterrichts: a-/o-Deklination in Substantiv und Adjektiv; esse als Prädikatsnomen; die vokalische Konjugation des Verbs (als didaktische Reduktion wird der Stammauslaut der Personalendung zugerechnet); Satzeinleitungen, Kasusfunktionen und wichtigere Präpositionen, Frage-, Relativ- und Kondizionalsätze, Zahlen und Steigerung, AcI usf., ohne dass sich dahinter bereits ein bestimmter Unterrichtsband mit eigenen Vorgaben aufzeigt.

Die Geschichte als solche führt Felisa nach ihrer Ankunft in der Metropole gleich in die erste Bewährungsprobe unter Ihresgleichen am Emporium, der großen Markthalle Roms, samt Flucht, Verfolgungsjagd und Rettung im Hause des freundlichen, aber ‚anstrengenden‘ cattus doctus Cicero. Dem Idyll der Villa entzieht sie sich ins gefährliche Getümmel der Innenstadt und auf einen siegreichen Rennwagen in der Arena, gerät anderntags auf dem Palatin (die Abbildung zeigt indes das Forum, welches hier [53 f.] auf die Höhen des anliegenden Hügels verlegt ist) in eine Begegnung mit der kaiserlichen Sänfte – auf Katzenebene und darüber zu einem Gastmahl im Palast des Augustus (unter diesem Namen regierte Octavian seit 27 v. Chr.). Am folgenden Morgen fällt sie in die Unterwelt des Forum Romanum und (→ Titel) ins geheime Spionagenetz der Katzen Kleopatras (die [67] derzeit „in Rom weilt“ – tatsächlich in den Jahren 46-44. Nach der Niederlage in der Seeschlacht von Actium 31 v. Chr. und dem Fall von Alexandria 30 v. Chr. begeht Kleopatra – zusammen mit M. Antonius – Selbstmord). Dort trifft sie auf den inhaftierten und als Geisel gefolterten cattus litteratus Naso: es geht um das secretum Liviae (= L. Drusilla, seit 38 v. Chr. mit Octavian verheiratet; aus erster Ehe ist sie Mutter des späteren Kaisers Tiberius und Großmutter des vierten Kaisers Claudius), welches eine fatale Präferenz der ägyptischen Herrin für römische Katzen zeitigt. Dieses aber – so daraufhin Felisas List – soll im Tempel der Vesta verborgen sein, dessen Gesetzmäßigkeiten den neuen Freunden einen Ausweg öffnen.

Überprüft werden abschließend die auf den Pfaden der (über)lebenstüchtigen Katze gewonnenen Erkenntnisse durch sieben weitere exercitia eines Quiz zu allen beschriebenen Lernbereichen (samt Auflösung 87). Die eigentliche criminal story aber endet … ohne wirkliches Ende, vielmehr mit der Ankündigung einer noch ausstehenden, weiteren Aufgabe für die Beiden und damit zugleich mit dem Ausblick auf einen erwünschten Begleiter ähnlicher Art und Struktur für das kommende zweite Lernjahr Latein.

Michael P. Schmude,  Lahnstein

 

Zu-KWWeeber-Botschaften-aus-dem-Alten-Rom

Zu-KWWeeber-Botschaften-aus-dem-Alten-Rom

Karl-Wilhelm Weeber: Botschaften aus dem Alten Rom – Die besten Graffiti der Antike, Freiburg i. Br. (Herder) 2019. 192 S., € 10,- (ISBN 978-3-451-06827-0).

aus: FORUM CLASSICUM 63 (2020), S. 180 f.

Schriftzeichen und Bildchen, Figürliches und Kritzeleien auf öffentlichen Flächen, Echo aus den Gassen und Winkeln antiker Städte, so haltbar wie der Putz an den Wänden, in welche sie eingeritzt waren, thematisch vielgestaltig und trivial, Eingebungen des Zufalls oder des Übermutes, Vorgänger heutiger Streetart etwa aus Spraydosen: jedenfalls auch eine Textsorte, wenngleich ‚verborgen‘, spontane Stimmen des bunten Treibens der ‚kleinen Leute‘ auf der Straße, stets mit unmittelbarem Lebensbezug und so aktuell wie dieser, Streit in der Nachbarschaft und schulisches Leid, gelebte Liebe und Fanpost, Wahlkampf und Beschimpfung – Momentaufnahmen aus einem römischen Alltag, festgehalten im Ascheregen des Vesuvausbruches 79, ausgewählt und zusammengestellt von K.W. Weeber (W.) aus der umfassenden Sammlung im Rahmen von Band 4 (1871 ff.) des Corpus Inscriptionum Latinarum und damit in einer handlichen Ausgabe von Neuem ins Licht einer Öffentlichkeit gebracht, welcher sie entstammten und wo sie ursprünglich ihren ‚Sitz im Leben‘ genommen hatten. Prominent seit 1857 immerhin das blasphemische Spottgraffito von einer Hauswand auf dem Palatin in Rom (wohl um 200) über den Christen Alexamenos, der einen gekreuzigten Esel anbetet. Auch in Griechenstädten der Zeit fanden Tagesbefindlichkeiten in dieser Form ihren Niederschlag.

Dass sich Graffiti aus Rom selbst in geringerer Zahl erhalten haben, liegt weniger an einem minder prallen Alltagsleben in der Metropole als an der konservierenden Wirkung der Vulkanasche über Pompeji: die übliche Verfallszeit solcher Hinterlassenschaften von Augenblicks- und Freizeitlaunen war allerorts an die Haltbarkeit bröckelnden Wandputzes gebunden (S. 9). Keine Örtlichkeit war gegen Graffiti gefeit – Martial (XII 61, 8-10) und der jüngere Plinius (Ep. VIII 8, 7) berichten amüsiert –, indes durchaus dezenter: fein geritzt, nicht lauthals gesprüht, diskret, nicht unübersehbar wie heutige Spraygraffiti. Das Lateinische kennt hierfür keinen anderen Terminus als scribere, der Begriff kommt vom italienischen Verb (s)graffiare, kratzen. Was Pompeji von Rom unterscheidet, ist die geringe Zahl von Politgraffiti (für die Hauptstadt dagegen Sueton, Nero 45, 2). Allerdings finden sich auch hier unter der Asche die breiter gemalten Pinselstriche der Dipinti (Gemälde), deren gut wahrnehmbare Lettern Wahlaufrufe und allgemeine Verlautbarungen an die breite Öffentlichkeit enthalten (Auftragsarbeiten mit ‚Firmenlogo‘, vergleichbar modernen Reklametafeln oder Wahlplakaten) und die sich gerade darin von der reichlich ‚individuellen‘ Kursivschrift („Sauklaue“ S. 14, zumal ohne Interpunktion) der geritzten, privaten Graffiti abheben. Mithin vereinigt W.s unterhaltsame und handliche Sammlung (aus insgesamt etwa 5600) rund 600 Graffiti und 150 Dipinti mit ihren teils persönlichen, teils eher publikumsorientierten Botschaften – inhaltlich verteilen sie sich auf mehrere Themenkreise, besonders ergiebig ‚Amor & Eros‘, ‚Gladiatoren und Arena‘‚ ‚Wahlkampf‘ oder schlicht ‚Persönliches‘. Das älteste stammt aus d. J. 78 v. Chr.

Auffällig, aber den gesellschaftlichen Konventionen der Zeit entsprechend, die Zurückhaltung von Frauen beim Schreiben (anders: als Objekte) von Graffiti. Gerne genutzt wurden die ‚interaktiven‘ Möglichkeiten dieser Kommunikationsform in Kommentar und Dialog und noch viel lieber die Wand als Nachrichtenbörse für Familiäres wie als Pranger für Zeitgenossen – eine Vorstufe moderner ‚sozialer‘ Netzwerke (S. 73). Und die Hobbydichterlesung der etwas anderen, amourösen Art, literarisch weniger kunstvoll, dafür in ihrer ungekünstelten Schlichtheit unmittelbar anrührend, lässt die Liebeselegie (Properz, Ovid) im Hintergrund erkennen; für den Hagestolz ins Stammbuch, also an die Wand: Alter amat, alter amatur, ego fastidio – Erwiderung: Qui fastidit, amat (S. 31). Deutlich derber erotische Obszönitäten, Preislisten und Qualitätshinweise zu Dienstleistungen in Bordell oder Kneipe. Reminiszenzen an die Schulzeit führen zu Alphabetkritzeleien (S. 186 f.) und literarisierenden Graffiti (Vergil). Kritzeleien (nicht zuletzt von schwärmenden Damen) und professionelle Dipinti im Umfeld des Amphitheaters, berühmt durch eine Massenschlägerei 59 unter den Fans aus den umliegenden Vesuvstädten (Tac. Ann. XIV 17), zeichnen (!) Ausrichter und ihre Kämpfer sowie deren weitergehende Heldentaten. Grüße und epigraphische Selfies (der anteilsmäßig größte Bestand), Notizen aus der Wirtschaft (‚Einkaufskörbe‘, Zinsen), Nugae und Latrinenphilosophie spiegeln Allzumenschliches. Politparolen, berufsgruppen- und frauengestützt, Nahaufnahmen kommunalpolitischen Lebens in Pompeji (S. 121 ff.) – und in Rom: W. nach Ps.(?)-Cic., Commentariolum petitionis, S. 171-178.

In einer launigen, flüssig lesbaren Gesamteinführung ist von besonderem Nutzen die Aufstellung pompeianischer Graffiti in Zahlen (S. 10 f.): man erhält prozentualen Aufschluss über Personennamen, Inhalte, Dichterverse, nicht zuletzt Graffiti in griechischer Sprache (ca. 150). Danach gliedert W. sein Material in 23 weitere Unterkapitel, deren jedes eine Mottoüberschrift trägt – ‚Süß ist die Liebe für unsere Seele‘, ‚Der Netzkämpfer Crescens: Arzt der nächtlichen Puppen‘, ‚In Pompeji ist es schwierig … Wahlkampf ohne Politikverdrossenheit‘ u.a.m.  – und mit einer Einleitung versehen ist, welche die Anbindung an literarische Kunst oder zeitgenössische Politik sucht, aber auch den nahen und ungebrochenen Bezug zur Alltagswelt unserer Tage herstellt. Die Aufschriften werden in loser Folge und verschieden an Zahl (durchnummeriert und damit auch als W. ‚zitierfähig‘; die Nummern aus CIL IV stehen jeweils rechts neben dem Text) nach dem lateinischen Wortlaut übersetzt (Beides ergänzt), mitunter sachlich, ‚textkritisch‘, metrisch oder als Dichterzitat knapp erläutert (S. 19; 28 f. et al.) und häufig, den Abbildungen in CIL folgend, im originalen Schriftzug samt ein- oder beigefügter Bild’karikaturen‘ (S. 80; 90-93; 101) geboten, so dass ein authentischer Eindruck dieser Text- und Kleinkunstform entstehen kann.

Die Beschäftigung mit einer solchen Textsorte lohnt alleine schon die Freude an der detektivischen Suche im Kleinen, am „Knacken des Verpackungs- und Inhaltscodes lateinischer Graffiti“ – darin hat W. ebenso ‚einfach‘ Recht wie in der Erwartung, dass neben ihrem unbestreitbaren alltagshistorischen Quellenwert solche Intermezzi eine motivierende und bereichernde Ergänzung für jeden Unterricht darstellen können.

Michael P. Schmude,  Lahnstein

Zu-B-Morstadt-Die-Phönizier

Zu-B-Morstadt-Die-Phönizier

Bärbel Morstadt: Die Phönizier, Wissenschaftliche Buchgesellschaft (Philipp von Zabern) Darmstadt 2015. 175 S., € 29,95 (ISBN 978-3-8053-4878-2).

Ein seefahrendes Volk, Handelsreisende im Mittelmeerraum (und jenseits → Hanno von Karthago entlang Westafrika, Himilko zu den Britischen Inseln, S. 76), Kulturbringer und begehrte Handwerker, die von ihrer levantinischen Heimat zwischen Syrien und Israel (bis zum Zweistromland) aus und zwischen 1200 und 300 v. Chr. noch vor den Griechen die gesamte mediterrane Küste ‚beidseits‘ besiedelten, bieten die Phönizier seit der Antike eine (zumindest) schillernde Projektionsfläche für je nach Quellenlage widersprüchliche Wahrnehmungen. Innerhalb dieser Marken beschreibt B. Morstadt (M.), Archäologin der phönizischen Diaspora an der Universität Bochum, ein Phänomen panoekumenischer Historie, welches – in eigenen Schriftquellen eher dürftig – in archäologischen Hinterlassenschaften wie in seinem literarischen Umfeld von Beginn an durchaus zwiespältigen Niederschlag gefunden hat.

Im AT (2Chr., 1Kön.) wie bei Homer (Il. 23) werden sie als herausragende Handwerker erwähnt, Byblos unterhält seit dem 4./3. Jt. rege Handelskontakte mit Ägypten, den Propheten ist ihre hybride Hauptstadt Tyros Grund für Jahwes Zorn, Herodot (hist. 5) bezeugt die Aneignung ihres Alphabets durch die Griechen um 800 – Bindeglied ist Kadmos, Gründer des böotischen Theben und Prinz aus Tyros – , aber auch die Kehrseite ihrer kommerziellen Raffinesse bleibt wenig später durch den homerischen Odysseus (Od. 14) nicht unerwähnt (S. 9-12) und noch dem Gallier Miraculix ein Begriff (S. 35 f.): dieser hat sehr wohl das Zitat aus der Odyssee – Verkauf der ‚Helden‘ auf dem nächsten Sklavenmarkt – im Hinterkopf … Und so schwankt die Phönizierforschung der frühen Neuzeit seit der Geographia Sacra des französischen Theologen S. Bochart (1646) zwischen einem Pan-Phönizismus, welcher diese zu kulturellen Ahnherren aller Völker ihres Expansionsraumes macht, und der Auffassung als orientalisches Gegenmodell zu einer europäisch-okzidentalen Identität, welche unter dem Einfluss des Philhellenismus im 19. Jh. herausgearbeitet wurde und sich auf den Schultern eines romantisierten Griechentums sinnbildlich in der minoischen Thalassokratie (S. 19) verselbständigte. Der Dominanz humanistischer, die griechische Antike idealisierender Bildung entsprach 1795 die Einrichtung – und zugleich Abgrenzung – der Orientalistik als akademischer Disziplin. E. Renans Mission de Phénicie (1864-74) im Rahmen einer Expedition unter Napoleon III. ins Libanongebirge wird zur Grundlage der modernen Phönizierarchäologie ebenso wie der politischen Ordnung in der Levante (S. 25). Von da aus spannt M. den Bogen zur modernen Staatswerdung: kulturelle Identifikation mit dem phönizischen Mutterland führt nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches 1918 einen ‚Großlibanon‘ 1943 in die libanesische Republik heutigen, christlich durchsetzten Zuschnitts und steht (nach wie vor) einem panarabisch-muslimischen Konzept ‚Großsyrien‘ im Wege.

Eine vergleichbare Rückbesinnung auf die antiken Wurzeln erfolgt am zweiten ‚Standort‘ in der libysch-tunesischen Syrte erst spät: wohl erhält Karthago, um 813 v. Chr. von Tyros aus gegründet, seit dem 6. Jh. Regionalmacht in Nordafrika und in den Punischen Kriegen des 3. und 2. Jh. v. Chr. Gegenspielerin römischer Machtinteressen im westlichen Mittelmeer, als solche literarischen Rang seitens des achäischen Römerfreundes Polybios sowie in den entsprechenden Büchern von Livius‘ Ab urbe condita, dazu noch einmal eine reife römische Blüte und bis zum 3. Jh. gar einen Bischofssitz (Cyprian). Auch sei der Gründungsmythos von der Erbfeindschaft, die tragische Liebesgeschichte um die Sidonia Dido in Vergils Aeneis, in einer historisch-archäologischen Arbeit eher nicht im Vordergrund, hier (wie S. 29, 152) wenigstens angedeutet: historisch ausgetragen wird sie von der Barkidenfamilie um Hamilkar und seinen Sohn Hannibal. Aber die neuzeitliche Heldenverehrung ist zunächst einmal Sache der französischen Kolonialmacht, während sich zeitgleich der tunesische Nationalismus über die islamische Periode seit dem 7. Jh. definiert. Das aktuell angekündigte Denkmal für Hannibal im Hafen des Vororts von Tunis harrt noch seiner Ausführung, ein Lehrstuhl für interkulturellen Dialog wurde 2001 in der Hauptstadt eingerichtet (S. 31 f.).

In einem – nicht ganz ebenmäßigen – Dreischritt geht M. an das Phänomen ‚Phönizien‘ heran: das Kernland bis zu seinem Aufgehen in der hellenistischen Welt (S. 53-112), geographisch zwischen dem südlichen Küstenteil Syriens und Nordisrael den modernen Libanon umfassend, kulturgeschichtlich vom Beginn der Eisenzeit bis zu den Eroberungszügen Alexanders d. Gr., machtpolitisch eingebettet in die ostmediterranen Umwälzungen (Zusammenbruch des Hethiterreiches, ‚Seevölkersturm‘) zu Beginn der ‚Dunklen Jahrhunderte‘, expansiv von Stadtstaaten wie Tyros und Sidon aus und – durchweg mit einer gewissen Eigenständigkeit – im Rahmen des assyrischen, neubabylonischen und achämenidisch-persischen Reiches, als Koilé-Syrien zwischen Ptolemäern und Seleukiden, als Provinz Syria nach dem 3. Mithridatischen Krieg seit 63 im Römischen Reich. Außerhalb Phöniziens (S. 113-48) rücken die Kolonisation im Vorderen Orient und über die Inseln und Küsten des Mittelmeers sowie in der Folge die kulturelle Wechselwirkung: Ägyptisierung – Orientalisierung – Hellenisierung (S. 149-55) zwischen Entdeckungsreisenden und den einheimischen Gesellschaften ins Blickfeld.

M.s Ansatz schwankt zwischen wissenschaftlicher Diskussion und den begrenzten Möglichkeiten objektiver Geschichtsdarstellung auf der Grundlage stets subjektiv und zeitbedingt interpretierter Schrift- wie archäologischer Quellen (S. 13 f., 43-52). Eingehend werden die personalen und diplomatischen Netzwerke des vorderasiatischen Großraumes gewürdigt. Belegstellen wie (zumeist neuere) Sekundärliteratur sind in den flüssig geschriebenen Text eingefügt und in einem ausführlichen Verzeichnis (S. 157-74) aufgeschlüsselt (man vermisst J. Seiberts Forschungen zu Hannibal 1993), Indices fehlen indes gänzlich. Abbildungen, Karten (zu klein das Format auf S. 8) und Rekonstruktionszeichnungen unterstützen den Zugang zum behandelten, omnipräsenten Movimentum mediterraner Kulturgeschichte.

 

Michael P. Schmude,  Boppard

 leicht gekürzte Fassung in: FORUM CLASSICUM 59 (2016), S. 113 f.

 

Zu-A-Schmitt-Aristoteles-Poetik

Zu-A-Schmitt-Aristoteles-Poetik [gekürzte Fassung in: Forum Classicum 53 (2010), 49-51]

Aristoteles – Poetik: übersetzt und erläutert von Arbogast Schmitt. Akademie-Verlag Berlin 2008 [Aristoteles – Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 5], 789 S., EUR 98,00 (ISBN 978-3-05-004430-9).

Mit dieser von Neuem ins Deutsche übersetzten1 und umfassend kommentierten Ausgabe der Poetik-Vorlesung des Aristoteles stellt der Marburger (inzwischen) Emeritus Arbogast Schmitt (Sch.) auf eindrucksvolle Weise im Rahmen der von E. Grumach begründeten und H. Flashar herausgegeben Reihe dessen umfangreicherer Redekunst2 die zweite, wohl ältere (um 335 v. Chr.) und von Beginn an nicht selten mißverstandene literaturtheoretische Lehrschrift3 über Tragödie und Epos sowie (verloren) Jambos und Komödie zur Seite. Sch.s Opus grande baut sich in folgenden Teilen auf:

Textgeschichte (Th. Busch, XVII-XXVI) und Übersetzung (3-41). Einleitende Kapitel: Schwierigkeiten im Zugang (seit der Renaissance) und geistesgeschichtliche Bedingungen der ‚Wiederentdeckung‘ der Poetik (45-54), Abwendung von Aristoteles in den hellenistischen Schulen und ihre Folgen für das Literaturverständnis (55-71), der systematische Ort der Dichtung unter den psychischen Aktivitäten des Menschen bei A. (71-91), Theoria, Praxis, Poesis – die Zuordnung der Dichtung zur Theoria bei A. und in den arabischen Poetik-Kommentaren (92-117), Mimesis einer Handlung: konkrete Verwirklichung des allgemeinen Könnens eines Charakters – ‚Mythos‘: Mimesis einer vollständig ausgeführten Handlung als Inbegriff des Dichterischen (117-125) und (zusammenfassend) Ableitung der Dichtung aus einer anthropologischen Reflexion auf die  Vermögen des Menschen (126-128). Argumentationsgang und Inhalt der Poetik (128-135), ein Literaturverzeichnis mit modernen Editionen, Übersetzungen, Kommentaren und Bibliographien, mit antiken, mittelalterlichen wie Renaissancetexten, mit neuzeitlicher  Primär- und Sekundärliteratur (139-191) leiten über zum eigentlichen, knapp 550 Seiten starken Kommentar (195-742). Ein Anhang bietet Sach-, Stellen- und Personenindices (745-768), führt das Inhaltsverzeichnis nach Sachpunkten weiter aus (770 ff.)4 und gibt abschließend eine thematische, nach den Kapiteln der Poetik und darin jeweils <A. Gliederung und Zielsetzung> und <B. Einzelerklärung und Forschungsprobleme> in die Paragraphen gegliederte Übersicht des Kommentars (773-789).

Die Übersetzung ist erklärtermaßen texttreu, andererseits bereits eine hilfreich erklärende: durchgängig finden sich – auch für den vom griechischen Original herkommenden Leser – Verständnis vorbereitende und fördernde Zusätze (stets durch eckige Klammern markiert – Sch. p. XV), und gewisse Freiheiten mit der Vorlage erlauben Verständnisvarianten im Detail5.

Der Kommentar erschließt diese Vorlesung, indem zunächst der ‚rote Faden‘ durch das jeweilige Kapitel hin verfolgt wird (A.), die Einzelaussagen sodann (B.) im Rahmen der aristotelischen wie nacharistotelischen Literaturtheorie und Rezeptionsgeschichte gedeutet werden; stellvertretend hier zu Kernaussagen:

Am Beginn der frühen Neuzeit setzt mit der Wiederentdeckung des Aristoteles in der Renaissance eine poetologische Tradition ein, welche die Nachahmung (Mímēsis) der Natur als etwas per se Schönem und Wohlgeordnetem zur Regel erhebt – so formuliert etwa in Joh. Chr. Gottscheds Versuch einer kritischen Dichtkunst 1730 (I c. 3, § 20) – und damit der freien Entfaltung des künstlerischen Genies ein Ordnungswerk von außerhalb seiner selbst überstreift: Die Zurückweisung dieses „Nachahmungsgeistes“ ist ein schon in Kants Kritik der Urteilskraft 1790 (§ 47) erhobenes ‚genieästhetisches‘ Postulat der Moderne, indes: auf Aristoteles läßt sich für Sch. eine solche am Muster der Natur orientierte Regelpoetik, rein normativ oder rein deskriptiv, überhaupt nicht zurückführen (202 f., 552); den seit der Mitte des 18. Jh. gepflegten romantischen, aber schon bei Horaz (Ars 99-113) und Ps.-Longin (15, 1 f.) angelegten Gegensatz von ‚rational-methodisch‘ (und damit kunstfremd)  und ‚genial‘ (entfesselt und wahrhaft künstlerisch) vermeide Aristoteles, indem er Literatur zwar von beweisführender Wissenschaft abgrenze (1447 b 16-20), nicht aber dem rein Gefühlsmäßig-Intuitiven zuweise.  Dieser führt den Nachahmungsbegriff bereits im Eingangskapitel der Poetik ein, um vielmehr – wie Platon (Sch. 209) – anhand des Mediums, in welchem eine solche (lautliche) Nachahmung erfolgt (in der Literatur: Rhythmus, Sprachgestalt und Harmonie), anhand des behandelten Stoffes (für Poesie stets ‚Mythen‘) sowie anhand des Darstellungsmodus als konstitutiver Bedingungen einer jeden Nachahmung zwischen den literarischen Künsten, insbes. den dichterischen Gattungen zu unterscheiden (1447 a 13-23 als Programm der ersten 3 cap.). So bildet der Historiograph (mehr oder minder) aktuelle Einzelgeschehnisse in ihrem pragmatischen Ablauf nacherzählend ab (c. 9), während der Dichter als Nachahmung allgemeingesetzliche Handlungen darstellt, welche einer inneren Stimmigkeit von Wesenstypen oder Situationen verpflichtet sind und nicht an objektiver Realität hängen (Sch. p. X; 204 ff., 225, 241, 267) – und Poesie darum philosophischer nachahmt als Geschichtsschreibung (poet. 1451 b 4-6).

Dies unterscheidet sie auch vom Verdikt der Nachahmung von Nachgeahmtem (Idee – Realität in der Welt – Darstellung), mit welchem Platon die Künstler allgemein, die Dichter insbesondere im zehnten Buch der Politeia aus seinem idealen Gemeinwesen bannt (hier 598 d 7 – 601 b 8)6. Für Aristoteles werden die transzendenten Ideen immanent vollzogen, indem der je einzelne, materiale Typos die (von Ideenseite) in ihn gelegten formalen Möglichkeiten und Folgerichtigkeiten ausführt; die Idee wird zur Entelechie, sie trägt gewissermaßen ihre Verwirklichung in sich – diese ahmt der Künstler nach und nimmt so die Wahrheitsstufe des platonischen Handwerkers ein7. Dabei ist es nicht allein die dichterische Form, etwa die Versgestalt, welche Dichtung ausmacht, sondern ihr poetischer Gegenstand – weswegen Empedokles trotz Hexameter eben Naturphilosoph bleibt (poet. 1447 b 17-20; Sch. 196, 208, 218 f.) und Herodot auch durch Umsetzung in Versmaß kein Dichter wird (poet. 1451 b 1-3; Sch. 373, 387 f.).

Von grundsätzlicher Bedeutung für einen weiteren Schlüsselbegriff, die Kátharsis – ihr sind zwei umfangreiche Exkurse gewidmet (333-348 und 476-510) – ist in der Tragödiendefinition c. 6 (poet. 1449 b 27 f.) Sch.s Wiedergabe (mit Lessing, Hamburgische Dramaturgie 78 und gegen u.a. Gigon, Fuhrmann und Flashar8) der kátharsis tōn toioútōn pathemátōn =  eléou kai phóbou nicht im (medizinischen) Sinne eines Genitivus separativus als Reinigung von derartigen Gefühlen = Mitleid und Furcht, sondern im Sinne eines ebendiese Gefühle ihrerseits zum Rationalen (Lessing: zum Tugendhaften) hin reinigenden Genitivus obiectivus (Sch. 9; 333; 478)9. Die Erregung dieser Gemütszustände – éleos und phóbos – im Zuschauer auf die beste Weise ist Ziel der tragischen Handlung (c. 13) und diese wiederum Nachahmung, Mímēsis einer vollständigen, sich gemäß innerer Wahrscheinlichkeit, Zielsetzung oder Notwendigkeit eines bestimmten Charakters folgerichtig ergebenden und damit erst ihre Einheit wahrenden Handlung (c. 9, 1451 a 37 f. und b 8 f., 1452 a 2 f.)10 – in diesem Sinne versteht Aristoteles Mímēsis und nicht als Nachahmung der Natur mit zudem moralisch-lehrhaftem Impetus (Sch. 199, 410 f., 440 f.). Bloße Kopie einer geschehenen Wirklichkeit macht für Aristoteles – wie für Platon – noch keine Literatur aus; diese muß Wirklichkeit aus ihren Ermöglichungsgründen darstellen (Sch. 208, 741 f.), läßt das eigentümliche Potential eines Individuums sich in seinem Handeln verwirklichen11, und ihre vollendete Form findet dichterische Mímēsis in einem gut komponierten Mythos (Sch. 202, 222).

Der tragische Held, dessen Verfehlung (Hamartía) – mittelbar – aus Charakterschwäche, in Unfreiwilligkeit und Unwissenheit (durch Versagen der diánoia), nicht aber aus Boshaftigkeit ihn die Situation falsch einschätzen und scheitern läßt, ihn somit aus mangelnder Einsicht ins Unglück stürzt, steht in der Mitte (→ Mesótēslehre) zwischen dem epieikés (dem völlig Integren) und dem mochthērós (dem ganz und gar Verkommenen), und nur sein Fall ist geeignet, éleos und phóbos beim Zuschauer zu wecken (c. 13, 1453 a 7-12)12. Tragische Hamartía, im Zuge derer ein an sich guter Charakter veranlaßt wird, sein Handlungsziel zu verfehlen oder sich eines zu setzen, durch welches er das für ihn wirklich Gute übergeht (487), verdeutlicht Sch. mittels ihrer Abgrenzung gegenüber ebendiesen beiden Typen (444-456). Im angemessenen Mitempfinden – nicht der nur rührseligen Gefühligkeit noch in nicht berechtigtem Mitgefühl (493) – eines tragischen Handlungsverlaufs und unverdienten Leides eines Unsergleichen erfüllt die Tragödie ihre Aufgabe auch am Zuschauer, ohne daß dieser sich allerdings – entgegen neueren Auffassungen – mit Jenem identifizieren solle13, als Katharsis, als Reinigung der ihr zukommenden, von ihr selbst erzeugten und abschließend geformten Gefühle des ‚Mitleids und der Furcht‘ (478 f.) angesichts eines Scheiterns, das als mögliche Gefahr auch für den Zuschauer selbst aufgefaßt werden kann: dem entspricht bei Aristoteles ein reflektierter Begriff von Katharsis als „Kultur des Gefühls“, welcher von nachromantischem Verständnis im Sinne irrationaler, psychosomatischer Erregungen der Elementaraffekte ‚Jammer und Schaudern‘ frei ist (Sch. 486 ff.).

Am Beispiel eben der Gefühls- oder Affektenlehre (páthē) zur Darstellung nachempfind- und verstehbarer Handlungsmotivationen von – dem Zuschauer gleichen – Menschen im Drama zeigt Sch. auch (333), wie Schlüsselbegriffe dieser kleinen Schrift durchweg den Kontext des Gesamtwerkes (hier: der Ethiken, De anima) voraussetzen, ohne Einzelnes eigens nochmals zu erarbeiten. So ist etwa die Einheit von emotionaler und bewußter Intelligenz in der Rhetorik (1378 a 19 – 1388 b 30)14 ausgearbeitet durch eine Auffassung von Kognition, welche im rational urteilenden wie gefühlsmäßig wertenden Menschen nur je unterschiedlich wirksam wird: Aristoteles und die Trennung von Denken, Fühlen, Wollen seit dem 18. Jahrhundert (334 f.). Mitleid und Furcht werden – neben der Rhetorik – in der Nikomachischen Ethik15 besprochen, die dazu das platonische (Polit. 533 d 2) ‚Auge der Seele‘ verständiger Menschen mit aufnimmt (Sch. 483-486). Von daher muß die Poetik auch nicht zu allen Fragestellungen hin abgeschlossen sein, da sie ihrerseits eingebettet ist und als Teil des Lehrgebäudes andere bedingen oder ihrerseits zur Bedingung haben kann.

Tṓi páthei máthos – … und (allerdings nur !) Letzteres gilt auch für die Arbeit mit und an Sch.s monumentalem Kommentarwerk: Summe und Ertrag dieser überreichen Darstellung und Analyse der aristotelischen Dichtungstheorie, mit welcher diese Disziplin seinerzeit überhaupt erst einsetzte, konnten hier naturgemäß nur exemplarisch angedeutet werden; sie bleiben für alle weitere Auseinandersetzung mit literarischer Rhetorik und Poetik maßgebend.

Michael P. Schmude, Boppard

 

Anmerkungen:

1)      Bequem zugänglich (nach O. Gigon, RUB 1961) bisher die Übersetzungen M. Fuhrmanns bei Heimeran (eingeleitet, übers. und erläutert, München 1976 [Dialog mit der Antike, Bd. 7]; zur Datierung nach 335 v. Chr. und vor der Rhetorik ebda. 12-16) und Reclam (zweisprachig, mit Anmerkungen und Nachwort zu Form, Erhaltungszustand und Aufbau der Poetik, Stuttgart 1982/21994 [UB]); maßgeblicher Referenztext hier wie für Sch. die griechische Ausgabe von Rudolf Kassel (Oxford: Clarendon Press 1965, ND), Abweichungen davon bei Sch. S. XXVII f.

2)      Aristoteles – Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 4: Rhetorik, übers. und erl. von Christof Rapp, Berlin 2002, 2 Bde.; insbes. zum Wechselbezug zu seiner Philosophie Bd. 1, 378-384.

3)      Grundlegend nach wie vor M. Fuhrmann: Einführung in die antike Dichtungstheorie, Darmstadt (WBG) 1973; erster Teil : Aristoteles – Horaz – <Longin> 21992.

4)      Als Beispiel hier stellvertretend zur „Abwendung von Aristoteles …“ (55 ff.): 1. Die unterschiedliche Bedeutung der Vorstellungskraft für den dichterischen Schaffensprozess im Hellenismus und bei Aristoteles; 2. Der mediale Charakter der Vorstellung bei Aristoteles, die Formung der Vorstellung durch Wahrnehmung oder Denken; 3. Die Zentralstellung der Phantasia in den hellenistischen Philosophenschulen, die Folgen für das Kunst- und Literaturverständnis (mit weiteren Unterpunkten zu ‚Denken‘, Anschauung und Gefühl sowie Kunsterfahrung).

5)      Entsprechend wird z.B. in 1451 a 37 f. die eigentlich zu tá dynatá gehörende (so auch Fuhrmann) Adverbiale katá tó eikós ē tó anankaíon über kaí hinweg auf  génoito bezogen und dynatá als erläuternder Zusatz abgeteilt, Sch. 13 u. 372.

6)      Zu Platons Dichtungskritik und aristotelischer Poetik Fuhrmann 1973/21992, 72-90; 1976, 16-21; 1994, 155-161.

7)      Aristot. De ideis, fr. 3–5 Ross (1955, ND); Metaph. 980 b 28 – 983 a 32; 990 b 5 – 991 b 9; 997 a 5 – 1000 a 4.

8)      Gigon 1961, 30; Fuhrmann 1973/21992, 27, 65; 1976, 50; 1994, 19 spricht stets (wie auch Lesky: GGrL3 1971, 641) von „Jammer und Schaudern“: zur Herleitung dieses Begriffspaares aus Aristot. Rhet. 1385 b 13 ff./1382 a 21 ff., aber auch aus Platon und der Sophistik (Gorgias) und gegen Lessings dem Normenverständnis einer bürgerlichen Aufklärungszeit geschuldete Übersetzung Fuhrmann 1973/21992, 90-98, 291-301; 1976, 21-25; 1994, 162-166, ebda auch zur Katharsis.

9)      Beides verwirft Lesky 640 f. mit Aristot. Polit. 1341 a 21-24/1342 a 11-18.

10)  Fuhrmann 1973/21992, 26 f.; 1976, 29 f.; 1994, 170-73.

11)  Zu diesem von Platon ‚ererbten‘ Formprinzip Sch. 392-397.

12)  Vgl. Fuhrmann 1976, 67; 1994, 118. Zur ‚tragischen Schuld‘ auch E. Lefèvre, in: WüJbb N.F. 13 (1987), 37-58 und A. Schmitt in RhM N.F. 131 (1988), 8-30 zum sophokleischen Oidipus Tyrannos und V. Cessi: Erkennen und Handeln in der Theorie des Tragischen bei A. (Frankfurt 1987) zur Antigone sowie zur Medea des Euripides. Zum aristotelischen Gedanken der Hinfälligkeit gerade der besten Eigenschaften im Menschen M. C. Nussbaum: The fragility of goodness (Cambridge/London 1986).

13)  Ein Verzicht auf diese Distanz, wenn auch für Dichter wie Zuschauer wie Tragödienchor bis zu einem gewissen Grade unumgänglich (Poet. 1455 a 30-34), im Sinne eines Sich-Hineinversetzens, des „Mitschwingens einer zweiten Saite“(Lessing) würde eine Reinigung der eigenen Gefühle Mitleid und Furcht beim Zuschauer – die der dramatis personae sind andere – bestenfalls verzerren (Sch. 479 f.).

14)  Rapp 2002, Bd. 2, 584-678; A. Schmitt: Die Moderne und Platon (Stuttgart/Weimar 22008), 270-380.

15)  Eleos u.a. EN 1105 b 23, 1109 b 32, 1111 a 1; phóbos u.a. EN 1104 b 1-3, 1105 b 22, 1115 a 6 – 1117 b 22.

 

 

Amor und Psyche

Amor-und-Psyche  [aus: Scrinium 57, 1 (2012), S. 22-26]

zu Josefine Müllers: Amor & Psyche – Das Mysterium von Herz und Seele, Frankfurt a.M. (Peter Lang-Verlag) 2011. 152 S., € 29,80 (ISBN 978-3-631-61699-4).

Geistwerdung und Erhebung der Seele zu Gott, Selbstwerdung und Individuation im Zuge der Bewußtseinsentwicklung des Menschen, erzählt in der Form von Märchen und Mysterienerzählung (hierós lógos) und im Sinne des Mythos als wahrer, ursprünglicher Rede in archetypischen, symbolischen Bildern urbildhafter Strukturen in der Tiefe von Herz und Seele, entzogen „dem Zugriff durch das Verstandesbewußtsein“, Amor-Eros und Psyche als kosmische Kräfte „eines sich in jeder Seele vollziehenden Geschehens“ – unter diesen Leitfragen (9-11) unternimmt J. Müllers (M.) eine „spirituell-psychologische bzw. philosophische Deutung“ des <Märchens von Amor und Psyche> aus dem Roman des Apuleius von Madaura (2. Jh.) [Verwiesen sei hier auch auf den einführenden Aufsatz von P. Barié und K. Eyselein „Zur Deutung von Amor und Psyche im Unterricht – Plädoyer für den (tiefen)psychologischen Gesichtspunkt“ in:  MDAV 26/2 (1983), 15-22].

Nach einer kurzen Einführung in Person und Werk des Autors sowie zur Entstehung der Metamorphosen (12-16) untersucht das zweite Kapitel zum Weltbild des Apuleius und seinem Niederschlag im Roman (17-45) insbesondere die Rolle des Eros in der griechischen Kosmogonie, der Dichtung und der platonischen Philosophie (26-35): unmittelbar nach Gaia dem Chaos entsprungen und machtvoll (Hes. Theog. 121 f.) dafür sorgend, daß diese sich mit ihrem Erstgeborenen Uranos zum schöpferischen hierós gámos vereinigt (ib. 126 ff.), bleibt der zweigeschlechtliche Eros auch in der Orphik des 7. Jh. v. Chr. eine kosmogonische Urgewalt. Zugleich berge seine Doppelnatur im Sinne der harmonischen Spannung (palíntonos harmoníē, VS 22 B 51) Heraklits (um 500 v. Chr.) den Gegensatz zwischen Zeugung/Entstehen und Vergehen: die Kehrseite des Liebreizes sind Wahnsinn und Tod (M. 28). Im platonischen Phaidros (245 b 5 – c 1) als gottgesandte Manie und Triebfeder der Seele zur größten Glückseligkeit herausgestellt, werde die Liebe im Lobreigen des Symposion zum Bestreben nach dem Schönen (178 b 2 – d 2), im Trachten nach der ursprünglichen Ganzheit des Menschen (191 d 1-3) zum Erkennen des wesensmäßig Zusammengehörigen (192 e 8 – 193 a 1), im Besitz der Kardinaltugenden (196 b 6 – e 6) zur Beförderung von Dichtkunst und Weisheitsliebe (M. 31). Als Mittler zwischen Göttlichem und Menschlichem, zwischen Unsterblichem und Endlichem (202 e 1-7) führt die so verstandene Doppelnatur des Eros in seinem Streben nach dem Schönen und Guten sowie der Erkenntnis des Gleichen zur Einheit des Ganzen. Zugleich werde das Wesen des Eros als Suche nach dem Schönen mit der Anámnēsis, der Wiedererinnerung an die Schau der Idee des Schönen, verbunden (M. 33 f.), zu welchem Schönen „an und für und in sich selbst ewig überall demselben“ (211 b 1) der Liebende in sieben Stufen steigender Teilhabe (Méthexis) vordringt (210 a 4 – 212 a 7) und auf allen Ebenen die Einheit von innerem Gott und äußerem Schönen, in welchem dieser sich realisiert, erkennt.

In diese sokratische Traditionslinie stelle sich auch Apuleius mit seiner Lehre von den Dämonen (M. 36 f.) als Dolmetscher und Mittler zwischen den himmlischen Göttern – den platonischen Ideen: unkörperlich, zeitlos, unwandelbar – und den Menschen; unsterblich wie die Götter unterliegen sie, Götter der Dichter wie eben auch Amor, allen menschlichen Affekten, und in ihrer Mittelstellung seien sie zur Ideenwelt deren Abbilder. Auf der anderen Seite stehen die Ebenen des Seelenbegriffs (M. 38-45): Homers Psychḗ als „bewegendem Form-und Gestaltungsprinzip“ (Eídolon) gegenüber dem Thymós als (praemortal) individueller, dann (postmortal) kosmischer Lebensenergie entspricht die vorsokratische Unterscheidung zwischen immanenter Lebensseele und transzendenter Geist-(Noús-)Seele. Die platonische Seele, welche sich aus sich selbst heraus bewegt, unentstanden und darum auch unvergänglich ist (Phaidr. 245 c 5 – 246 a 2), findet zu ihrer Bestimmung, der Erkenntnis des Wesens der Dinge, auf dem (nicht-sinnlichen, vgl. Phaid. 99 e 5 f.) Wege der Wiedererinnerung an ihre vorgeburtliche Schau der Ideenwelt (246 a 3 – 249 d 3); dies veranschaulicht schließlich das Gleichnis von der Seele als Rossegespann unter Führung des (selbst-)erkennenden Noús (253 c 7 ff.), welcher beim Anblick des (diesseitigen) Erōtikón allein den Wagen zügeln und zur (jenseitigen) Sphäre der Idee des Schönen hin lenken kann (M. 41 f.).

Auch in der hellenistischen und frühchristlichen Literatur steht der ursprünglich freien und göttlichen, aber ins Irdisch-Materielle gefallenen Einzelseele die kosmogonische Allseele, der göttliche Lógos gegenüber. Im „Urmenschen“ (M. 44), einem „Höheren Selbst“ und „mann-weiblicher Einheit“ aus Licht (Noús) und Leben in ihm (Psychḗ) werde Eros zum göttlichen Boten des Lichts und bereite Psyche auf den Wiederaufstieg und einen erneuten hierós gámos des weiblichen (Liebe) mit dem männlichen (Geist) Prinzip vor. Die „Ebenen göttlicher Bewußtheit“ (die physische, die Empfindungs- und die Mentalsphäre) zu durchdringen = sie sinnend zu erkennen, indem sie bei sich ‚vergessene‘ Inhalte göttlicher Liebe wieder freilege, um auf diesem Wege in die Lichtwelt zu gelangen – dieses Télos der Seele zeige „im dichterischen Symbol“ das Märchen von Amor und Psyche (M. 45).

Das dritte Kapitel bettet Amor und Psyche in den Roman als Ganzen, die Eselsgeschichte des Loukios von Patrai – in der satirischen Kurzfassung des (ungefähren) Zeitgenossen Ps.-Lukian – ein und fragt nach Intentionen des Neupythagoreers und mit ägyptischen Mysterienvorstellungen (Seth – Osiris) vertrauten „philosophus platonicus“ Apuleius für seine (erweiterte) Neubearbeitung des hier problematisierten Verhältnisses von Sein und Schein, von Seele (Mädchen) und Leib (Esel) in Form der Metamorphosen (45-50).

Dementsprechend ist das vierte Kapitel der Psyche-Novelle als solcher (Met. IV 28 – VI 24) gewidmet (60-92): das Geist- und Unsterblichkeitswerden der Seele spiegele sich auf den Realitätsebenen von Märchen wie Mythos und Mysterium, die Große Göttin (Venus) und die überirdische Schönheit in der irdisch gewordenen Seele (Psyche) weisen auf die Spannung der Gottebenbildlichkeit im Geschöpf; Amor, von Venus eigentlich als Cupido zur Züchtigung der hybriden Psyche gesandt, werde zum Opfer seiner, der „Liebe des erkennenden Herzens“ selbst (M. 63 f.). Und die sterbliche Psyche , die ontische Seele als Fühlen, habe im „Streben nach dem Anderen ihrer selbst“ ihren Weg zur Erkenntnis dieses Anderen als transzendierendem Licht und göttlichem Selbst noch vor sich (M. 65 ff.): auf ihre Entrückung in Amors Palast und Schau des Liebesgottes folgen Leiden Psyches (als verzeitlichten Aspektes der Venus) in Trennung und durch die Welt irrender Suche nach der göttlichen, präexistenten Liebe. Drei Proben für Venus (Samenkörner, Vlies der Sonnenschafe, Wasser vom Quell der Styx) münden in den Gang durch die Unterwelt als vierte: wie dabei das Motiv des Totenschlafs das „Vergessen der Unsterblichkeit der inkarnierten Seele“ symbolisiere, so stellt das Mysterium des Wiedererwachens (durch den Pfeil Amors) den Aufstieg der „Sinne der Seele“ aus ihrer sterblichen Befangenheit, die bewußte Geistwerdung der jetzt erkennenden Seele und ihre Erhebung zur himmlischen Hochzeit mit dem jetzt erkannten, wahrhaften Amor auf dem Olymp dar (M. 87 f.). Von der anderen Seite betrachtet versetzt der Gott durch die Kraft seiner Liebe die Seele (Psyche) erst in die Lage, seine Geistwirkung zu erkennen und aus Cupido nunmehr Amor werden zu lassen.

Dieses Zusammenwirken des Herzens als Erkenntnisinstanz der göttlichen Liebe (Amor) mit der sich von Cupido, dem „leidenschaftlichen Herz“ läuternden und zum Höheren Selbst erhebenden Seele (89-92) bildet den Hintergrund für das letzte Kapitel, welches die Initiation (in B. XI) des Romanhelden, des Goldenen Esels Lucius, in die altägyptischen Isis- und Osiris-Mysterien sowie auf die Horus-Ebene als Weg in eine neue (M. 97), letztlich „dreimalselige“ (M. 115) Existenzweise beschreibt. Die Selbstwerdung des Lucius-Apuleius im Roman sieht M. (92, 117-22) schließlich zusammenfassend in weitgehender Analogie zur stufenweisen Entwicklung der Seele (Psyche) im darin eingelegten Märchen. Apuleius als Psychagoge in der Nachfolge des Gottes des Sokrates (seiner eigenen Schrift und Genius) auf der Suche nach seinem wahren und höheren Selbst – mit dem Ziel, „sich dem Ebenbild Gottes anzugleichen“, zum Ausklang (M. 122) – läßt vor möglicher Hybris dann doch fast ein wenig zurückweichen.

In der Reihung und Fülle tief(st)greifender, mitunter vielfältig verknüpfter und sich überschneidender Einzelgedanken und –beobachtungen auf philosophisch-theologischer, poetologischer wie (tiefen)psychologischer Ebene zugleich ist es nicht immer leicht, den ‚Roten Faden‘ im Auge zu behalten; hier hätten mehr zusammenfassende Binnenkapitel klärender wirken können. An mancher Stelle wäre auch ein genauerer Originaltextbeleg für getroffene Aussagen anstelle etwa des allgemeinen Verweises auf Schleiermacher-Platon (bzw. bloße Kapitelzählung) oder Sekundärliteratur wünschenswert gewesen. Überhaupt wird die Primärliteratur in Übersetzung verarbeitet: M. schreibt als Nicht–Klassische Philologin (dafür nicht untypisch auch Aufbau und Gehalt des knappen Literaturverzeichnisses 123-26), ihre Quellen von Hesiod bis in die Spätantike sind Übersetzungen (u.a. Artemis, Kröner) und zweisprachige (Tusculum) Textausgaben – verdienstvoll ohne Zweifel für Studierende, und nützlich in diesem Zusammenhang auch der deutsche Textabdruck (ohne Quellenangabe ?) von Amor und Psyche (127-52). Dessen ungeachtet aber wird der Vielschichtigkeit und dem Facettenreichtum des Untersuchungsgegenstandes eine sehr dichte und tiefgehende, bisweilen erst mit dem zweiten Blick zu durchdringende, in jedem Falle aber lesenswerte Behandlung gewidmet.

                                                                                  Michael P. Schmude, Boppard

 

Zu-J-Fündling-Philipp-II-von-Makedonien

Zu-J-Fündling-Philipp-II-von-Makedonien

Jörg Fündling: Philipp II. von Makedonien, Wissenschaftliche Buchgesellschaft (Philipp von Zabern) Darmstadt 2014 [Gestalten der Antike, hg. v. M Clauss]. 230 S., € 29,95 (ISBN 978-3-8053-4822-5).

Philipp II., Sohn Amyntas‘ III. von Makedonien, Vater Alexanders d. Gr., nach dem Urteil antiker (Theopomp, frg. 27) wie moderner (Bengtson GG5) Historiker einer der bedeutendsten Herrschergestalten der Antike, wird bis heute zumeist aus dem Blickwinkel seines berühmten Sohnes gesehen, dessen eigentlicher Wegbereiter er durch sein Lebenswerk geworden ist: die Einigung der Balkanhalbinsel mitsamt Hellas unter makedonischer Hegemonie erst schafft die Grundlage für dessen Siegeszug bis in den Fernen Osten der damaligen Welt. Fündling (F.), der vor einigen Jahren (2008) bereits eine vergleichbare ‚Betrachtung‘ des römischen Kaisers Marc Aurel vorgelegt hat, folgt dem „König eines den Griechen als barbarisch geltenden Randvolkes“ (Badian, DNP) aus der Perspektive seiner eigenen Erfolgsgeschichte als charismatischem Staatsmann, intrigantem Diplomaten und genialem Militär eines kommenden, anwachsenden Imperium.

Wichtige Trümpfe in Philipps Hand waren zum Einen sein unmittelbarerer Handlungsspielraum aufgrund der monarchischen Herrschaftsstruktur gegenüber den demokratisch verfassten Poleis Mittelgriechenlands – wobei auch bei denen die Grenzen zwischen Oligarchie und partizipierender Demokratie fließend waren, selbst innerhalb der gleichen Polis – , zum Anderen sein größeres Handlungspotential aufgrund größerer Menschenmenge quā Bevölkerungszahl. Mittel der Realpolitik waren ihm Heiraten innerhalb der durch ein (gleichberechtigtes) Mehr-Frauen-System (S. 16) weitverzweigten eigenen und Adelsfamilien sowie Bündnisse und Verträge, deren Gültigkeit ihren Nutzen für den Tag kaum überdauerten. Makedonien als umrissene geographische Größe bleibt dabei ähnlich unklar wie das zahlenmäßige Aufkommen von Makedonen, Paionen, Dardanern … Den Weg vom rohen, zersiedelten Bergvolk, politisch kaum führbar, zur straff durchregierten, wegen der hinzugewonnenen Masse expandierenden Hegemonialmacht, zum Reich einer Größenordnung, die freiheitliche Gesellschaftsstrukturen schlicht sprengen müßte, zeichnet F. in drei Stationen nach: Ein achtbarer Aufstieg (S. 13-62), Grenzüberschreitung (S. 63-112), Zu groß für den Frieden (S. 113-82). Wesentliche Quellen für diesen Kampf, welcher auf der anderen Seite derjenige um die Eigenständigkeit der freiheitlichen griechischen Poleis war, sind die politischen Reden von Philipps großem Athener Gegenspieler Demosthenes oder die Bibliothek (16) des epigonenhaften Sammlers Diodorus Siculus (S. 174-76; 208).

Die Anfänge „Am Rande der Barbarei“ indes waren im Vergleich mit den eben auch wirtschaftlich und sozial entwickelten Stadtstaaten mehr als kümmerlich: eine eigene städtische Infrastruktur mit (z.B. metallverarbeitendem) Handwerk und Technik, an der Küste mit Anbindung an den Fernhandel war kaum vorhanden (die Städte an der Ägäis waren eigenständige griechische), die geographische Situation bot (beengte) Verkehrswege zu Wasser und Land für den lokalen Handel, aber dem fruchtbaren Küstengebiet Niedermakedoniens am Thermäischen Golf (um die Mündungen des Haliakmon und Axios) fehlten gute Häfen ebenso wie eine verkehrsmäßige Anbindung des obermakedonischen Hochlandes im Westen, während im Süden die Bergpässe des Olymp den Landweg nach Griechenland erschwerten. All dies ergab eine starke Regionalisierung des makedonischen Königreiches, weitläufig jeweils, aber ineffektiv, kaum einzunehmen, geschweige denn zu beherrschen (S. 18). Die politische Struktur beruhte mithin auf einem System persönlicher Loyalitäten zwischen einer Oberschicht und dem Königshaus, welche der ‚gewordene König‘ sich durch Vergabe von Ämtern, Privilegien und Geschenken erst sichern, diese dann aber auch weiterhin erwirtschaften mußte. Anerkannt wurde sein Machtanspruch von der Mehrheit der waffentragenden Männer, der Heeresversammlung, gegründet war der allerdings nicht auf eine geregelte Erbfolge, sondern auf genealogische Verbundenheit mit seinen Vorgängern (S. 15). Söhne aus unterschiedlichen Ehen stellten eher eine Komplikation dieser Erbfolge dar als eine Sicherung der Herrschaft durch entsprechende Stammhalterschaft; und Töchter – brauchte der makedonische Regent in zumindest hinreichender Zahl, um die notwendigen Handels- wie Militärbündnisse mit auswärtigen Fürsten wie einheimischen Adelssippen absichern zu können (S. 27). Vorhanden war Alles und reichlich: Raum, Menschen, Rohstoffe, Thronfolger; was fehlte, war: Struktur, Bindung, eine Idee – und damit: Produktivität, Erfolg und Bedeutung.

Vor diesem Hintergrund schildert F. die Abfolge der makedonischen Herrscherhäuser seit ihrem Eintritt ins Blickfeld der griechischen Geschichte, namentlich am Rande der Perserkriege und in der Folge des Ringens zwischen Athen und Sparta (später noch Theben) um die Vormacht im griechischen Mutterland des 5./4. Jh. Der Dynastiegründer Alexander I. (497 ff.) beanspruchte mit der genealogischen Rückführung auf den Herakliden Temenos, König von Argos, Hellenizität für die Königsliste der Argeaden; dabei hatte ihre historische Stellung bestenfalls zu einer Art Satrapie unter dem persischen Großkönig Dareios 490 v. Chr. für Amyntas I. (zwischen Olymp und Haimos-Gebirge) gereicht (S. 22). Lavieren zwischen wechselnden Verbündeten war von Beginn an wesentliches Merkmal makedonischer Außen- und Sicherheitspolitik. Erst Archelaos I. stellt sich, nach und trotz der Katastrophe der Sizilischen Expedition (413 v. Chr.) im Peloponnesischen Krieg, konsequent an die Seite Athens, schafft ein Wegenetz in das bisher eher lose angebundene Obermakedonien, verlegt den Königssitz von Aigai nach dem Hafenort Pella und holt überdies athenische Kunstschaffende wie den Maler Zeuxis oder den Tragiker Euripides ins Land. Die Strukturmaßnahmen des Archelaos werden fortgesetzt von Einem aus der weitergehenden Enkelgeneration, welcher die Konsolidierung der zerfaserten Großregion zu einem kontinenten Machtgebilde vorantreibt und dabei auch die Öffnung nach Süden im Auge behält, allerdings nicht allein aus der Kultur– (auch er wird mit Anaximenes von Lampsakos und Aristoteles hellenische Philosophen als Prinzenerzieher und zur Betonung seines ‚Griechentums‘ an den Hof holen, S. 121 f.), sondern nunmehr auch mit einer klaren Machtperspektive – Philipp, dritter Sohn aus der zweiten Ehe seines Vaters mit der Lynkester-Prinzessin Eurydike …

Am Anfang aber stehen Lernzeiten als Geisel: bei den Illyrern (für seinen Vater) in sportlich-militärischer, im Theben des – ihn prägenden – Epameinondas (für seinen ältesten Bruder Alexander II.) in politisch-gesellschaftlicher Hinsicht; Böotien als strategisches Zentrum Griechenlands bot ihm gleichwohl als Bildungsstätte einen Platz, von wo aus er die Krisen der 360ger Jahre, in welchen seine älteren Brüder und deren konkurrierende Prätendenten untergingen, in Sicherheit beobachten konnte: das Ringen Athens und Thebens um die Hegemonie, Auseinandersetzungen mit dem Chalkidischen Bund und die Unabhängigkeitsbestrebungen Thessaliens, Griff nach den persisch okkupierten Inseln und Griechenstädten Kleinasiens. Und nach Niederlage und Tod seines Bruders Perdikkas III. in einem regionalen Gefecht gegen den (verwandten) Illyrerfürsten Bardylis einigte sich die engere Königsfamilie auf die „Notbesetzung“ (S. 42 ff.), um die von Thrakien bis Athen verstreute Sippschaft aus den Thronwirren herauszuhalten.

Der ging die Gefahrenherde auf gewohnte Weise an: den thrakischen Patron stellte er durch Bestechung ruhig, den ältesten Halbbruder aus erster Ehe durch Mord, die Einigung mit Athen 359 (zulasten von dessen makedonischen Aspiranten) bot Freiraum für eine wegweisende Modernisierung des Heeres; Paionen und die von Bardylis (s.o.) besetzten Gebiete Obermakedoniens wurden per Blitzkrieg überrumpelt. Zum Schutz seines Kernlandes in der Küstenebene schuf Philipp ein Bündnissystem an den Grenzen – durch Heiraten, als dritte mit einer Fürstentochter der Molosser, nachmals Olympias, als vierte mit einer thessalischen Aristokratin: die Idee, mit wachsenden Ressourcen gleich ganz Hellas zu beherrschen (S. 49), mag hier geboren sein. Sein erstmals expansives Eingreifen im 3. Heiligen Krieg (um Delphi) gegen die Phoker und auf seiten Thebens zielt weiterhin auf Sicherung eines eigenen, unabhängigen Zugangs zum Meer; nach Amphipolis (an der Mündung des Strymon) 357 fällt 354 Methone am Golf von Thermai. In den thessalischen Wirren ergreift er Partei für den Familienverbund der Aleuaden und gegen die Tyrannen von Pherai und wird nach seinem Sieg auf dem ‚Krokosfeld‘ (352) Tagós, Oberbefehlshaber des Thessalischen Bundes. 351 beginnt die Unterwerfung der Fürsten Thrakiens (bis 341, S. 126 f.). In Athen wächst eine Friedenspartei, die auf Arrangement mit dem Makedonen drängt – ihr Hauptgegner: Demosthenes, der in diesem Jahr seine erste Philippische Rede hält. Die Niederwerfung der mit Athen verbündeten Chalkidike 348 findet ihren erbitterten Widerhall in dessen Olynthischen Reden (S. 77). Mit der Kapitulation der Phoker wird Philipp 346 Teil der Delphischen Amphiktyonie; minutiös verfolgt F. (S. 90 ff.) dessen ganzes diplomatisches Geschick in den Verhandlungen mit Athen (samt der fragwürdigen Rolle des Aischines wie Demosthenes), welche einstweilen in den ‚Philokratesfrieden‘ führten, ohne doch die antimakedonische Grundstimmung zu heben, wie sie in der zweiten Philippika (Ende 344) oder im Stellvertreterkrieg auf Euboia hervortrat. Das Verhältnis zu Theben war beschädigt, aber der Makedone saß in der Schlüsselregion von Hellas (S. 103). Wechselseitige Übergriffe (etwa Athens auf Philipps thrakische Küste oder dessen Kapern athenischer Kornschiffe) und das Erstarken von Athens Bündnissystem (S. 129, Hellenischer Bund), schließlich der 4. Hlg. Krieg boten Philipp 339 Anlaß, erneut in Mittelgriechenland einzumarschieren: die von Demosthenes zustande gebrachte Allianz zwischen Athen und Theben unterliegt 338 in der Schlacht bei Chaironeia in Boiotien, die griechischen Poleis werden im Korinthischen Bund auf ein wieder (Isokrates) gemeinsames Ziel ausgerichtet – den Persischen Großkönig. Private Zerwürfnisse (S. 156 ff.) verhindern dessen Verfolgung: der Bruch mit Olympias wegen einer weiteren Ehe und die Verunsicherung ihres Sohnes Alexander, welcher freilich seit geraumer Zeit bereits in die militärischen und außenpolitischen Unternehmungen des Vaters mit eingebunden war, hinsichtlich der Thronfolge münden in Philipps Ermordung bei der Hochzeitsfeier für seine Tochter Kleopatra durch einen Leibwächter. Die Säuberungen des Thronfolgers im ‚familiären‘ Umfeld (S. 162 f.) schieben die Kriegsvorhaben kurzzeitig auf (S. 169-73).

Dieses – kaum zu strukturierende und für einen mit den Verhältnissen weniger Vertrauten mitunter verwirrend – detailreiche Panoptikum griechischer Geschichte im Vorfeld des Hellenismus ist gleichwohl flüssig geschrieben und gut lesbar; die Quellen sind konsequent aus dem Textteil in die Anmerkungen ‚verbannt‘: dort finden sie sich reichhaltig und (zusammen mit der Sekundärliteratur) stakkatohaft gereiht – man wünschte sie sich durch einen eigenen Index erschlossen. Die Verfolgung freilich gerade der historisch-geographischen Entwicklungen wäre durch weiteres (immerhin S. 12, 62) entsprechendes Kartenmaterial noch anschaulicher geworden. Abbildungen (Archäologisches u.a. S. 94 f., 155; Münzen S. 59, 85; Realien S. 45, 121, 171), auch aus der jüngeren Filmgeschichte (S. 178 f.), fehlen nicht. Hingewiesen sei auf neuerliche Spekulationen um eine mögliche Grablege der makedonischen Königsfamilie (Philipp, Olympias, Roxane, einer von Alexanders Generälen ?) im nordostgriechischen Amphipolis (FAZ vom 20.01.15, S. 12). Dabei nähert sich F. seinem Protagonisten mit unverkennbarer Sympathie (eine Geschichte seiner modernen Rezeption S. 176 ff.), welcher sein Leben nicht lange genug leben konnte – durchaus wollte, aber eben mit gelebtem Risiko (S. 182) – , um sein Lebenswerk zu vollenden: dieses ging auf einer Zwischenstation, mit einem fürs Erste durchaus zufrieden stellenden Ergebnis, im Theater von Aigai 336 v. Chr. über auf seinen Sohn und Nachfolger Alexander III., den späteren Großen.

 

Michael P. Schmude,  Boppard

 leicht gekürzte Fassung in: FORUM CLASSICUM 58 (2015), S. 129-131.

Zu-R-Schrott-Homer-Ilias-Buch-I

Zu-R-Schrott-Homer-Ilias-Buch-I

Homer – Ilias, übertragen von Raoul Schrott, kommentiert von Peter Mauritsch  (München, C. Hanser 2008), 631 pp., gebunden 34,95 Euro.

Bereits nach Lektüre des ersten Gesanges von Sch(rott)s Ilias – eingebettet als Zweiter Teil des Troianischen Krieges nach (Inhaltsangaben der) Kypria und vor Aithiopis1 – stellt sich ein ausgesprochen ungutes Gefühl über Sprachform und Diktion dieser Übertragung ein, welche (im hinteren Klappentext) immerhin den Anspruch erhebt, „noch nie zuvor […] dem heutigen Leser dieses große Epos vom troianischen Krieg so nahe [zu bringen], in einer ebenso kraftvollen wie bildhaften Sprache“. Voss (1793), Schadewaldt (1975), Hampe (1979), Ebener (1983), Latacz (2002) haben „wesentlich dazu geführt, daß die Ilias heute kaum mehr gelesen wird …“ (S. XXXII) – man muß solche Verstiegenheit nicht kommentieren. Stattdessen sei der Hinweis erlaubt, daß die Abfolge bei den Homerica zunächst einmal umlaufender, dichtender Volksgeist und seine weitere, jahrhundertelange mündliche Verbreitung durch fahrende Sänger (Rhapsoden) ist, sodann erst (anders Sch. S. XXVIII f.) die Spracharbeit eines Dichters (Homer) deren literarischen Niederschlag schafft – ohne darum doch die Zeugen ihrer Herkunft aus der oral poetry gleich auszumerzen. Ob Platon im Ion diese Entstehungsgeschichte epischer Werke vor Augen hatte, bleibe dahingestellt, der Verweis auf ihn (S. XXXIII) ist wohlfeil – wer wollte seiner Aufforderung an den Rhapsoden seiner Zeit, zu verstehen, „was der Dichter meint“, widersprechen, aber: was er sagt und wie er es meint, bleibt Interpretation und am engsten darin erkennbar, wie er es formuliert: „Homer von seinem Ufer abzuholen, um ihn ins Heute zu bringen“ ist eben nicht mehr genuin Homer, sondern Schrott nach Inhalten der homerischen Ilias, und die von ihm „substituierte“(!) philologische Übersetzung nicht eine „das Wörtliche2 liebende“, sondern eine das Wort des Autors in seinem <Sitz im Leben>. Diese Unterscheidung nimmt Sch.s Übertragung nicht ihren Eigenwert.

Kritikpunkte am literarischen Vorgehen bleiben gleichwohl: So wird eine Veranschaulichung homerischer Figuren – irdischer wie überirdischer – insbesondere durch die bis hin zur Albernheit reichende Banalisierung ihrer Sprachform angestrebt. Völlig unterschiedliche Stilhöhen stehen innerhalb ein und derselben Rede ein und derselben Person in unvermitteltem und unausgewogenem Kontrast nebeneinander; ganz besonders störend wirkt dies in der Rede des Altersweisen Nestor an die Kampfhähne zu Beginn (Il. I 254 ff.). So sprechen keine Heroen des Epos, so spricht der Hanswurst in der Komödie: es ist keinerlei Gespür für eine der jeweiligen literarischen Gattung angemessene Stilebene erkennbar.

Eine Auflistung von schriftsprachlich gezielt und gesucht, bemüht Unpassendem – im Ganzen oder in der Kombination seiner Versatzstücke –  enthielte etwa die Verse Il. I 31, 57, 122, 130, 132, 148, 173, 210, 229, 256, 261, 273, 285, 291f., 300f., 304, 332, 342, 347, 349, 360, 378, 387f., 410f., 521 f., 527, 540, 553, 560, 567, 570, 575f., 581f., 589: welcher jugendsprachliche Mainstream mit diesen (mehr oder minder schweren) verbalen Flapsigkeiten und Redewendungen auch immer bedient werden soll – er wird seine Freude haben an beinahe bürokratischen Gespreiztheiten in vv. 68, 215, 320, sich wenig ereifern über stetig fortlaufende sachliche Ungenauigkeiten wie in vv. 36, 73, 225f., 407, 500, 513, 518, 557 oder 5733 und andererseits brillante Formulierungen, die es natürlich auch gibt, wie in vv. 358, 429, 477 und 607, kaum wahrnehmen. Ein ausgesprochenes Lieblingswort des Übersetzers scheint „Hundsfötterei“ (so in vv. 181, 233) zu sein – wer kennt es, und worin liegt sein Beitrag zum tieferen Verständnis des Gesagten ?  Hierzu fügt sich durchgängig weiter Umgangssprachliches der Art von runter (81), rum (109, 133, 288), drauf (333), was (363, 541, 556)4.

Von diesen einfach zu zahlreichen Mißtönen werden auch die durchaus gelungenen Partien in Frage gestellt: es will im Ganzen nicht recht ‚passen‘ … Und man macht das Geschehen im Epos und die darin handelnden Charaktere nicht dadurch anschaulich(er) oder lebensnäh(er), daß man sie ihrer Eigenart im und für das Epos quā Sprachform entkleidet, welche ihrerseits ja durchaus ihren Beitrag zum platonischen Gebot leistet, „das, was [der Dichter] denkt, in seiner ganzen Breite und Tiefe verstehen zu können“, und ihn derjenige bleiben läßt, der er ist – ein dichtend-gestaltender Rhapsode,  (vielleicht) das Großgriechenland des (frühen) 8. vorchristlichen Jahrhunderts ‚befahrend‘, ein Kollege seines Demodokos und Phemios, von Vergils Iopas, ein Vorfahr Volker von Alzeys und der mittelalterlichen Minstrels ?

Michael P. Schmude, Boppard

 

1Eine ausführliche Inhaltsangabe auch der Ilias selbst (S. 623-31), die Einleitung (S. V-XL) zu Autor und Vortrag, Zeitgeschichte und Gesellschaft, Dramaturgie und Komposition; zu Wörtlichkeit und Interpretation, Sprache und Rhythmik der vorliegenden Fassung (um nur einige Gesichtspunkte zu nennen), sowie ein Anhang (S. 527-621) mit knappem Kommentar und dramatis personae bilden einen Rahmen, in welchen auch Sch.s Monographie: Homers Heimat – der Kampf um Troia und seine realen Hintergründe (München, C. Hanser 2008) sowie die seit dem 22.12.07 in den Feuilletons namentlich der FAZ und der Süddeutschen Ztg. ausgetragenen Debatten um die dort vorgetragenen Thesen einzubeziehen sind. Eine fächerübergreifende (Kulturgeographie und -geschichte, Sprachwissenschaft und Dichtungstheorie) Zwischenbilanz zieht der Tagungsband eines interdisziplinären Symposions an der Universität Innsbruck von 2008: „Lag Troia in Kilikien ? – Der aktuelle Streit um Homers Ilias“, hg. v. Chr. Ulf / R. Rollinger (Darmstadt, WBG 2011).

2So eindimensional ist die griechische Wortfamilie <Lógos> eben gerade nicht.

3Sind Chryseis und Briseis nun schön-wangig oder haben sie runde Backen – so vv. 143/185, und auch 429 deutet in Sch.s [!] Übertragung darauf hin – , während jene in v. 310 gerötete Wangen hat, diese in v. 346 gleichschön ist: man mag sich dabei Unterschiedliches vorstellen, aber das hängt wohl auch mit Sch.s ganz eigenem Verständnis von festen Epitheta zusammen [S. XXXVII f.], so zu Achills schnellem Schritt vv. 58 gegenüber 84 und 488, zu Heras Kuhaugen in vv. 551 gegenüber 568 und ihren weißen Ellen vv. 569/572 gegenüber 595.

4Mühsam ist auch die Druckgestalt: durchgängige Kleinschreibung, auch der Eigennamen und nach Satzende (mit Punkt), mag Geschmackssache sein. Daß auf Interpunktion vielfach verzichtet, stattdessen aber (die zum Deutschen häufig unterschiedliche) Originalbetonung griechischer Eigennamen (aber auch das nicht konsequent) gegeben wird, verbirgt seinen tieferen Sinn. Die Zeilen-/Verszählung verteilt sich ‚großräumig‘.