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Zu-KWWeeber-Botschaften-aus-dem-Alten-Rom

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Karl-Wilhelm Weeber: Botschaften aus dem Alten Rom – Die besten Graffiti der Antike, Freiburg i. Br. (Herder) 2019. 192 S., € 10,- (ISBN 978-3-451-06827-0).

aus: FORUM CLASSICUM 63 (2020), S. 180 f.

Schriftzeichen und Bildchen, Figürliches und Kritzeleien auf öffentlichen Flächen, Echo aus den Gassen und Winkeln antiker Städte, so haltbar wie der Putz an den Wänden, in welche sie eingeritzt waren, thematisch vielgestaltig und trivial, Eingebungen des Zufalls oder des Übermutes, Vorgänger heutiger Streetart etwa aus Spraydosen: jedenfalls auch eine Textsorte, wenngleich ‚verborgen‘, spontane Stimmen des bunten Treibens der ‚kleinen Leute‘ auf der Straße, stets mit unmittelbarem Lebensbezug und so aktuell wie dieser, Streit in der Nachbarschaft und schulisches Leid, gelebte Liebe und Fanpost, Wahlkampf und Beschimpfung – Momentaufnahmen aus einem römischen Alltag, festgehalten im Ascheregen des Vesuvausbruches 79, ausgewählt und zusammengestellt von K.W. Weeber (W.) aus der umfassenden Sammlung im Rahmen von Band 4 (1871 ff.) des Corpus Inscriptionum Latinarum und damit in einer handlichen Ausgabe von Neuem ins Licht einer Öffentlichkeit gebracht, welcher sie entstammten und wo sie ursprünglich ihren ‚Sitz im Leben‘ genommen hatten. Prominent seit 1857 immerhin das blasphemische Spottgraffito von einer Hauswand auf dem Palatin in Rom (wohl um 200) über den Christen Alexamenos, der einen gekreuzigten Esel anbetet. Auch in Griechenstädten der Zeit fanden Tagesbefindlichkeiten in dieser Form ihren Niederschlag.

Dass sich Graffiti aus Rom selbst in geringerer Zahl erhalten haben, liegt weniger an einem minder prallen Alltagsleben in der Metropole als an der konservierenden Wirkung der Vulkanasche über Pompeji: die übliche Verfallszeit solcher Hinterlassenschaften von Augenblicks- und Freizeitlaunen war allerorts an die Haltbarkeit bröckelnden Wandputzes gebunden (S. 9). Keine Örtlichkeit war gegen Graffiti gefeit – Martial (XII 61, 8-10) und der jüngere Plinius (Ep. VIII 8, 7) berichten amüsiert –, indes durchaus dezenter: fein geritzt, nicht lauthals gesprüht, diskret, nicht unübersehbar wie heutige Spraygraffiti. Das Lateinische kennt hierfür keinen anderen Terminus als scribere, der Begriff kommt vom italienischen Verb (s)graffiare, kratzen. Was Pompeji von Rom unterscheidet, ist die geringe Zahl von Politgraffiti (für die Hauptstadt dagegen Sueton, Nero 45, 2). Allerdings finden sich auch hier unter der Asche die breiter gemalten Pinselstriche der Dipinti (Gemälde), deren gut wahrnehmbare Lettern Wahlaufrufe und allgemeine Verlautbarungen an die breite Öffentlichkeit enthalten (Auftragsarbeiten mit ‚Firmenlogo‘, vergleichbar modernen Reklametafeln oder Wahlplakaten) und die sich gerade darin von der reichlich ‚individuellen‘ Kursivschrift („Sauklaue“ S. 14, zumal ohne Interpunktion) der geritzten, privaten Graffiti abheben. Mithin vereinigt W.s unterhaltsame und handliche Sammlung (aus insgesamt etwa 5600) rund 600 Graffiti und 150 Dipinti mit ihren teils persönlichen, teils eher publikumsorientierten Botschaften – inhaltlich verteilen sie sich auf mehrere Themenkreise, besonders ergiebig ‚Amor & Eros‘, ‚Gladiatoren und Arena‘‚ ‚Wahlkampf‘ oder schlicht ‚Persönliches‘. Das älteste stammt aus d. J. 78 v. Chr.

Auffällig, aber den gesellschaftlichen Konventionen der Zeit entsprechend, die Zurückhaltung von Frauen beim Schreiben (anders: als Objekte) von Graffiti. Gerne genutzt wurden die ‚interaktiven‘ Möglichkeiten dieser Kommunikationsform in Kommentar und Dialog und noch viel lieber die Wand als Nachrichtenbörse für Familiäres wie als Pranger für Zeitgenossen – eine Vorstufe moderner ‚sozialer‘ Netzwerke (S. 73). Und die Hobbydichterlesung der etwas anderen, amourösen Art, literarisch weniger kunstvoll, dafür in ihrer ungekünstelten Schlichtheit unmittelbar anrührend, lässt die Liebeselegie (Properz, Ovid) im Hintergrund erkennen; für den Hagestolz ins Stammbuch, also an die Wand: Alter amat, alter amatur, ego fastidio – Erwiderung: Qui fastidit, amat (S. 31). Deutlich derber erotische Obszönitäten, Preislisten und Qualitätshinweise zu Dienstleistungen in Bordell oder Kneipe. Reminiszenzen an die Schulzeit führen zu Alphabetkritzeleien (S. 186 f.) und literarisierenden Graffiti (Vergil). Kritzeleien (nicht zuletzt von schwärmenden Damen) und professionelle Dipinti im Umfeld des Amphitheaters, berühmt durch eine Massenschlägerei 59 unter den Fans aus den umliegenden Vesuvstädten (Tac. Ann. XIV 17), zeichnen (!) Ausrichter und ihre Kämpfer sowie deren weitergehende Heldentaten. Grüße und epigraphische Selfies (der anteilsmäßig größte Bestand), Notizen aus der Wirtschaft (‚Einkaufskörbe‘, Zinsen), Nugae und Latrinenphilosophie spiegeln Allzumenschliches. Politparolen, berufsgruppen- und frauengestützt, Nahaufnahmen kommunalpolitischen Lebens in Pompeji (S. 121 ff.) – und in Rom: W. nach Ps.(?)-Cic., Commentariolum petitionis, S. 171-178.

In einer launigen, flüssig lesbaren Gesamteinführung ist von besonderem Nutzen die Aufstellung pompeianischer Graffiti in Zahlen (S. 10 f.): man erhält prozentualen Aufschluss über Personennamen, Inhalte, Dichterverse, nicht zuletzt Graffiti in griechischer Sprache (ca. 150). Danach gliedert W. sein Material in 23 weitere Unterkapitel, deren jedes eine Mottoüberschrift trägt – ‚Süß ist die Liebe für unsere Seele‘, ‚Der Netzkämpfer Crescens: Arzt der nächtlichen Puppen‘, ‚In Pompeji ist es schwierig … Wahlkampf ohne Politikverdrossenheit‘ u.a.m.  – und mit einer Einleitung versehen ist, welche die Anbindung an literarische Kunst oder zeitgenössische Politik sucht, aber auch den nahen und ungebrochenen Bezug zur Alltagswelt unserer Tage herstellt. Die Aufschriften werden in loser Folge und verschieden an Zahl (durchnummeriert und damit auch als W. ‚zitierfähig‘; die Nummern aus CIL IV stehen jeweils rechts neben dem Text) nach dem lateinischen Wortlaut übersetzt (Beides ergänzt), mitunter sachlich, ‚textkritisch‘, metrisch oder als Dichterzitat knapp erläutert (S. 19; 28 f. et al.) und häufig, den Abbildungen in CIL folgend, im originalen Schriftzug samt ein- oder beigefügter Bild’karikaturen‘ (S. 80; 90-93; 101) geboten, so dass ein authentischer Eindruck dieser Text- und Kleinkunstform entstehen kann.

Die Beschäftigung mit einer solchen Textsorte lohnt alleine schon die Freude an der detektivischen Suche im Kleinen, am „Knacken des Verpackungs- und Inhaltscodes lateinischer Graffiti“ – darin hat W. ebenso ‚einfach‘ Recht wie in der Erwartung, dass neben ihrem unbestreitbaren alltagshistorischen Quellenwert solche Intermezzi eine motivierende und bereichernde Ergänzung für jeden Unterricht darstellen können.

Michael P. Schmude,  Lahnstein