Noch-ist-Griechisch-nicht-verboten

Noch-ist-Griechisch-nicht-verboten

„Noch ist Griechisch nicht verboten“

Europäische Identität auf dem gemeinsamen Fundament lebendiger Inhalte einer <alten> Sprache

 

meine junge tochter fragt mich

griechisch lernen wozu

sym-pathein sage ich

eine menschliche Fähigkeit

die tieren und maschinen abgeht

lerne konjugieren

noch ist griechisch nicht verboten.

(Dorothee Soelle)

 

Am Humanistisch-Altsprachlichen Gymnasium wird als in Klasse 8 neueinsetzende (obligatorische) dritte Fremdsprache zwischen Griechisch und Französisch gewählt, also zwischen einer weiteren Alten oder einer weiteren Neuen Fremdsprache.

Wenn nun anläßlich dieser Wahl die Alte Sprache Griechisch ‚zur Debatte‘ steht, muß man als Erstes vielleicht eine grundsätzliche Unterscheidung vornehmen: Griechisch ist für den modernen Schulunterricht ein Literaturfach, während das Französische vorwiegend auf Kommunikation ausgerichtet ist, und hieraus ergeben sich völlig andersartige unterrichtliche Inhalte und Ziele dieser beiden Sprachenfächer.

Zunächst aber möchte ich gleich vorweg die beiden Haupteinwände ansprechen, die mir immer wieder entgegengehalten werden, sobald ich über Sinn und Zweck des Griechischen am Gymnasium rede:

1.) Eine alte Sprache (Latein) ist genug; keine zweite „tote“ Sprache …

2.) Was kann man überhaupt damit anfangen, was habe ich davon, wenn ich Griechisch lerne …?

Ich möchte mit dem Zweiten beginnen:

Wie jeder mehr oder minder wackere Pennäler habe auch ich mich während meiner Schulzeit in der Mathematik beispielsweise mit Kurvendiskussion, Vektorrechnung, geometrischen Konstruktionen, in der Biologie mit dem faszinierenden Phänomen der Photosynthese, in der Erkunde mit den klimatischen Bedingungen am Äquator oder im Innern Australiens befaßt – ohne Ausnahme sinnvolle und wichtige Wissensgebiete, welche mich geschult und meinen Horizont erweitert haben, Bereiche, die Bildung ausmachen; doch wenn ich beantworten müßte, was ich nun konkret davon gehabt hätte, daß ich dieses betrieben habe, oder was ich vielleicht beruflich damit habe anfangen können, so käme ich vermutlich in Verlegenheit.

Auf der anderen Seite und damit zum ersten Einwand:

wenn es bei der Beschäftigung mit dem Griechischen alleine darum ginge, die altgriechische Sprache zu lernen, Altgriechisch parlieren zu können, dann gälte das Argument in der Tat: eine heute nicht mehr gesprochene Sprache ist genug – hingegen: darin besteht eben nicht das Anliegen des Faches; es handelt sich hier nicht um das bloße Erlernen einer zweiten Alten Sprache, die Spracherlernung ist im Griechischen nur Mittel zum Zweck auf dem Wege zur griechischen Literatur (und Kultur überhaupt).

Und ein dementsprechend gestraffter Durchgang durch die Spracherlernung wird praktiziert durch ständiges Heranziehen dessen, was man in der ersten Alten Sprache Latein (welche geschichtlich gesehen eine Tochter der zweiten, griechischen ist) bereits behandelt hat: sowohl im Vokabular als auch in der Grammatik, in allen wichtigen syntaktischen Erscheinungen, in Infinitiv- wie Partizipialkonstruktionen, Kasusfunktionen wie Nebensatzarten läßt sich das im Lateinischen Gelernte unmittelbar im Griechischen wiedererkennen und anwenden; ein nicht zu verachtender Aspekt ist dabei, mögliche Unsicherheiten oder Lücken aus dem Lateinunterricht durch diese Form der Wiederholung im Griechischen zu festigen bzw. zu schliessen. Die positiven Wirkungen für das Beherrschen von Grammatik schlechthin, für das Wissen darum, wie Sprache überhaupt ‚funktioniert‘, also nicht zuletzt für die eigene Muttersprache Deutsch, kommen hinzu.

Auch das vermeintlich so fremde griechische Alphabet zeigt sich bei näherem Hinsehen als Mutter unseres lateinischen (die Griechen hatten bereits im 8. Jh. v. Chr. Sizilien und Unteritalien kolonisiert und dabei ihre westgriechische Schrift an die Stämme Italiens, namentlich die Römer in Latium weitergegeben): besonders deutlich im Bereich der Großbuchstaben, lassen sich auch die meisten Kleinbuchstaben des griechischen Alphabets ohne große Mühe den entsprechenden unseres lateinischen zuordnen; und nimmt man die aus der Mathematik bekannten Zeichen für die Winkel sowie die festen Zahlen Pi und Rho hinzu, so reduziert sich der tatsächliche Bestand der neu zu erlernenden Zeichen sehr schnell auf eine Handvoll. Zum Ausgleich dafür wird im Griechischen aber auch Alles genauso geschrieben wie es ausgesprochen wird.

Aufgrund dieser zügigen Hinführung durch die Spracherlernungsphase zur griechischen Literatur läßt sich der zweite, bereits angeführte Einwand gegen die erneut Alte, „tote“ Sprache Griechisch („was hab‘ ich davon ...“) zuspitzen auf die Frage „… was hat man von der Beschäftigung mit Literatur ?“ überhaupt – zumal mit derjenigen, welche nicht weniger als das Fundament unserer abendländischen Literatur im Ganzen darstellt.

In den o.g. (und durchaus willkürlich gewählten) Beispielen aus Mathematik, Biologie oder Erdkunde war von dem Wert dieser Gegenstände gesprochen aufgrund dessen, was sie im Menschen / in uns schulen, in welcher Weise sie uns bilden und formen, welche erwünschten Veränderungen sie in unserem Denken bewirken. Nun ist Bildung und Formung natürlich nicht allein per se, sondern vordringlich in dem Maße wünschenswert, wie auch Inhalt und Richtung dieser Bildung und Formung als wünschenswert angesehen werden. Und hier hält das Fach Griechisch ein reiches und vielfältiges Angebot bereit:

  • Wir haben mit Homer die erste faßbare Figur, mit Ilias und Odyssee nicht nur den Anfang, sondern zugleich bereits Höhepunkte der europäischen Literaturgeschichte. Handlungsmotive wie Persönlichkeiten des griechischen Epos bleiben grundlegend für künftige Formen von Dichtung.
  • Der griechische Mythos ist nicht allein erstes Erklärungsmodell einer Geschichte der Völker, er stellt – als ursprünglichste Form philosophischen Fragens – auf bildhafte Weise Grundprobleme der menschlichen Existenz an exemplarischen Gestalten dar, zeigt ihr Ringen, Bewährung wie Scheitern, um Fragen wie die der Willensfreiheit und Selbstverantwortlichkeit des Menschen, seiner Einbettung und Funktion innerhalb eines gesellschaftlichen Gefüges, seines Verhältnisses zum Göttlichen und zum Schicksal, den Konflikten zwischen Macht und Recht, zwischen Ethos und Nutzen u.a.m.: der literarische Ort, an welchem die griechische Literatur zur Auseinandersetzung mit solchen Fragen aufruft, ist die Attische Tragödie des Aischylos, Sophokles und Euripides.
  • Neben der attischen Tragödie bildet die griechische Komödie das zweite Standbein der europäischen Theatertradition: politische Satire, vergleichbar unserem Kabarett, in der Alten Komödie des Aristophanes, bürgerliches Lustspiel im Stile etwa eines Ohnesorg-Theaters in der hellenistischen Komödie des Menander: über Molière, Shakespeare und Lessing wie die Tragödie auf den Spielplänen auch heutiger Theaterhäuser weiterlebend.
  • Mit Herodot und Thukydides beginnt eine Form der Geschichtsschreibung, welche in Quellenanalyse und selbstständigem Forschen (Aut-opsie) eine Methode entwickelt, die sich selbstbewußt von der Fabulierkunst der vorangegangenen Geschichtenerzähler absetzt und als die historisch-kritische auch moderner Geschichtswissenschaft zugrundeliegt.
  • Die Naturphilosophie der Vorsokratiker hatte eine rationale Erklärung des Aufbaus der physikalischen Welt und eine ebensolche Deutung der in dieser wirkenden Kräfte unternommen, hatte bereits nach dem Urgrund der Materie gefragt und dabei u.a. die Elementenlehre sowie die Vorstellung vom Atom entwickelt. Sokrates und Platon holen die Philosophie zum Menschen zurück, lenken diesen durch unablässiges Fragen zu einem Handeln hin, welches an ethisch-sittlichen Maßstäben orientiert ist, stellen zusammen mit Aristoteles die Grundformen menschlichen Zusammenlebens vor und suchen nach dem idealen Staat. Die von Platon und Aristoteles in ihren uns überlieferten Schriften aufgeworfenen Fragen nach den Bedingungen des menschlichen Daseins sind die Fragen, die auch heute gestellt werden – in der griechischen Antike vorweg formuliert, thematisiert, problematisiert: in der Auseinandersetzung mit ihren (zeitbedingten) Antworten, in Annahme wie Zurückweisung, können wir unsere eigenen Lösungen finden. Dieses Angebot ist über-zeitlich.
  • Die wissenschaftliche Medizin beginnt mit dem Namen des Hippokrates und seiner Schule, Aristoteles unterscheidet und begründet erstmals naturwissenschaftliche Disziplinen in einem auch modernen Sinne.
  • Das theoretische ‚System der Rhetorik‘, angewandt und überprüft in der Praxis der attischen Beredsamkeit von Rednern wie Isokrates oder Demosthenes, hat die Maßstäbe zur Beurteilung jeglicher politischer Rede, ihrer (argumentativen) Struktur, ihrer äußeren Form sowie ihrer Wirkabsichten, grundgelegt und schult uns heute in Blick auf ein ‚Anschauungsmaterial‘, welches unsere Parlamente in Fülle bieten. Gesellschaftstheorie und politische Praxis nehmen ihren Ausgang in Griechenland, und die Geburtsstunde demokratischer Verfahren findet statt auf dem Areopag in Athen.

 

Wir sind (mittlerweile) weit davon entfernt, die geistige und reale Welt der griechischen Antike als eine ideale, ewig und unumstößlich gültige zu betrachten, die „stille Einfalt und edle Größe„, welche Winckelmann anfangs des 19. Jh. noch zu erkennen glaubte, taugt nicht als Lebensmodell für das neue Jahrtausend – das tat (und wollte) sie, wohlverstanden, freilich zu keiner Zeit: die griechische Psyche nimmt die Frage nach dem Menschsein vorweg, nach dem Rätsel, das die Sphinx dem Oedipus aufgab, sie zeigt die Höhepunkte wie die Abgründe der menschlichen Seele aller Zeiten, aber sie fragt auf eine grundlegende wie einzigartige Weise nach diesen so eindringlich und kompromißlos, daß sich die Literaturen der folgenden Jahrhunderte bis in das unsere mit diesen zeitlos aktuellen Fragen auseinandersetzen und im Sich-Reiben an den – durchaus nicht immer einmaligen und exemplarischen – Antworten der Griechen ihre je eigenen Standpunkte finden und schärfen. Der ‚Fall Antigone‘ findet Interesse nicht wegen der Art seiner Lösung, die natürlich eine des 5. vorchristlichen Jahrhunderts ist, sondern wegen der von Antigone aufgeworfenen und durchgeführten Frage nach der Rangordnung von Gesetzen der Menschlichkeit vor abstrakter Staatsraison; er bleibt als Problemstellung Vorgabe und Modell literarischer Behandlung noch bei Anouilh in den fünfziger Jahren unserer Zeit – abschließend beantwortet ist er bis heute nicht. Und natürlich haben alle Nationalsprachen Europas auch ihre je eigenen, lesenswerten Literaturen entwickelt – aber sie stehen auf den Schultern der griechischen, und man wird jene besser verstehen, wenn man diese zuerst einmal kennengelernt hat.

 

Doch nicht nur die literarische Fülle, sondern auch weitere Aspekte der Kulturgeschichte sind im Griechischunterricht präsent und werden in unseren modernen Lehrwerken von Beginn an mit einbezogen: kein Sprachenlehrgang ohne griechische Kunst, Archäologie und Architektur, kein Sprachenlehrgang ohne das antike Staatswesen oder politische Theorie, kein Sprachenlehrgang ohne Philosophie, Mythologie oder Religion. Die ganze Vielfalt der griechischen Literatur ist in den Lesestücken der Lektionen vertreten, die verschiedenen Bereiche der griechischen Kultur werden in Sachtexten den Lektionen beigegeben (Die attische Demokratie, der griechische Tempel, Spiel und Sport in der Antike, Delphi, Wirtschaft und Gesellschaft, Theater und Schulwesen u.a.m.) sowie mittels Foto- und Filmmaterial im laufenden Unterricht anschaulich gemacht.  Zwei Beispiele indes mögen den direkten Bezug antiker, hier historisch-politischer auf entsprechende heutige, aktuelle Konstellationen im Einzelfall verdeutlichen:

  • Der obengenannte Historiker Thukydides berichtet in seiner Darstellung des Peloponnesischen Krieges zwischen Athen und Sparta vom Auftritt einer attischen Gesandtschaft vor dem Stadtrat von Melos, um die kleine, neutral gebliebene Kykladeninsel in den Attischen Seebund zu zwingen. Die unverhohlene imperialistische Ideologie, welche in den Reden der Athener herausbricht, ebenso wie die dagegen angekündigten Gegenkräfte, welche jede Überspannung von Macht notwendig heraufführe, bilden das Spiel rivalisierender Großmächte jüngster Zeiten und deren Umgang mit Kleineren innerhalb ihrer Interessensspähren zeitlos ab – wer sich mit diesen gedanklichen Zeugnissen vom Treiben antiker Großmächte befaßt hat, sieht dasjenige der modernen differenzierter und bewußter.
  • Der gleiche Autor führt dem Leser die politische Debatte um die sogenannte ‚Sizilische Expedition‘ vor, ein Paradebeispiel politischer Manipulation der Massen: ein Angriff auf die mit Sparta verbündeten, mächtigen Städte Siziliens mußte in seinem Ausmaß die Kräfte Athens entscheidend überfordern, doch im Rededuell vor der Volksversammlung setzen sich die warnenden Argumente des besonnenen Feldherrn Nikias nicht durch; vielmehr gelingt es der brillanten, aber skrupellosen Rhetorik des Alkibiades, seine Zuhörer für dieses später so verhängnisvolle Unternehmen zu begeistern – wer diesen Demagogen vor seinem geistigen Auge erlebt hat, hört im Zeitalter der Mediendemokratie das politische Wort in Parlamenten, bei Kundgebungen, auf Versammlungen klarer und bewußter, ist geschult, dessen Lockungen nach hier wie da mit der gebotenen, kritischen Distanz zu begegnen, ist frei gegenüber ideologisch-bornierten – und damit recht eigentlich antiquierten – Festlegungen, ist frei letztlich gegenüber jeder Art von Bildern , welche uns zu schnellem, eilfertigem Konsum von Meinungsmachern vorgefertigt überfluten. In diesem Sinne ist Humanistische Bildung Emanzipation, „Freisetzung eines [kritischen und souveränen] Menschen in seine Wirklichkeit“ (H.J. Heydorn, Physiker).

Kaum wird man aus den Lehren, welche diese (und weitere) Fallbeispiele vermitteln, gleich einen Beruf machen wollen – doch hat man wirklich nichts davon, die gesellschaftlichen, die politisch-historischen Vorgänge um Sich selbst herum mit an solchen Stoffen geschärfter Aufmerksamkeit und vor einem solchermaßen verbreiterten Horizont wahrzunehmen ??

 

Nun wird von Seiten derer, die diese geistesgeschichtliche Grundlagenfunktion des Griechischen für unser modernes Denken durchaus anerkennen, aber immer wieder vorgebracht, man könne die literarischen Zeugnisse der Griechen doch auch in Übersetzungen lesen und brauche sich darum nicht erst mit der griechischen Sprache zu befassen. Dem ist folgende Überlegung entgegenzuhalten:

Eine Übersetzung ist stets nur die erste Form von Interpretation: man braucht bloß fünf verschiedene (gedruckte) Übersetzungen eines Abschnittes beispielsweise aus Platon oder Homer nebeneinanderzulegen und wird bald feststellen, daß man fünf verschiedene Versionen desselben Textes vor sich hat – und mit dem griechischen Original dann noch die sechste. Eine Übersetzung kann (und will) niemals Ersatz für das Original sein.

 

Letzter, auch im plakativen Sinne „nützlicher“ Aspekt des Griechischunterrichtes: das heutige, moderne Neu-Griechisch ist in seiner Schriftsprache dem Altgriechischen weitgehend gleichgeblieben, die Aussprache (besonders einiger ziemlich häufiger Vokale) hat sich geändert, hinzu kommen Wortkontraktionen und südländisches Sprechtempo. Wenngleich man also heute am Omonia-Platz in Athen ein Gespräch zwischen zwei Griechen als etwas eher Fremdartiges empfinden wird, braucht man als „Altgrieche“ nur eine Tageszeitung aufzuschlagen und zu lesen beginnen, um sogleich zu wissen, wo man ist. Nicht zu verachten ist schließlich die Hilfe, welche die griechische Sprache zum Verständnis des technischen Vokabulars bzw. der Fachsprache in den Naturwissenschaften, der Medizin, Pharmazie und Psychologie bereitstellt, bei deren Termini es sich weitestgehend um (vielfach noch anglisierte) Graezismen handelt (ohne daß man sich dessen heute bewußt ist – telekinetisch oder autogen, psychosomatisch oder schizophren ?).

 

Man hört auch häufig, Griechisch könne man noch an der Universität lernen, doch ist dies gleichfalls ein Fehlglaube: was in den entsprechenden Universitätskursen angeboten wird, ist ein Schnelldurchlauf in kürzester Zeit durch den Sprachenlehrgang, in welchem man darauf getrimmt wird, zu einem bestimmten Zeitpunkt einmal einen (mittelschweren) Platon-Text wenigstens ausreichend übersetzen zu können; für Literatur-, geschweige denn Kulturunterricht, welcher zudem eine ideale, weil von den Fundamenten ausgehende Vorbereitung für das Studium einer jeden neueren europäischen Literatur darstellt, bleibt da kein Raum. Man hat ‚den Schein‘; man hat Graecum (und für ein paar Studienfächer muß man ein solches auch nachweisen), aber mit Griechischunterricht im oben skizzierten Sinne hat dies wenig zu tun.

 

Ein Problem bleibt freilich: man wählt das Eine, um das Andere zu lassen, und auch das Andere, Französisch, ist ohne jeden Zweifel sinnvoll und wichtig – am besten wäre es, man könnte Beides haben !

Die Entscheidung sollte unter dem Aspekt fallen: was kann ich in dieser Form nur am Gymnasium bekommen, und was wird mir auch noch anderswo angeboten. Möglichkeiten, Französisch oder jedwede andere moderne Fremdsprache zu erlernen, bieten VHS, inlingua, Dolmetscherinstitute u.a., und die sprachliche Schulung, welche man durch den Latein- und Griechischunterricht bereits erhalten hat, ermöglicht ein relativ problemloses Aneignen jeder weiteren modernen Fremdsprache (zumal man noch gar nicht weiß, ob man später nicht anstatt Französisch vielmehr Spanisch, Portugiesisch, Italienisch, Holländisch o.a. beruflich benötigt).

 

Könnte man nun Griechisch nicht auch in Form einer AG neben Französisch (als regulärer Fremdsprache) oder aber als vierte Fremdsprache nach Französisch als Dritter betreiben ?

Eine AG oder ein nur noch vierjähriger Unterricht etwa ab Klasse 10 kommt über die Vermittlung von – durchaus ordentlichen – Sprachkenntnissen selten hinaus. Griechisch in einer AG (mit entsprechend wenigen Stunden) oder als vierte Fremdsprache kann darum sein zweites, sein Hauptanliegen, nämlich zur Literatur hinzuführen, kaum verwirklichen. Französisch hat dieses doppelte Anliegen, Sprache und Literatur, nicht in gleicher Weise, so daß Sprachkenntnisse durch eine AG oder Französisch als 4. FS das wichtigste Ziel des Französischunterrichtes, Kommuni-kationsfähigkeit in allen wesentlichen Bereichen des Alltags, bereits erreichen. Diese kann durch eine der o.g. Formen (VHS, inlingua, Dolmetscherinstitute) ohne weiteres fortgeführt, vertieft und erweitert werden.

In diesem Sinne besteht an mancher Schule die Möglichkeit, ab der Klasse 10 zwischen Französisch und Spanisch noch einmal eine vierte Fremdsprache hinzuzuwählen, gerade auch um die unselige und sachfremde Konkurrenz zwischen Alter und Neuer Sprache mit ihren ganz unterschiedlichen, jeder für sich aber bereichernden Zielsetzungen auszuräumen, eben um das Eine wählen zu können, ohne das Andere lassen zu müssen.

 

Im Zeichen des Zusammenrückens der Völker Europas, des Suchens (und Findens) einer gemeinsamen europäischen Eigenart bleibt die griechisch–römisch–christliche Herkunft und Gegenwart das einheits- und identitätsstiftende Band. Und wer darum an den Grundlagen unseres abendländischen Kulturraumes, an den Anfängen der Geschichte Mitteleuropas und ihren Entwicklungslinien bis in die heutige Zeit Interesse findet, wer sich den Gedanken zu eigen machen kann, daß „… wer nicht weiß, wo er herkommt, nicht weiß, wer er ist …“ (G.), wer Freude an Dichtung, Zugang zu den Grundfragen der Philosophie hat, wer einen Wert ‚an sich‘, einen Sinn in der Beschäftigung mit Literatur sieht, welcher ihm etwas bringt, von welchem er etwas hat (s.o. !), dem macht das allgemeinbildende Grundlagenfach Griechisch ein reiches und bereicherndes Angebot auch und gerade für das neue, noch junge Jahrtausend, und noch ist es – wie gehört – nicht verboten …

 

Michael P. Schmude

 

aus: Festschrift 80 Jahre Johannes-Gymnasium Lahnstein, hrsg. v. A. Bell, K.W. Müller, M.P. Schmude (2001), S. 182-190.

Vgl. auch → www.Ulisseweb.eu – Official Documents of the Perugia Convention 06.26.2006.

Der-Mensch-Maengelwesen-oder-Krone-der-Schoepfung

Der-Mensch-Maengelwesen-oder-Krone-der-Schoepfung

Der Mensch ‑ Mängelwesen oder Krone der Schöpfung ?*

von Michael P. Schmude,  Boppard

aus: Anregung 43 (1997), S. 91-94            [Abiturrede 1996]

 

Die Menschen gehen ihres Weges und bewundern die Gipfel der Berge, die ungeheure Flut des Meeres, das Abwärtsgleiten der breiten Ströme, den Ozean in seiner Unermeßlichkeit und die Kreisbahnen der Sterne ‑ von sich selbst jedoch entfernen sie sich mehr und mehr“ ‑ so der italienische Dichter und Humanist Francesco Petrarca im 14. Jh. in einem Brief an Freunde (de fam. VI <IV 1>) ‑ wer oder was ist der Mensch ?

Diese Frage, in der Vorhalle des Apollontempels zu Delphi als Gebot formuliert ‑ das bekannte „gnṓthi seautón: erkenne Dich selbst“ der Sieben Weisen ‑, bewegt die spekulierenden Geister der Jahrhunderte ‑ im besten Sinne des Wortes speculari als ‚umherschauen, erforschen, beobachten‘. Aus der Frage nach der Ordnung der physikalischen Welt, dem Kosmos, die von den vorsokratischen Naturphilosophen des östlichen Mittelmeeres, von Thales v. Milet, von Pythagoras u.a., seit dem 7. vorchristlichen Jahrhundert aufgeworfen wurde, hatte sich die weitergehende nach der Entstehung menschlicher Gemeinschaft und Kultur ergeben. Wir denken aber auch an den Kyniker Diogenes ‑ den in der Tonne ‑ , wie er im Athen des 4. Jahrhunderts in Diensten desselben Delphischen Apoll am hellichten Tag mit einer Lampe umherläuft, um nach einem Menschen zu suchen (Diog. Laert. 6, 41).

Es war einst eine Zeit, wo es Götter zwar gab, sterbliche Geschlechter aber gab es noch nicht …“ beginnt ein Mythos, welchen Platon den Sophisten Protagoras vortragen läßt (Prot. 32o d ff). Danach bildeten die Götter die Lebewesen zur vorherbestimmten Zeit im Erdinnern aus einem Gemenge von Erde und Feuer und beauftragten das Brüderpaar Prometheus und Epimetheus ‑ den Vorherdenker und den Nachherdenker ‑ , diese ans Licht der Welt zu befördern und mit den hierfür erforderlichen Wesensanlagen auszustatten. Es gelang dem Epimetheus, seinen Bruder zu beschwatzen, ihm diese Aufgabe alleine zu überlassen, und so machte er sich ans Werk.

Er legte dabei zunächst auch einen erstaunlichen Verstand an den Tag: welchen er Stärke zugeteilt hatte, die bedurften nicht besonderer Schnelligkeit, mit dieser hingegen versah er die Schwachen und Kleinen, dazu mit Flügeln oder unterirdischer Behausung. Er vergab Felle gegen Hitze wie Kälte, Hufe und Klauen, wies den verschiedenen Arten verschiedene Formen der Ernährung zu, den einen Kräuter und Früchte, den anderen das Fleisch anderer Tiere; die Räuber begrenzte er in ihrer Vermehrung, während er der Beute durch entsprechende Zeugungskraft den Bestand ihrer Gattung sicherte …

Doch jetzt hatte er ein Problem: nach seiner auf den ersten Blick so umsichtigen Verteilung war nichts mehr für das letzte der sterblichen Geschlechter übriggeblieben, den Menschen. Als der Bruder Prometheus hinzukam und die Bescherung sah, wußte er nur noch dadurch Abhilfe zu schaffen, daß er der Athene die Handwerke und dem Hephaistos das Feuer stahl und den Menschen brachte; bekanntlich hat Zeus ihm dies niemals verziehen und ihn zur Strafe an eine Felswand schmieden lassen – es sollte eines Herakles bedürfen, um ihn später aus dieser wenig befriedigenden Lage zu befreien.

Der Mensch als Mängelwesen, ein Stiefkind der Natur ‑ weniger behende als die geflügelten Schwachen, den Starken unter den tierischen Geschlechtern an Kraft unterlegen und auch in seiner Vermehrung nicht unerheblichen individuellen Schwankungen unterworfen ‑ ist das der Mensch, von welchem der gleiche Protagoras den berühmt-berüchtigten Homo-mensura-Satz prägen sollte: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der Seienden, daß sie sind, der nicht-Seienden, daß sie nicht sind“ (VS 80 B 1) ? Platon hat die Unzulänglichkeiten des Einzelmenschen zum Beweggrund für den Zusammenschluß zu sozialen Gemeinschaften gemacht: die bürgerliche, die politische Fertigkeit hatte Prometheus freilich nicht stehlen können, die verwahrte Zeus einstweilen noch persönlich. In der Politeia sodann, Platons Staatsmodell, ergänzen sich die Menschen mit jeweils derjenigen Fähigkeit, die jeder Einzelne zur allgemeinen Bedürfnisbefriedigung beitragen kann (369 b 5 ff.): der Bauer stellt seinen Pflug nicht selbst her, auch der Arzt benötigt Schuhwerk, und der Kaufmann wird von Kopf- oder Bauchschmerzen geplagt. Allerdings bedarf es als ordnenden Elementes auch hier noch eines allgemeinen Rechtsempfindens.

Demgegenüber prägt Aristoteles den Begriff vom Menschen als Zṓon politikón (Pol. 1253 a 3), welcher später insbesondere für die Stoa (vgl. Cic. off. I 22 [Panaitios]; I 152‑61 [Poseidonios]) maßgebend wurde: wie Cicero es nach ihm formulieren sollte, sei Grund für das Zusammengehen nicht so sehr die Schwäche und Wehrlosigkeit als vielmehr ein gleichsam natürlicher Trieb des Menschen zur Geselligkeit, der Einsiedelei seinem Wesen nach scheue (rep. 1, 39). Es war Epikur, der Vielbemühte und meist Geschmähte, welcher beiden Vorstellungen, die zuvor schon nicht scharf voneinander zu trennen waren, in seinen Kulturphasen Rechnung trug ‑ soweit wir dies jedenfalls aus der dichterischen Kulturentstehungslehre seines römischen Schülers und etwas jüngeren Zeitgenossen Ciceros, Lukrez (5, 925 ff.), ersehen können: während zunächst einmal die äußeren, natürlichen Umstände auf den Menschen Zwang ausüben, sind erst in einem zweiten Schritt menschlicher Verstand und Überlegung Triebkräfte einer sozialen und kulturellen Entwicklung.

Kehren wir zurück zum Homo-mensura-Satz des Sophisten: wenn der Mensch das Maß ist ‑  wer setzt ihm das Maß, wer gibt ihm die Norm, wer zeigt ihm seine  Grenze ? Wo bleibt für ihn dann der Gott, die Ordnung über ihm ?

Als den Menschen die Erde nicht mehr genügte, bauten sie einen Turm, um in den Himmel zu gelangen, und als die chaotischen Giganten die Ordnung der Götter umstürzen wollten, türmten sie Berge gegen den Olymp auf ‑ wie es den Einen erging, erzählt uns das Alte Testament (Gen. 11), was den Anderen blühte, ist am Pergamon-Altar auf der Berliner Museumsinsel zu besichtigen. Doch nirgendwo wird der Mensch in seiner vermeintlichen Stärke und Souveränität so unerbittlich in seine Schranken gewiesen wie in den Über-Menschen der Attischen Tragödie: von Kreon, dem Herrscher über Theben, welcher sich in Staatsraison wider alle Menschlichkeit versteigt, bis zum Meisterdetektiv Ödipus in seiner intellektuellen, aber hybriden Brillanz, mit welcher er schon das Menschenrätsel der Sphinx gelöst und diese in Verzweiflung gestürzt hatte: zerschlagen, weil sie das ihnen ‑ eben doch ! ‑ gesetzte Maß überschritten haben. Nur einer will zum tragischen Helden nicht recht taugen: es ist der vielduldende Odysseus, der listenreiche, der um seine Schwächen weiß und schlau seine Stärken ausspielt ‑ und überlebt.

Ungeheuer ist viel, doch nichts ungeheurer als der Mensch – er herrscht über die Stürme des Meeres und die Erde mit ihrem Getier, herrscht über Rede und Gedanken, über Städte – nur dem Ort der Toten zu entgehen, das hat er nicht gelernt, Hochmut, Unrecht und Frechheit bringt er …„; in diesem Sinne läßt Sophokles den Chor der Antigone (332 ff.) sich vor deren Artgenossen verwahren: was hatte man sich nicht Alles untereinander angetan, stets mit gutem Grund, mit tragischer Notwendigkeit ‑ der Bruder den Bruder von Stadt und Herrschaft ferngehalten, der wiederum die Vaterstadt mit einem fremden Heer angegriffen und belagert, die Brüder sich schließlich im Zweikampf gegenseitig getötet, doch nur einer durfte bestattet werden, der Leichnam des anderen sollte Hunden und Vögeln zum Fraß dienen, die Schwester, die das Bestattungsverbot übertreten hatte, sah der Todesstrafe entgegen, ihr Verlobter, Sohn desjenigen, welcher Verbot wie Strafe erlassen hatte, beging darum Selbstmord, seine Mutter folgte ihm darin ‑ eine Familie, ein Katalog von Leichen ‑ der Mensch dem Menschen Wolf ‑ homo homini lupus …

Versöhnlicher ist nur die Komödie: „… ich bin Mensch, nichts Menschliches ist mir fremd“ ‑ mit diesem Bekenntnis läßt der Afrikaner Terenz ‑ nach einer hellenistischen Vorlage ‑ im 2. Jh. v. Chr. eine seiner Figuren sich selbst charakterisieren (Heautont. 77): doch welcher Mensch ist hier gemeint ‑ der Mensch als Mängelwesen oder der Mensch als Krone der Schöpfung ? Die beiden Quellenschriften zur alttestamentlichen Genesis, der (ältere) Jahwist (Gen. 2, 4b‑25) wie die (jüngere) Priesterschrift (Gen. 1, 1 ‑ 2, 4a) sehen in ihm Mittel- bzw. Höhepunkt der Welterschaffung, ausgestattet mit einer Art Freifahrtschein, sich diese untertan zu machen, könnte man meinen …

Doch bekanntlich behagte das Prunkstück auch seinem Erschaffer immer weniger, je weiter und breiter es sich machte, bis er schließlich die Große Flut schickte, um ‚klar Schiff‘ für einen neuen Anlauf zu bekommen (Gen. 6‑8); bei dem Griechen Hesiod (um 7oo vor) wie bei dem Römer Ovid einige Jahre nach Christi Geburt wird dies über die Deszendenz der Menschengeschlechter hinweg vom Goldenen bis zum Eisernen Zeitalter nötig (Erga 1o9 ff / Metam. 1, 89 ff; 244 ff): übrigens ist diese Vorstellung vom Mißraten des ersten Schöpfungsversuches ein gemeinsames Grundmuster menschlichen Denkens, denn in den Aufzeichnungen verschiedener Kulturvölker mit Schöpfungsberichten, von den Indianern Nordamerikas bis zu den Einwohnern des Zweistromlandes, bedarf es einer Sintflut, um das Mißlingen der Schöpfung noch einmal zu korrigieren. Nun ist dies natürlich kein beliebig wiederholbares Verfahren, und welcher Weg beschritten werden sollte, als auch der zweite Versuch mit der ‚Krone der Schöpfung‘ danebengeriet, findet sich im Neuen Testament gleich mehrfach aufgezeichnet ‑ ihren Mängeln war indes mit Verbesserungsvorschlägen nicht mehr beizukommen, da half nur noch Vergebung statt Strafe. Der Mensch sitzt längst schon im Dunkel des Jammertals.

Es ist der Humanismus, welcher den Menschen wieder in den Mittelpunkt rückt, nach den Möglichkeiten seiner eigenständigen Entfaltung wie nach seiner Daseinsbestimmung als Individuum fragt. Insbesondere der Renaissancehumanismus im Florenz des Quattrocento, im 15. und 16. Jahrhundert, stellt mit der Wiederentdeckung der Klassischen Texte der alten Griechen auch deren zentrale Frage nach der Eigenart des Menschen in den Vordergrund. Wiederaufgenommen im Neu-Humanismus der Deutschen Klassik, reicht seine Kraft trotz zeitgeistbedingter Anfechtungen mancher Epochen bis in unsere Tage, seine Notwendigkeit besteht in ebendem Maße, wie die Kernfrage, welche im Begriff Humanismus Programm geworden ist, auf eine erschöpfende Antwort dringt ‑ aber ist eine solche überhaupt vorstellbar ?

Nun ‑ wir werden dies hier und heute jedenfalls nicht leisten können, und das war auch mit diesem kleinen, eher willkürlich zusammengestellten Panoptikum ganz unterschiedlicher Auffassungen an keiner Stelle beabsichtigt. Vorgeführt werden sollte, wie die Frage nach Wesen und Bestimmung des Menschen aufgeworfen und zeitlos formuliert, kontrovers und zeitbedingt diskutiert, uns Späteren aller Zeiten als Hausaufgabe mit auf den Weg gegeben wurde. In der Auseinandersetzung mit, in Annahme wie Zurückweisung bereits gegebener Antworten, liegen Möglichkeiten, in der Erkenntnis unserer Grenzen wie unserer Verantwortung gegenüber dem Ganzen, in dem von uns geforderten, wohlverstandenen Respekt vor der Schöpfung und ihrer Wohlgeordnetheit, ihrer Eu-kosmía, ein Stück weiter aus dem Neandertal herauszutreten.

Lahnstein, 28. Juni 1996                                                Michael P. Schmude

 

*Erstfassung in: Anregung – Zeitschrift für Gymnasialpädagogik (s.o.); fortlaufend überarbeitet und erweitert in: www.ulisseweb.eu: Official documents – Papers of Malta Convention 09.04-05.2006 sowie Der Mensch – von Prometheus bis Sartre: ein philosophischer Par-Cours, in: Lingue Antiche e Moderne 2 (2013), 79-104.

 

 

Zu-R-Schrott-Homer-Ilias-Buch-I

Zu-R-Schrott-Homer-Ilias-Buch-I

Homer – Ilias, übertragen von Raoul Schrott, kommentiert von Peter Mauritsch  (München, C. Hanser 2008), 631 pp., gebunden 34,95 Euro.

Bereits nach Lektüre des ersten Gesanges von Sch(rott)s Ilias – eingebettet als Zweiter Teil des Troianischen Krieges nach (Inhaltsangaben der) Kypria und vor Aithiopis1 – stellt sich ein ausgesprochen ungutes Gefühl über Sprachform und Diktion dieser Übertragung ein, welche (im hinteren Klappentext) immerhin den Anspruch erhebt, „noch nie zuvor […] dem heutigen Leser dieses große Epos vom troianischen Krieg so nahe [zu bringen], in einer ebenso kraftvollen wie bildhaften Sprache“. Voss (1793), Schadewaldt (1975), Hampe (1979), Ebener (1983), Latacz (2002) haben „wesentlich dazu geführt, daß die Ilias heute kaum mehr gelesen wird …“ (S. XXXII) – man muß solche Verstiegenheit nicht kommentieren. Stattdessen sei der Hinweis erlaubt, daß die Abfolge bei den Homerica zunächst einmal umlaufender, dichtender Volksgeist und seine weitere, jahrhundertelange mündliche Verbreitung durch fahrende Sänger (Rhapsoden) ist, sodann erst (anders Sch. S. XXVIII f.) die Spracharbeit eines Dichters (Homer) deren literarischen Niederschlag schafft – ohne darum doch die Zeugen ihrer Herkunft aus der oral poetry gleich auszumerzen. Ob Platon im Ion diese Entstehungsgeschichte epischer Werke vor Augen hatte, bleibe dahingestellt, der Verweis auf ihn (S. XXXIII) ist wohlfeil – wer wollte seiner Aufforderung an den Rhapsoden seiner Zeit, zu verstehen, „was der Dichter meint“, widersprechen, aber: was er sagt und wie er es meint, bleibt Interpretation und am engsten darin erkennbar, wie er es formuliert: „Homer von seinem Ufer abzuholen, um ihn ins Heute zu bringen“ ist eben nicht mehr genuin Homer, sondern Schrott nach Inhalten der homerischen Ilias, und die von ihm „substituierte“(!) philologische Übersetzung nicht eine „das Wörtliche2 liebende“, sondern eine das Wort des Autors in seinem <Sitz im Leben>. Diese Unterscheidung nimmt Sch.s Übertragung nicht ihren Eigenwert.

Kritikpunkte am literarischen Vorgehen bleiben gleichwohl: So wird eine Veranschaulichung homerischer Figuren – irdischer wie überirdischer – insbesondere durch die bis hin zur Albernheit reichende Banalisierung ihrer Sprachform angestrebt. Völlig unterschiedliche Stilhöhen stehen innerhalb ein und derselben Rede ein und derselben Person in unvermitteltem und unausgewogenem Kontrast nebeneinander; ganz besonders störend wirkt dies in der Rede des Altersweisen Nestor an die Kampfhähne zu Beginn (Il. I 254 ff.). So sprechen keine Heroen des Epos, so spricht der Hanswurst in der Komödie: es ist keinerlei Gespür für eine der jeweiligen literarischen Gattung angemessene Stilebene erkennbar.

Eine Auflistung von schriftsprachlich gezielt und gesucht, bemüht Unpassendem – im Ganzen oder in der Kombination seiner Versatzstücke –  enthielte etwa die Verse Il. I 31, 57, 122, 130, 132, 148, 173, 210, 229, 256, 261, 273, 285, 291f., 300f., 304, 332, 342, 347, 349, 360, 378, 387f., 410f., 521 f., 527, 540, 553, 560, 567, 570, 575f., 581f., 589: welcher jugendsprachliche Mainstream mit diesen (mehr oder minder schweren) verbalen Flapsigkeiten und Redewendungen auch immer bedient werden soll – er wird seine Freude haben an beinahe bürokratischen Gespreiztheiten in vv. 68, 215, 320, sich wenig ereifern über stetig fortlaufende sachliche Ungenauigkeiten wie in vv. 36, 73, 225f., 407, 500, 513, 518, 557 oder 5733 und andererseits brillante Formulierungen, die es natürlich auch gibt, wie in vv. 358, 429, 477 und 607, kaum wahrnehmen. Ein ausgesprochenes Lieblingswort des Übersetzers scheint „Hundsfötterei“ (so in vv. 181, 233) zu sein – wer kennt es, und worin liegt sein Beitrag zum tieferen Verständnis des Gesagten ?  Hierzu fügt sich durchgängig weiter Umgangssprachliches der Art von runter (81), rum (109, 133, 288), drauf (333), was (363, 541, 556)4.

Von diesen einfach zu zahlreichen Mißtönen werden auch die durchaus gelungenen Partien in Frage gestellt: es will im Ganzen nicht recht ‚passen‘ … Und man macht das Geschehen im Epos und die darin handelnden Charaktere nicht dadurch anschaulich(er) oder lebensnäh(er), daß man sie ihrer Eigenart im und für das Epos quā Sprachform entkleidet, welche ihrerseits ja durchaus ihren Beitrag zum platonischen Gebot leistet, „das, was [der Dichter] denkt, in seiner ganzen Breite und Tiefe verstehen zu können“, und ihn derjenige bleiben läßt, der er ist – ein dichtend-gestaltender Rhapsode,  (vielleicht) das Großgriechenland des (frühen) 8. vorchristlichen Jahrhunderts ‚befahrend‘, ein Kollege seines Demodokos und Phemios, von Vergils Iopas, ein Vorfahr Volker von Alzeys und der mittelalterlichen Minstrels ?

Michael P. Schmude, Boppard

 

1Eine ausführliche Inhaltsangabe auch der Ilias selbst (S. 623-31), die Einleitung (S. V-XL) zu Autor und Vortrag, Zeitgeschichte und Gesellschaft, Dramaturgie und Komposition; zu Wörtlichkeit und Interpretation, Sprache und Rhythmik der vorliegenden Fassung (um nur einige Gesichtspunkte zu nennen), sowie ein Anhang (S. 527-621) mit knappem Kommentar und dramatis personae bilden einen Rahmen, in welchen auch Sch.s Monographie: Homers Heimat – der Kampf um Troia und seine realen Hintergründe (München, C. Hanser 2008) sowie die seit dem 22.12.07 in den Feuilletons namentlich der FAZ und der Süddeutschen Ztg. ausgetragenen Debatten um die dort vorgetragenen Thesen einzubeziehen sind. Eine fächerübergreifende (Kulturgeographie und -geschichte, Sprachwissenschaft und Dichtungstheorie) Zwischenbilanz zieht der Tagungsband eines interdisziplinären Symposions an der Universität Innsbruck von 2008: „Lag Troia in Kilikien ? – Der aktuelle Streit um Homers Ilias“, hg. v. Chr. Ulf / R. Rollinger (Darmstadt, WBG 2011).

2So eindimensional ist die griechische Wortfamilie <Lógos> eben gerade nicht.

3Sind Chryseis und Briseis nun schön-wangig oder haben sie runde Backen – so vv. 143/185, und auch 429 deutet in Sch.s [!] Übertragung darauf hin – , während jene in v. 310 gerötete Wangen hat, diese in v. 346 gleichschön ist: man mag sich dabei Unterschiedliches vorstellen, aber das hängt wohl auch mit Sch.s ganz eigenem Verständnis von festen Epitheta zusammen [S. XXXVII f.], so zu Achills schnellem Schritt vv. 58 gegenüber 84 und 488, zu Heras Kuhaugen in vv. 551 gegenüber 568 und ihren weißen Ellen vv. 569/572 gegenüber 595.

4Mühsam ist auch die Druckgestalt: durchgängige Kleinschreibung, auch der Eigennamen und nach Satzende (mit Punkt), mag Geschmackssache sein. Daß auf Interpunktion vielfach verzichtet, stattdessen aber (die zum Deutschen häufig unterschiedliche) Originalbetonung griechischer Eigennamen (aber auch das nicht konsequent) gegeben wird, verbirgt seinen tieferen Sinn. Die Zeilen-/Verszählung verteilt sich ‚großräumig‘.

Abiturrede-2010

Abirede-20-03-10

Rhapsodia abiturientum – Gegangen, um zu bleiben …

 

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, eigentlich ist das ja ein Wortungetüm: von einer dritten Person Singular Passiv ab-itur „es wird weggegangen“ / „man geht weg“ wiederum ein Partizip zu bilden – das habt nicht einmal Ihr in all den Klassen- und Kursarbeiten hingelegt, und das dazu noch in der genderkorrekten Form, wie sie vom eigentlich zugehörigen abeuntes gar nicht, bestenfalls noch als Partizip Futur abituri abituraeque abgeleitet werden kann. Also abitur, im Sinne von: „von Euch wird abgegangen“ / „Ihr geht jetzt mal“, und sieht man sich von einer Jahrgangsstufe vor die Herausforderung der lehrerseitigen oder –lastigen Abiturrede gestellt, dann überlegt man sich spätestens bei deren Abfassung, was denn nun im Schuljahresgeläuft so prägende und charakteristische Merkmale derer gewesen sein könnten, mit denen man es seinerzeit zu tun hatte und über die bzw. vor denen man jetzt sprechen soll.

Und wenngleich ich über die Schuljahre hinweg doch mit recht Vielen Eurer Stufe im Unterricht wie außerhalb in dieser oder jener Weise zusammengewerkelt habe, so liegt es in der Natur der Sache, daß es eben nicht Alle waren – aber ich denke, daß meine Schilderungen und Eindrücke durchaus nicht fernab oder bar jeglicher Verallgemeinerungstauglichkeit sind.

Eure verbreitete filigrane Virtuosität im Umgang mit Kasusfunktionen, Satzbauteilen und Verbformen geriet mir schon seit frühen Jahren zum Stairway nicht eben to heaven, aber es reichte doch bis zur Klassenzimmerdecke, die Gewißheit eingeschlossen, daß ich nach Langem Marsch ebenda von ebendort auch wieder herunterkommen würde, um unverdrossen auf ein Neues … aber lassen wir das, tempi passati.

Mundus Novus eröffnete uns neue Sichten auf die ‚Dinge des Lebens‘, welche der antike Roman noch märchenhaft vage hatte ahnen lassen, Cäsar vermittelte eine Idee ihrer Durchsetzbarkeit, die Metamorphosen Ovids die Einsicht in ihre Wandelhaftigkeit; die Epen Homers gaben einen tiefen Einblick in die Fährnisse der condicio humana, der Aufstieg aus Platons Höhle hinauf zur Sonne, zur Freiheit wies auf den Unterschied zwischen Schein und Wesentlichem, Hellas und Rom boten sich in ihrer künstlerisch-architektonischen Wirkmacht – kurz: Freude an Sprache, Literatur und Geschichte, an Dichtung, Philosophie und Kunst jenseits eines bezahlbaren Nutzeffektes zu vermitteln, ist zu allen Zeiten eine Sisyphusarbeit spießiger Schulmeister gewesen – das beklagen bereits Erasmus von Rotterdam (1511) sowie Philipp Melanchthon in einer Wittenberger Universitätsrede „De miseriis paedagogorum“(1533)1, und ich hoffe sehr, daß ich darin bei Euch, sicher in unterschiedlichem Maße, aber doch nicht völlig erfolglos geblieben bin. In einem Kultfilm der 90er Jahre hat der Protagonist, Lehrer für englische Literatur an einer angelsächsischen Privatschule und in seinem didaktischen Reformeifer ebenso intolerant, ideologisch einseitig und begrenzt wie diejenigen, die er abschaffen zu sollen glaubte – nicht den Lateinpauker: der war einer der wenigen ihm freundschaftlich gesonnenen – einen allerdings sehr bedenkenswerten Satz gegenüber einem nutzenorientierten Technokraten zur Wirkung des Theaterspiels geäußert: Architektur, Jura und Medizin seien ja zweifellos ganz wichtig – aber welche Dinge bringen eigentlich Freude in unser Leben ? …

Da ich nun freilich – wie schon gesagt – auch nicht alle von Euch im eigenen Unterricht haben durfte, konnte, sollte, mußte, möchte ich hier nicht im Übermaß die Vergangenheit aufarbeiten, und als Künder von Wahrheiten ohne unmittelbaren Anwendungsnutzen werde ich mich ohnehin hüten, Euch Vorgaben für ein gelingendes Leben (so aus unserem Schulprogramm) zu erteilen – dafür seien aus ganz unterschiedlichen Zeiten an dieser Stelle maßgeblichere Zeugen benannt:

In einer berühmten Rede aus dem Umfeld des Florentiner Renaissance-Humanismus „De hominis dignitate – Über die Würde des Menschen“ (ursprünglich) von 1486 hat für den Philosophen Pico della Mirandola (einem kleinen Ort bei Modena in der heutigen Emilia-Romagna) der optimus opifex, der beste Bildner, den Menschen in den Mittelpunkt der Welt gestellt aufgrund seines freien Willens (arbitrium), sich den Platz, die Form, die Fertigkeiten zu geben, welche auch immer er sich wünscht, während die übrigen Lebewesen in gesetzte, vom Schöpfer vorgegebene Grenzen eingebettet seien2: „Keinen bestimmten Platz habe ich Dir zugewiesen, auch keine bestimmte äußere Erscheinung und auch nicht irgendeine besondere Gabe habe ich Dir verliehen, Adam3, damit Du den Platz, das Aussehen und alle die Gaben, die Du Dir selber wünschst, nach Deinem eigenen Willen und Entschluß erhalten und besitzen kannst. Die fest umrissene Natur der übrigen Geschöpfe entfaltet sich nur innerhalb der von mir vorgeschriebenen Gesetze. Du wirst von allen Einschränkungen frei nach Deinem eigenen freien Willen, dem ich Dich überlassen habe (pro tuo arbitrio, in cuius manu te posui), Dir selbst Deine Natur bestimmen. In die Mitte der Welt habe ich Dich gestellt, damit Du von da aus bequemer Alles ringsum betrachten kannst, was es auf der Welt gibt. Weder als einen Himmlischen noch als einen Irdischen habe ich Dich geschaffen und weder sterblich noch unsterblich Dich gemacht, damit Du wie ein Former und Bildner Deiner selbst nach eigenem Belieben und aus eigener Macht zu der Gestalt Dich ausbilden kannst, die Du bevorzugst. Du kannst nach unten hin ins Tierische entarten, Du kannst aus eigenem Willen wiedergeboren werden nach oben in das Göttliche4“.

Aber auch von der atheistischen Gegenseite her erhält der Mensch wie bei Pico, nur sehr viel später (um 1946), ein Höchstmaß an Würde in subjekthafter Eigenverantwortlichkeit durch den Existentialismus eines Jean-Paul Sartre, mit dem Selbstentwurf seiner individuellen, kommenden <Essenz>: „Der Mensch ist nichts Anderes als wozu er sich macht. Ein Wesen, das existiert, bevor es durch irgendeinen Begriff definiert werden kann […], anfangs überhaupt nichts. Er wird erst in der weiteren Folge sein, und er wird so sein, wie er sich […] will und wie er sich nach der Existenz konzipiert“. Die existentialistische Grammatik ist durchaus nicht welfaristisch geprägt, er ist vielmehr zur Freiheit in Verantwortung verurteilt: „Verurteilt, weil er sich nicht selbst erschaffen hat, anderweit aber dennoch frei, da er, einmal in die Welt geworfen, für Alles verantwortlich ist, was er tut.“ Er ist verlassen, findet „keine Entschuldigungen […], kann nie durch Bezugnahme auf eine gegebene und feststehende menschliche Natur Erklärungen geben; anders gesagt, es gibt keine Vorausbestimmung mehr, der Mensch ist frei, der Mensch ist Freiheit […], ohne irgendeine Stütze und ohne irgendeine Hilfe in jedem Augenblick verurteilt, den Menschen zu erfinden: <Der Mensch ist die Zukunft des Menschen> (Ponge).“5

Schon in Eurem bisherigen, gleichermaßen geregelten wie geschützten Raum Schule und Elternhaus werdet Ihr gespürt haben, daß „Freiheit“ sich ebenso gut anhört wie schwierig zu handhaben ist, und das jetzt für Euch kommende ‚freie Leben‘ wird dies als größte Herausforderung für Jede/n von uns und Euch jeden Tag auf ein Neues erweisen. Oder ist Freiheit nur ein anderes Wort für – „Nichts geblieben, was man verlieren könnte“ (Janis Joplin) ? „Wer im Leben gut auf Erden, wird nach dem Tod ein Engel werden“ – doch: „sie müssen sich an Sterne krallen, damit sie nicht vom Himmel fallen“ (Rammstein) … nun:  wie werden und müssen das hic et nunc nicht abschließend klären – können dafür aber dereinst vielleicht an der Stelle noch mal einsetzen, um uns über eine gründlichere Erörterung dieses komplexen Gedankenganges in das Thema noch mal einzufinden. Für heute wollen wir es uns etwas einfacher machen und beherzigen, was ein – allerdings nur einschlägig – bekannter ‚Kreativer‘ unserer Tage gemäß indirekter Überlieferung (SWR3) zu bedenken gegeben hat: „Baby, ik sak‘ nur eins – morge gibts ein ande Tak – the sun wird shin, geh‘ rraus und mak was aus dein Lebben“.

In diesem Sinne Euch Allen alles erdenklich Gute und stets eine glückliche Hand auf Eurem neuen Weg in freier Wildbahn … – abeatis.

 

Koblenz, 20. März 2010                                                    Michael P. Schmude

1Erasmus: Laus stultitiae 49/51; Melanchthon: De miseriis 1-3; 13.

2De hominis dignitate 4.

3Man denkt sogleich an die bekannte Geschichte von der Zuteilung der Eigenschaften und Fähigkeiten an Tiere und Menschen durch Epimetheus, den Nachher-Denker, und ihre Korrektur am Mängelwesen Mensch durch den Vorher-Denker Prometheus, wie sie der Sophist Protagoras und Platon im 4. Jh. v. Chr. erzählen.

4Der platonische Aufstieg im Kreislauf der Wiedergeburten ist hier unüberhörbar.

5Ist der Existentialismus ein Humanismus ?, in: J.-P.S.: Drei Essays (Zürich 1979), S. 9-12, 16 f.

Abiturrede-2011

Abirede-26-03-11

Liebe Abiturientia, liebe Eltern, Angehörige und Verbundene,

liebe Kolleginnen und Kollegen

 

„Unsere Jugend liebt den Luxus, sie hat schlechte Manieren, mißachtet Autorität und hat keinen Respekt vor dem Alter. Die heutigen Kinder sind Tyrannen, sie stehen nicht auf, wenn ein älterer Mensch das Zimmer betritt, sie widersprechen ihren Eltern, schwätzen beim Essen und tyrannisieren ihre Lehrer …“ – nein, kein Klageruf eines geplagten Studienrats im frühen 21. Jahrhundert, sondern – nach Ausweis seiner Stimme Platon [sinngemäß in Politeia, Buch VIII, 563 a4-b2 – soviel Fußnote muß sein in diesen Zeiten …]* – der eines gewissen Sokrates von Athen, und dieser wurde bekanntlich bereits im Jahre 399 vor Christus angeklagt, zum Tode verurteilt und hingerichtet – nicht von seinen Schülern, allerdings von deren Eltern …

Kaum ein anderes Miteinander oder Zusammenspiel, pädagogisch korrekt „Interaktion“, scheint sorgsamer umhegt von guten Ratschlägen und noch besserem Wissen als dasjenige von Schülern und Lehrern, was und wie der Eine zu handeln, was und wie die Anderen zu erleben haben – aber das sei der geballten Fachkompetenz der Talkshows, Expertenrunden und der theoretischen Journale anheimgestellt. Das Spannungs- und Wechselverhältnis zwischen Beiden hat nachfolgender Altmeister der Beredsamkeit zum Gegenstand einer launigen rhetorischen Fingerübung gemacht: als der Reformator Melanchthon, als Philipp Schwarzert seines Zeichens eigentlich ordentlicher Griechisch-Professor in Heidelberg, um das Jahr 1530 vor Scholaren der Universität Wittenberg De miseriis paedagogorum deklamierte, bemühte er (cap. 1) zu seiner heiter-ironischen, gewiß nicht ganz ernst gemeinten Darstellung von Leben, Arbeit und Erfolg des Standes der Schulmeister eine Fabel des lydisch-griechischen Sklaven Aesop, in welcher (196) der Esel vor Zeus tritt, um diesem sein wie seiner Genossinnen und Genossen hartes Los zu schildern, wie er unter der täglichen Arbeit in der Tretmühle zuammenzubrechen und aufgezehrt zu werden droht – aber welcher Esel habe in welcher Tretmühle jemals solche Mühsal zu ertragen gehabt wie der durchschnittliche paedagogus am Mühlstein der Lehre und Unterweisung.

Was hat das nun mit Eurer Schulzeit zu tun ? – Zunächst einmal … natürlich eher weniger bis rein gar Nichts.

Und da fährt unser praeceptor Germaniae doch tatsächlich und wörtlich fort (cap. 2): “Wenn Jemand gezwungen wird, ein Kamel das Tanzen zu lehren oder einen Esel, auf der Flöte zu spielen, wird man den nicht schon in besonderer Weise ‘arm dran‘ nennen, der sich vergeblich damit größte Mühe gibt ? Und doch ist dies erträglicher, als unsere Jungen zu lehren: denn wie Du keinen Fortschritt erzielst im Unterrichten eines Kameles oder Esels, so vergrößern Dir jene doch wenigstens nicht noch die Plage durch Ungezogenheit. Aber diese schönen Jungen da …“ – von Mädchen war noch keine Rede, und ich breche hier auch mal ab.

In der Unterwelt muß der große Lügner Sisyphus zur Strafe einen Felsen den Abhang hoch wälzen, der ihm dann kurz vor dem Gipfel wieder entgegenkommt und umso schneller zurück ins Feld hinunterrollt (cap. 3) – ein Sinnbild vergeblicher Liebesmüh vieler Sterblicher, und für unseren Lehrmeister eben auch des paedagogus und seines ganz besonderen Felsen: nur unter Zwang nehme der Schüler ein Buch zur Hand, und allein bei seinem Anblick wie beim Vortrag des Lehrers übermanne den Sorglosen der Schlaf der Gerechten, so daß eine ganz neue Kompetenz vonnöten ist – discipuli expergefaciendi – die des Aufweckens des Schülers. Die Abwesenheit jeglicher Gedächtnisleistung komme geradezu der Goldenen Regel bei Gastmahl und Gelage gleich, nach welcher am meisten verhaßt der sich erinnernde Mit-Zecher sei … Auch andeutungsweise Ähnlichkeiten mit real existierenden Elèvinnen und Elèven können hier nur der bare Zufall sein.

Mit der Räumung des Augias-Stalles, welche einem Herkules schon solche Last bereitet habe, vergleicht der Humanist und Professor für Poetik Gregor Bersmann (1537-1611) eine Generation später dann De calamitate et miseria docentium in ludis litterariis die Beschwerlichkeiten der Schullehrer, die rohen Sitten der lieben Jugend mit wacher und stetiger Sorge zu bereinigen: gut wohl die Kunst – doch im Magen der Hunger, selten der Dank – gewiß nur die Plage … Aber nicht, daß wir damit etwa Eurer Schulzeit bereits wirklich nähergekommen wären (Irrealis !):

Für Einige von Euch ist diese verbunden gewesen mit dem gleichfalls mühevollen Aufstieg in Platons Höhle zu den wahren Dingen der Erkenntnis, mit facta notabiliora wie Herodots Novelle vom Meisterdieb oder den Geschichten um Solon und Kroisos, aber auch um die Brüder Kleobis und Biton, welche wir dann auch noch vor Ort in Delphi bestaunen konnten – auf einer Griechenlandfahrt, die Anstrengendes geboten hat wie Akropolis und Nationalmuseum in Athen, Idyllisches wie die Insel Aigina und Sportliches in Olympia. Die Schrecken des modernen Athener Innenstadt-Chaos ließen Euch des Abends in einem Hotelzimmer für Alle zusammenrücken – und durch die geschlossene Zimmertür den Rauchmelder auf dem Flur in Gang qualmen. Was allerdings nicht verhindert hat, daß ich dieses Mal die 1000 Stufen der Feste Palamidi in Nauplia wieder in Begleitung besteigen konnte – wir haben das fotographisch dokumentiert und durften den traumhaften Ausblick von der Burgzinne gemeinsam genießen: es gab auch schon Griechenlandfahrten, da bin ich alleine da hoch, und unsere letzte Tour nach Rom, auf welcher wir die Urbs aeterna nach allen Regeln der Kunst epochen- und flächendeckend durchmessen haben, stand ja noch aus …

Ob man mit Platons Ideenlehre die jüngere Koblenzer Verkehrsführung oder den Bürokratismus der Bachelor- und Masterstudiengänge leichter bewältigt, das sei jetzt mal dahingestellt; das Bewußtsein um unsere europäische kulturelle Identität, die Antwort darauf, „wohin der Stier Europa trug“, ist keine Frage technokratischer Alltagsbewältigung. Aber wenn Ihr nunmehr den behüteten Bezirk ‚Schule‘ mit dem Schutzraum ‚Elternhaus‘ im Hintergrund verlaßt und in die freie Wildbahn ‚Leben‘ hinaustretet, werden Euch die homerischen Charakterbilder dort wieder begegnen, und Ihr werdet gut daran tun, wenn Ihr auf Euren beruflichen und auf Euren privaten, auf Euren ganz persönlichen Wegen die Agamemnons und die Thersites‘, die Hektors und Odysseus, die Achills und Paris wiedererkennt und angemessen einzuordnen wißt – und seien es auch nur ihre Parodien aus dem großen Krieg der Frösche gegen die Mäuse, im Ernst:

Ab sofort sagt Euch – vielleicht – keiner mehr: „mach‘ dies, mach‘ das, laß‘ es sein“, Ihr müßt von nun an alleine laufen. Euch eine Reihe von Wegen aufzuzeigen, diesen Mühlstein haben im Laufe der Jahre Viele und gerne gedreht, und am Ende habt Ihr gezeigt, daß Euch davor auch gar nicht bange zu sein braucht. Ihr habt jetzt alle Freiheit, aber Ihr wißt, daß es nichts Schwierigeres gibt als ebendiese. Neben dem kunstfertigen Daedalus, der seine Fähigkeiten zur Befreiung zu nutzen verstand, steht sein Sohn Ikarus, welcher den richtigen Pfad verpaßt hat. Gebraucht sie also angemessen.

Wie bleibt Ihr in Erinnerung, abgesehen von einem geschlossenen Studio und davon – die Erfahrung lehrt es – daß Ihr in aller Regel, Einige jedenfalls, die „üblichen Verdächtigen“, und das ist auch schön so, gelegentlich wiederkommen werdet ? Nach Allem was man hört, liest, und ich kann das aus eigener Beobachtung und Diskussionen nur bestätigen, seid Ihr eine durch und durch ‚pragmatische‘ Generation, von weltanschaulichem Ballast auf Euren Wegen erfreulich unbeschwert. Der Blick geht dabei stets nach vorn, und die magischen Epochenschwellen 20 – 50 – 80 habt Ihr alle noch vor Euch, also: macht ‘was ‘draus, abituri abituraeque und – abeatis.

 

*Der genaue Wortlaut dieses dem Sokrates zahllose Male von Schülerzeitung bis Bischofsrede in den Mund gelegten Bonmots ist bei Platon selbst freilich nirgendwo belegbar.

 

Koblenz, 26. März 2011                                                   Michael P. Schmude

Zu-A-Schmitt-Aristoteles-Poetik

Zu-A-Schmitt-Aristoteles-Poetik [gekürzte Fassung in: Forum Classicum 53 (2010), 49-51]

Aristoteles – Poetik: übersetzt und erläutert von Arbogast Schmitt. Akademie-Verlag Berlin 2008 [Aristoteles – Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 5], 789 S., EUR 98,00 (ISBN 978-3-05-004430-9).

Mit dieser von Neuem ins Deutsche übersetzten1 und umfassend kommentierten Ausgabe der Poetik-Vorlesung des Aristoteles stellt der Marburger (inzwischen) Emeritus Arbogast Schmitt (Sch.) auf eindrucksvolle Weise im Rahmen der von E. Grumach begründeten und H. Flashar herausgegeben Reihe dessen umfangreicherer Redekunst2 die zweite, wohl ältere (um 335 v. Chr.) und von Beginn an nicht selten mißverstandene literaturtheoretische Lehrschrift3 über Tragödie und Epos sowie (verloren) Jambos und Komödie zur Seite. Sch.s Opus grande baut sich in folgenden Teilen auf:

Textgeschichte (Th. Busch, XVII-XXVI) und Übersetzung (3-41). Einleitende Kapitel: Schwierigkeiten im Zugang (seit der Renaissance) und geistesgeschichtliche Bedingungen der ‚Wiederentdeckung‘ der Poetik (45-54), Abwendung von Aristoteles in den hellenistischen Schulen und ihre Folgen für das Literaturverständnis (55-71), der systematische Ort der Dichtung unter den psychischen Aktivitäten des Menschen bei A. (71-91), Theoria, Praxis, Poesis – die Zuordnung der Dichtung zur Theoria bei A. und in den arabischen Poetik-Kommentaren (92-117), Mimesis einer Handlung: konkrete Verwirklichung des allgemeinen Könnens eines Charakters – ‚Mythos‘: Mimesis einer vollständig ausgeführten Handlung als Inbegriff des Dichterischen (117-125) und (zusammenfassend) Ableitung der Dichtung aus einer anthropologischen Reflexion auf die  Vermögen des Menschen (126-128). Argumentationsgang und Inhalt der Poetik (128-135), ein Literaturverzeichnis mit modernen Editionen, Übersetzungen, Kommentaren und Bibliographien, mit antiken, mittelalterlichen wie Renaissancetexten, mit neuzeitlicher  Primär- und Sekundärliteratur (139-191) leiten über zum eigentlichen, knapp 550 Seiten starken Kommentar (195-742). Ein Anhang bietet Sach-, Stellen- und Personenindices (745-768), führt das Inhaltsverzeichnis nach Sachpunkten weiter aus (770 ff.)4 und gibt abschließend eine thematische, nach den Kapiteln der Poetik und darin jeweils <A. Gliederung und Zielsetzung> und <B. Einzelerklärung und Forschungsprobleme> in die Paragraphen gegliederte Übersicht des Kommentars (773-789).

Die Übersetzung ist erklärtermaßen texttreu, andererseits bereits eine hilfreich erklärende: durchgängig finden sich – auch für den vom griechischen Original herkommenden Leser – Verständnis vorbereitende und fördernde Zusätze (stets durch eckige Klammern markiert – Sch. p. XV), und gewisse Freiheiten mit der Vorlage erlauben Verständnisvarianten im Detail5.

Der Kommentar erschließt diese Vorlesung, indem zunächst der ‚rote Faden‘ durch das jeweilige Kapitel hin verfolgt wird (A.), die Einzelaussagen sodann (B.) im Rahmen der aristotelischen wie nacharistotelischen Literaturtheorie und Rezeptionsgeschichte gedeutet werden; stellvertretend hier zu Kernaussagen:

Am Beginn der frühen Neuzeit setzt mit der Wiederentdeckung des Aristoteles in der Renaissance eine poetologische Tradition ein, welche die Nachahmung (Mímēsis) der Natur als etwas per se Schönem und Wohlgeordnetem zur Regel erhebt – so formuliert etwa in Joh. Chr. Gottscheds Versuch einer kritischen Dichtkunst 1730 (I c. 3, § 20) – und damit der freien Entfaltung des künstlerischen Genies ein Ordnungswerk von außerhalb seiner selbst überstreift: Die Zurückweisung dieses „Nachahmungsgeistes“ ist ein schon in Kants Kritik der Urteilskraft 1790 (§ 47) erhobenes ‚genieästhetisches‘ Postulat der Moderne, indes: auf Aristoteles läßt sich für Sch. eine solche am Muster der Natur orientierte Regelpoetik, rein normativ oder rein deskriptiv, überhaupt nicht zurückführen (202 f., 552); den seit der Mitte des 18. Jh. gepflegten romantischen, aber schon bei Horaz (Ars 99-113) und Ps.-Longin (15, 1 f.) angelegten Gegensatz von ‚rational-methodisch‘ (und damit kunstfremd)  und ‚genial‘ (entfesselt und wahrhaft künstlerisch) vermeide Aristoteles, indem er Literatur zwar von beweisführender Wissenschaft abgrenze (1447 b 16-20), nicht aber dem rein Gefühlsmäßig-Intuitiven zuweise.  Dieser führt den Nachahmungsbegriff bereits im Eingangskapitel der Poetik ein, um vielmehr – wie Platon (Sch. 209) – anhand des Mediums, in welchem eine solche (lautliche) Nachahmung erfolgt (in der Literatur: Rhythmus, Sprachgestalt und Harmonie), anhand des behandelten Stoffes (für Poesie stets ‚Mythen‘) sowie anhand des Darstellungsmodus als konstitutiver Bedingungen einer jeden Nachahmung zwischen den literarischen Künsten, insbes. den dichterischen Gattungen zu unterscheiden (1447 a 13-23 als Programm der ersten 3 cap.). So bildet der Historiograph (mehr oder minder) aktuelle Einzelgeschehnisse in ihrem pragmatischen Ablauf nacherzählend ab (c. 9), während der Dichter als Nachahmung allgemeingesetzliche Handlungen darstellt, welche einer inneren Stimmigkeit von Wesenstypen oder Situationen verpflichtet sind und nicht an objektiver Realität hängen (Sch. p. X; 204 ff., 225, 241, 267) – und Poesie darum philosophischer nachahmt als Geschichtsschreibung (poet. 1451 b 4-6).

Dies unterscheidet sie auch vom Verdikt der Nachahmung von Nachgeahmtem (Idee – Realität in der Welt – Darstellung), mit welchem Platon die Künstler allgemein, die Dichter insbesondere im zehnten Buch der Politeia aus seinem idealen Gemeinwesen bannt (hier 598 d 7 – 601 b 8)6. Für Aristoteles werden die transzendenten Ideen immanent vollzogen, indem der je einzelne, materiale Typos die (von Ideenseite) in ihn gelegten formalen Möglichkeiten und Folgerichtigkeiten ausführt; die Idee wird zur Entelechie, sie trägt gewissermaßen ihre Verwirklichung in sich – diese ahmt der Künstler nach und nimmt so die Wahrheitsstufe des platonischen Handwerkers ein7. Dabei ist es nicht allein die dichterische Form, etwa die Versgestalt, welche Dichtung ausmacht, sondern ihr poetischer Gegenstand – weswegen Empedokles trotz Hexameter eben Naturphilosoph bleibt (poet. 1447 b 17-20; Sch. 196, 208, 218 f.) und Herodot auch durch Umsetzung in Versmaß kein Dichter wird (poet. 1451 b 1-3; Sch. 373, 387 f.).

Von grundsätzlicher Bedeutung für einen weiteren Schlüsselbegriff, die Kátharsis – ihr sind zwei umfangreiche Exkurse gewidmet (333-348 und 476-510) – ist in der Tragödiendefinition c. 6 (poet. 1449 b 27 f.) Sch.s Wiedergabe (mit Lessing, Hamburgische Dramaturgie 78 und gegen u.a. Gigon, Fuhrmann und Flashar8) der kátharsis tōn toioútōn pathemátōn =  eléou kai phóbou nicht im (medizinischen) Sinne eines Genitivus separativus als Reinigung von derartigen Gefühlen = Mitleid und Furcht, sondern im Sinne eines ebendiese Gefühle ihrerseits zum Rationalen (Lessing: zum Tugendhaften) hin reinigenden Genitivus obiectivus (Sch. 9; 333; 478)9. Die Erregung dieser Gemütszustände – éleos und phóbos – im Zuschauer auf die beste Weise ist Ziel der tragischen Handlung (c. 13) und diese wiederum Nachahmung, Mímēsis einer vollständigen, sich gemäß innerer Wahrscheinlichkeit, Zielsetzung oder Notwendigkeit eines bestimmten Charakters folgerichtig ergebenden und damit erst ihre Einheit wahrenden Handlung (c. 9, 1451 a 37 f. und b 8 f., 1452 a 2 f.)10 – in diesem Sinne versteht Aristoteles Mímēsis und nicht als Nachahmung der Natur mit zudem moralisch-lehrhaftem Impetus (Sch. 199, 410 f., 440 f.). Bloße Kopie einer geschehenen Wirklichkeit macht für Aristoteles – wie für Platon – noch keine Literatur aus; diese muß Wirklichkeit aus ihren Ermöglichungsgründen darstellen (Sch. 208, 741 f.), läßt das eigentümliche Potential eines Individuums sich in seinem Handeln verwirklichen11, und ihre vollendete Form findet dichterische Mímēsis in einem gut komponierten Mythos (Sch. 202, 222).

Der tragische Held, dessen Verfehlung (Hamartía) – mittelbar – aus Charakterschwäche, in Unfreiwilligkeit und Unwissenheit (durch Versagen der diánoia), nicht aber aus Boshaftigkeit ihn die Situation falsch einschätzen und scheitern läßt, ihn somit aus mangelnder Einsicht ins Unglück stürzt, steht in der Mitte (→ Mesótēslehre) zwischen dem epieikés (dem völlig Integren) und dem mochthērós (dem ganz und gar Verkommenen), und nur sein Fall ist geeignet, éleos und phóbos beim Zuschauer zu wecken (c. 13, 1453 a 7-12)12. Tragische Hamartía, im Zuge derer ein an sich guter Charakter veranlaßt wird, sein Handlungsziel zu verfehlen oder sich eines zu setzen, durch welches er das für ihn wirklich Gute übergeht (487), verdeutlicht Sch. mittels ihrer Abgrenzung gegenüber ebendiesen beiden Typen (444-456). Im angemessenen Mitempfinden – nicht der nur rührseligen Gefühligkeit noch in nicht berechtigtem Mitgefühl (493) – eines tragischen Handlungsverlaufs und unverdienten Leides eines Unsergleichen erfüllt die Tragödie ihre Aufgabe auch am Zuschauer, ohne daß dieser sich allerdings – entgegen neueren Auffassungen – mit Jenem identifizieren solle13, als Katharsis, als Reinigung der ihr zukommenden, von ihr selbst erzeugten und abschließend geformten Gefühle des ‚Mitleids und der Furcht‘ (478 f.) angesichts eines Scheiterns, das als mögliche Gefahr auch für den Zuschauer selbst aufgefaßt werden kann: dem entspricht bei Aristoteles ein reflektierter Begriff von Katharsis als „Kultur des Gefühls“, welcher von nachromantischem Verständnis im Sinne irrationaler, psychosomatischer Erregungen der Elementaraffekte ‚Jammer und Schaudern‘ frei ist (Sch. 486 ff.).

Am Beispiel eben der Gefühls- oder Affektenlehre (páthē) zur Darstellung nachempfind- und verstehbarer Handlungsmotivationen von – dem Zuschauer gleichen – Menschen im Drama zeigt Sch. auch (333), wie Schlüsselbegriffe dieser kleinen Schrift durchweg den Kontext des Gesamtwerkes (hier: der Ethiken, De anima) voraussetzen, ohne Einzelnes eigens nochmals zu erarbeiten. So ist etwa die Einheit von emotionaler und bewußter Intelligenz in der Rhetorik (1378 a 19 – 1388 b 30)14 ausgearbeitet durch eine Auffassung von Kognition, welche im rational urteilenden wie gefühlsmäßig wertenden Menschen nur je unterschiedlich wirksam wird: Aristoteles und die Trennung von Denken, Fühlen, Wollen seit dem 18. Jahrhundert (334 f.). Mitleid und Furcht werden – neben der Rhetorik – in der Nikomachischen Ethik15 besprochen, die dazu das platonische (Polit. 533 d 2) ‚Auge der Seele‘ verständiger Menschen mit aufnimmt (Sch. 483-486). Von daher muß die Poetik auch nicht zu allen Fragestellungen hin abgeschlossen sein, da sie ihrerseits eingebettet ist und als Teil des Lehrgebäudes andere bedingen oder ihrerseits zur Bedingung haben kann.

Tṓi páthei máthos – … und (allerdings nur !) Letzteres gilt auch für die Arbeit mit und an Sch.s monumentalem Kommentarwerk: Summe und Ertrag dieser überreichen Darstellung und Analyse der aristotelischen Dichtungstheorie, mit welcher diese Disziplin seinerzeit überhaupt erst einsetzte, konnten hier naturgemäß nur exemplarisch angedeutet werden; sie bleiben für alle weitere Auseinandersetzung mit literarischer Rhetorik und Poetik maßgebend.

Michael P. Schmude, Boppard

 

Anmerkungen:

1)      Bequem zugänglich (nach O. Gigon, RUB 1961) bisher die Übersetzungen M. Fuhrmanns bei Heimeran (eingeleitet, übers. und erläutert, München 1976 [Dialog mit der Antike, Bd. 7]; zur Datierung nach 335 v. Chr. und vor der Rhetorik ebda. 12-16) und Reclam (zweisprachig, mit Anmerkungen und Nachwort zu Form, Erhaltungszustand und Aufbau der Poetik, Stuttgart 1982/21994 [UB]); maßgeblicher Referenztext hier wie für Sch. die griechische Ausgabe von Rudolf Kassel (Oxford: Clarendon Press 1965, ND), Abweichungen davon bei Sch. S. XXVII f.

2)      Aristoteles – Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 4: Rhetorik, übers. und erl. von Christof Rapp, Berlin 2002, 2 Bde.; insbes. zum Wechselbezug zu seiner Philosophie Bd. 1, 378-384.

3)      Grundlegend nach wie vor M. Fuhrmann: Einführung in die antike Dichtungstheorie, Darmstadt (WBG) 1973; erster Teil : Aristoteles – Horaz – <Longin> 21992.

4)      Als Beispiel hier stellvertretend zur „Abwendung von Aristoteles …“ (55 ff.): 1. Die unterschiedliche Bedeutung der Vorstellungskraft für den dichterischen Schaffensprozess im Hellenismus und bei Aristoteles; 2. Der mediale Charakter der Vorstellung bei Aristoteles, die Formung der Vorstellung durch Wahrnehmung oder Denken; 3. Die Zentralstellung der Phantasia in den hellenistischen Philosophenschulen, die Folgen für das Kunst- und Literaturverständnis (mit weiteren Unterpunkten zu ‚Denken‘, Anschauung und Gefühl sowie Kunsterfahrung).

5)      Entsprechend wird z.B. in 1451 a 37 f. die eigentlich zu tá dynatá gehörende (so auch Fuhrmann) Adverbiale katá tó eikós ē tó anankaíon über kaí hinweg auf  génoito bezogen und dynatá als erläuternder Zusatz abgeteilt, Sch. 13 u. 372.

6)      Zu Platons Dichtungskritik und aristotelischer Poetik Fuhrmann 1973/21992, 72-90; 1976, 16-21; 1994, 155-161.

7)      Aristot. De ideis, fr. 3–5 Ross (1955, ND); Metaph. 980 b 28 – 983 a 32; 990 b 5 – 991 b 9; 997 a 5 – 1000 a 4.

8)      Gigon 1961, 30; Fuhrmann 1973/21992, 27, 65; 1976, 50; 1994, 19 spricht stets (wie auch Lesky: GGrL3 1971, 641) von „Jammer und Schaudern“: zur Herleitung dieses Begriffspaares aus Aristot. Rhet. 1385 b 13 ff./1382 a 21 ff., aber auch aus Platon und der Sophistik (Gorgias) und gegen Lessings dem Normenverständnis einer bürgerlichen Aufklärungszeit geschuldete Übersetzung Fuhrmann 1973/21992, 90-98, 291-301; 1976, 21-25; 1994, 162-166, ebda auch zur Katharsis.

9)      Beides verwirft Lesky 640 f. mit Aristot. Polit. 1341 a 21-24/1342 a 11-18.

10)  Fuhrmann 1973/21992, 26 f.; 1976, 29 f.; 1994, 170-73.

11)  Zu diesem von Platon ‚ererbten‘ Formprinzip Sch. 392-397.

12)  Vgl. Fuhrmann 1976, 67; 1994, 118. Zur ‚tragischen Schuld‘ auch E. Lefèvre, in: WüJbb N.F. 13 (1987), 37-58 und A. Schmitt in RhM N.F. 131 (1988), 8-30 zum sophokleischen Oidipus Tyrannos und V. Cessi: Erkennen und Handeln in der Theorie des Tragischen bei A. (Frankfurt 1987) zur Antigone sowie zur Medea des Euripides. Zum aristotelischen Gedanken der Hinfälligkeit gerade der besten Eigenschaften im Menschen M. C. Nussbaum: The fragility of goodness (Cambridge/London 1986).

13)  Ein Verzicht auf diese Distanz, wenn auch für Dichter wie Zuschauer wie Tragödienchor bis zu einem gewissen Grade unumgänglich (Poet. 1455 a 30-34), im Sinne eines Sich-Hineinversetzens, des „Mitschwingens einer zweiten Saite“(Lessing) würde eine Reinigung der eigenen Gefühle Mitleid und Furcht beim Zuschauer – die der dramatis personae sind andere – bestenfalls verzerren (Sch. 479 f.).

14)  Rapp 2002, Bd. 2, 584-678; A. Schmitt: Die Moderne und Platon (Stuttgart/Weimar 22008), 270-380.

15)  Eleos u.a. EN 1105 b 23, 1109 b 32, 1111 a 1; phóbos u.a. EN 1104 b 1-3, 1105 b 22, 1115 a 6 – 1117 b 22.

 

 

Rhetorik-Antikes-System

Rhetorik-Antikes-System-und-moderne Praxis

Rhetorik – Antikes System und moderne Praxis: Aristoteles – Quintilian und das Format Jugend debattiert

von Michael P. Schmude, Boppard

Vortrag auf dem Abschlußsymposion des <Historischen Wörterbuchs der Rhetorik> (Universität Tübingen): „Die Zukunft der Rhetorik als Kulturidee, Wissenschaft und Technik“ vom 17. bis 19. Mai 2012 in Blaubeuren → für den Druck überarbeitete und um den wissenschaftlichen Apparat erweiterte Fassung in: G. Ueding/G. Kalivoda (Hgg.): Wege moderner Rhetorikforschung – Klassische Fundamente und interdisziplinäre Entwicklung (Berlin/Boston [de Gruyter] 2014) [Rhetorik-Forschungen 21], S. 373-388. –

 

A.Rem tene – verba sequentur: behalte die Sache im Auge – die (passenden) Worte werden folgen“ – das bekannte Diktum des Älteren Cato aus dem 2. Jh. v. Chr., als Ratschlag durchaus bestechend, befolgt eher weniger: noch in der zweiten Hälfte des 20. Jh. und nach Ausweis seines damaligen Regierungssprechers liebte es ein ehemaliger Bundeskanzler, welcher noch in unseren Tagen als elder statesman Deutschland und die Welt milde und gelassen belehrt, vor seiner Zuhörerschaft jetzt einmal von dem abzugehen, was ihm seine Referenten vorbereitet hätten – um sodann genau und eben dieses vorzutragen. Und auch in der Bundestagsdebatte sind bekanntlich keine schriftlich vorgefaßten und abgelesenen Reden vorgesehen, sondern es gilt das sich aus der Sache ergebende „gesprochene Wort“. Doch sich auf den oben zitierten kernigen und sperrigen Kauz aus der Hochzeit der Römischen Res publica zu verlassen, war seinen Nachfolgern dann doch wohl zu riskant, und seinen Vorgängern ebenso: mit dem Beginn politischer wie ziviler Prozesse, in welchen zu jedem Streitpunkt beide Seiten zu Wort kommen und ihr Anliegen vortragen sollten, bildete sich auch ein Lehrgebäude aus, in welcher Weise dieses am zielführendsten zu erfolgen habe. Der Schein der Spontaneität wurde dann durch den auswendig memorierten Vortrag gewahrt, denn wie bei einem gelungenen Violinenspiel niemals das dahinterstehende Üben erkennbar werden darf, so sollte eine wirkungsvolle Rede in Gerichtssaal oder Volksversammlung des demokratischen Athen zur Blütezeit der aktiven Beredsamkeit einen Anschein nicht vermitteln – daß sie etwa (und dazu noch unter Mühen) im Vorhinein er- und ausgearbeitet worden sei. Für meinen Teil indes muß ich freimütig gestehen, daß Letzteres für diesen Vortrag zutrifft – tempora mutantur, nos et mutamur in illis (was dem alten Cato im Übrigen nie über die Lippen gekommen wäre) – für ein rhetorisches Format, im geregelten Austausch der Argumente Stellung zu beziehen und Standpunkte auszutragen, gilt hingegen nicht nur das genannte Unmittelbarkeitsgebot des bewährten ‚Systems‘ in zeitloser Aktualität.

Das ‚Antike System der Rhetorik’ – ein weiteres Lehrgebäude neben Philosophenschulen, Dichtungstheorie und grammatischen Programmen … ? „System“ ist griechisch und bedeutet „Zusammenstellung“, und so haben nach aristotelischem Vorlauf der praktizierende Rhetor Cicero, welcher auch Lehrschriften zur Kunst der Rede hinterlassen hat, und der Walter Jens der Antike, also der Inhaber des ersten, von Kaiser Vespasian eingerichteten Lehrstuhls für Rhetorik in Rom, Professor Quintilian Regeln, Anweisungen und Empfehlungen zu Form wie Inhalt einer gelingenden Rede für den tüchtigen Redner zusammengefasst, geordnet und strukturiert; herausgekommen ist dabei in Gestalt der Institutio oratoria, was man bis heute das antike ‚System der Rhetorik’ nennt – so weit, so bekannt.

Sokrates, der Unruhegeist des athenischen Marktplatzes, der Agora im 5. Jh. v. Chr., fordert im Dialog Phaidros 269 d 4 ff. seines Schülers Platon für den vollendeten Redner zunächst einmal Veranlagung, Kenntnis und Übung – aber das sei nur die technische Seite traditioneller Rhetorik, und diese richte sich ohnehin inhaltlich am bloß Wahr-scheinlichen und nur von Volkes Meinung für jeweils wahr Gehaltenen aus (259 e 4 – 260 a 4). Zur Redekunst indes führe nicht der Weg, die Méthodos eines ausgewiesenen Stilisten wie Lysias oder eines Redelehrers wie Thrasymachos, vielmehr verleiht Sokrates den ersten Rang dem Perikles (e 1/2). Wie der Arzt sich über die unterschiedliche Natur des Leibes im Klaren sein müsse, so habe der Redner als Seelenführer (Psychagōgós) die Vielgestaltigkeit der menschlichen Seele darzulegen oder zu beachten, woraus sich kunstgemäß dann wiederum verschiedene Arten von Reden ergäben, von welchen die eine Seele überredet werde (peíthetai), die andere un-überredet bleibe (a-peitheí 271 b 1-5). Die scharfsichtige Beobachtung der Natur des Menschen und Wahrnehmung der (je individuellen) Ursachen, die diese beeinflussen können (oder nicht), im Verein mit den rhetorischen Mitteln zu ihrer Verstärkung und den Regeln ihres Einsatzes machen erst die wahre Redekunst aus (271 c 10 – 272 b 2). Zudem habe diese sich stets am Wahren (262 c 1-3) und Gerechten – und damit sind wir bei Platons Ideen – zu orientieren, im Unterschied zum Postulat des (bloß) Wahrscheinlichen und Glaubhaften seiner sophistischen Gegenspieler (272 d 2 ff.), aber auch zur unphilosophischen Redenschreiberei (Logographía) etwa eines Lysias (257 b 2 – d 8) – ohne Kenntnis des wahrhaft (óntōs) Guten und Gerechten (260 a 1-4). Und mit eben diesem ganzheitlichen Wissen (270 c 1/2) um die Natur des Verstandes (noús) wie Unverstandes (ánoia), erworben im Umgang mit dem Philosophen Anaxagoras, habe Perikles neben seiner guten Veranlagung (s.o.) schließlich seine Beredsamkeit zur Redekunst veredelt (270 a 3-8).

Wir sprechen mithin von nichts weniger als dem hochtalentierten, umfassend ausgebildeten und grundlegenden philosophischen Idealen verpflichteten Rhetor und Staatsmann, wie er sich nachfolgend am Beispiel eines Demetrius von Phaleron, des makedonischen Statthalters von Athen (in den Jahren 317-07 v. Chr.) zeigt und noch einmal im römischen Pendant zum Phaidros, Ciceros De oratore (namentlich in der Figur des Redners Crassus) herausgearbeitet werden wird. In Platons Staatsentwurf, der Politeia (396 e 4 ff.) kennzeichnet den guten Redner ein klares Überwiegen der mit angemessener Distanz erzählenden (dihḗgēsis) gegenüber den darstellerisch nachahmenden Teilen (mímēsis) eines Vortrags; das mimetische Moment berge die Gefahr mangelnder Würde von darzustellender Person oder Sache (396 c 5 – e 2) sowie die Erfordernis, den Darstellungsmodus in Harmonie und Rhythmus zu verändern und wechselnden Stimmungen (metabolaí) anzupassen (397 b 6 – c 6). Eigentlich aufnahmefähig in die zu gründende Stadt ist als Rhḗtōr allein der Nachahmer des beständig Gehörigen und sittlich Guten (mimētḗs toú epieikoús 397 d 4 f.): den künstlerisch filigranen und wandelfähigen Performer von Allem und Jedem würde man bewundern und auszeichnen – und in eine andere Pólis verabschieden; zur Erziehung des eigenen Führungsnachwuchses tauge allein der weniger unterhaltsame, in seiner herben Würde aber nützlichere Erzähler und Stilist des Geziemenden und Schicklichen (hós tḗn toú epieikoús léxin mimoíto 398 a 1 – b 4).

Nicht so sehr an Sokrates-Platon anknüpfend als ihrem ‚Sitz im Leben‘ entsprechend unterscheidet sozusagen eine Wissenschaftlergeneration später Aristoteles in seiner Rhetorik (1358 a 36 ff.) drei Arten der Rede mit unterschiedlicher Thematik und unterschiedlichen Anliegen: das genus iudiciale, die Rede vor Gericht, heute anwaltlichen Plädoyers vergleichbar und Vergangenes behandelnd (Zielsetzung: Gerechtigkeit), das genus deliberativum, die politische, auf den Nutzen in der Zukunft ausgerichtete Rede auf dem Areopag oder im Bundestag, und das genus demonstrativum, die in der Gegenwart verankerte Festrede beispielsweise des Perikles zu Ehren der im ersten Jahr des Peloponnesischen Krieges Gefallenen oder zum fünfzigjährigen Bestehen des Grundgesetzes. Ein modernes Debattenformat, wie es im Einzelnen weiter unten noch vorgestellt werden soll, entspricht hier am ehesten der Art und Erfordernis des genus deliberativum, der geschlossenen Erörterung des Für und Wider anstehender Maßnahmen.

Um – auch für die Situation der Debatte im Ganzen – jeweils zu einer überzeugenden Rede zu kommen, durchläuft der künftig erfolgreiche Rhetor nach Cicero (De or. I 142) und Quintilian (Inst. orat. III 3, 1) mehrere Arbeitsgänge: er findet Argumente und Aspekte für seinen Standpunkt, für sein Thema in der inventio; doch nützt die beste Sammlung von Stoff und Gedanken wenig ohne Ordnung, Kohärenz und den berühmten Roten Faden – darum das zweite Gebot der dispositio, der Anordnung der Argumente. Aber nicht nur der Inhalt, auch die Form soll bestechen – der gewonnene Rote Faden bedarf eines Gewandes, der elocutio, der sprachlich-stilistischen Ausarbeitung. Ein Ablesen dieses nun kunstvollen Gebildes vom Blatt war in der Antike ebenso verpönt wie im Deutschen Bundestag untersagt und praktiziert: die Rede ist jetzt auswendig zu lernen (memoria) und hernach frei vorzutragen (die actio, durchaus auch ein schauspielerischer Akt, wurde den ursprünglich drei aristotelischen Schritten von Theophrast hinzugesellt) – es galt und gilt (wie oben schon gesagt) „das gesprochene Wort“.

 Aristoteles teilt die Bücher seiner Rhetorik nach diesen gewichtigsten Schritten ein: I und II behandeln die Heúresis, das Finden der Überzeugungsmittel, III die Léxis, die sprachliche Form sowie die Táxis, die Anordnung von Redestoff und –teilen.

 Nun treffen in der Gerichts- wie in der politischen Rede gleichermaßen unterschiedliche Standpunkte aufeinander, für und wider welche es gute Begründungen anzuführen gilt. Wie gelangt man also zu treffenden Argumenten und bringt diese auch noch in eine wirksame Abfolge und sprachliche Gestalt ? Cicero widmet dem ersten Arbeitsgang „Gute Argumente finden“ seine Frühschrift De inventione, doch schon Aristoteles (rhet. 1355 b 35 ff.) hatte die grundsätzliche Einteilung der Beweismittel in solche, die innerhalb der rhetorischen Theorie (písteis éntechnoi) und solche, die außerhalb (písteis átechnoi) liegen, geliefert, welche Cicero (De or. II 116 f.) und Quintilian (Inst. orat. V 1, 1) sodann als kanonisch galt: von den Argumenten liegen die Einen auf der Hand, sind durch Situation oder Kontext unmittelbar vorgegeben (probationes in-artificiales) und brauchen von der Kunst der Rhetorik nicht geschaffen, nur gefunden zu werden, wie Zeugenaussagen oder Präzedenzfälle. Andere müssen durch Reflexion oder Schlußverfahren (Cic. inv. I 57: ratiocinatio, namentlich den Syllogismus oder dessen verkürzte Form, das Enthymem – Arist. rhet. 1356 a 35 ff.) erst noch erarbeitet oder aus dem Gegenstand des Streites herausgeholt werden (probationes artificiales), wie Indizien (signa), Folgerungen oder Beispiele (exempla); besonders dankbar auch das dialektische Verfahren der Vorwegnahme eines gegnerischen Argumentes (anticipatio oder praeoccupatio – eigentlich eine Sinnfigur), im Idealfalle des Königsargumentes der Gegenseite, um es dann um so wirkungsvoller zu zerpflücken (rhet. 1418 b 8 f.) …

Auf der sprachlichen Seite unterscheiden die Aristoteles-Schüler Theophrast (Perí léxeōs a‘) und Demetrios von Phaleron (Perí hermēneías = Über den Stil 2, 36 f.) sowie in ihrer Nachfolge Cicero (Orator 20 ff. und 75 ff.) entsprechend den obengenannten drei aristotelischen genera dicendi bestimmte, der Eigenart der Rede wie den Aufgaben der Redeteile dienende Stilebenen: so den schlichten Stil (genus subtile) für die Beweisführung vor Gericht (Vorbild Lysias), den mittleren oder gemischten Stil (genus medium) für die Erörterung im genus deliberativum (Vorbilder Isokrates und Demosthenes), den erhabenen Stil (genus grande) für die gedanklichen Höhepunkte einer Festrede (Vorbild Gorgias). Meßlatten sind hier die Sprachrichtigkeit (Hellēnismós oder Latinitas) und die Deutlichkeit (perspicuitas), die Angemessenheit (aptum) und der Redeschmuck (ornatus) mit seinen Stilmitteln sowie nicht zuletzt die Kürze (brevitas). Eine bis heute gültige Zusammenstellung der Tropen und Figuren gibt Quintilian in Buch VIII (6, 1 ff.) bzw. IX (1, 1 ff.) seiner Institutio oratoria.

Für das anschließende Auswendiglernen bedient man sich einer Reihe von Mnemotechniken, wie sie schon Theodektes (aus dem kleinasiatischen Lykien), ein Schüler des Isokrates und enger ‚Kollege‘ des Aristoteles, bereitgestellt hatte. Der Vortrag wird durch passenden Einsatz von Mimik und Gestik zu einem beeindruckenden – wobei wir in Ciceros De oratore gelesen haben, daß der vollkommene Redner, <qui, quaecumque res inciderit, quae sit dictione explicanda, prudenter et composite et ornate et memoriter dicet cum quadam actionis etiam dignitate> (I 64) „der, welcher Gegenstand auch immer anliegt, den es sprachlich zu entfalten gilt, mit Sachkenntnis, Struktur, Wirkung und genauer Erinnerung sprechen wird mit entsprechender auch Würde des Vortrags“, sich als actor veritatis vom bloßen Schauspieler, dem histrio abhebe, welcher die Wirklichkeit nur nachahme (De or. III 214). Ein für jede Phase der sprachlichen Ausarbeitung wie Darbietung entscheidendes Kriterium ist das aptum/prépon, welches die Rede selbst wie ihren Vortrag nach der jeweiligen Causa, dem Auditorium, der Person und den Zeitumständen des Redenden ausrichtet: <omnique in re posse quod deceat facere artis et naturae est, scire quid quandoque deceat prudentiae> (De or. III 210-12) „In jeder Redesituation das tun zu können, was sich ziemt, ist Sache von Können und Veranlagung, zu wissen, was sich ziemt und wann, von Klugheit“.

Am Ende dieses Schaffensprozesses steht eine stofflich wohlrecherchierte, gedanklich klar strukturierte, sprachlich-stilistisch elaborierte, sicher memorierte und darstellerisch eindrucksvoll performierte Ansprache an eine aufmerksame und gelehrige, zumindest aber wohlwollende Zuhörerschaft – Ciceros und Quintilians (Inst. orat. IV 1, 5) Trias iudicem attentum, docilem, benivolum parare; Cicero hatte im Orator (69) die Aufgabe des Redners auf dem Forum wie vor Gericht mit probare (untersuchen und glaubhaft machen), delectare (unterhalten und fesseln) sowie flectere (umstimmen und anrühren) beschrieben. Gegliedert ist diese Ansprache nach Aristoteles (rhet. 1414 a 31 ff.) wie Cicero (De or. II 80) und Quintilian (Inst. orat. III 9, 1) in ein exordium/prooemium, welches Ort, Zeit und handelnde Personen einführt, eine narratio, welche die Vorgeschichte oder begleitenden Umstände des Falles erzählt, sich sodann zur Vorstellung des eigenen Standpunktes, der propositio, hin verdichtet und präzisiert und diesen in einer argumentatio dafür (probatio) und/oder einer Widerlegung des Gegenstandpunktes (refutatio) vertritt, und abschließend in eine conclusio/peroratio, welche noch einmal die treffendsten Argumente im Gedächtnis der Zuhörerschaft verankert.

Die Wirkung einer Rede wird dabei auf den Ebenen der Argumentation (Logos: begriffliche Präzision und rhetorische Struktur), der Gewinnung von Sympathie (Ethos: Glaubwürdigkeit des Redners) und der Erregung von Affekten (Pathos: Befinden [vorrangig] beim Hörer) erzielt (Arist. rhet. 1356 a 1-20), ihre Überzeugungskraft hängt wesentlich davon ab, ob die Überzeugungsmittel zum passenden Zeitpunkt (Kairós: Plat. Phaidr. 272 a 4-7) und mit dem rechten Maß (Aptum: Cic. Or. 70 f.) eingesetzt werden.

 

B. Geändert hat sich an diesem System im Grundsatz seit der Antike, genauer genommen seit dem Ende des 4. Jh. v. Chr. wenig, Weiterentwicklungen und Differenzierungen betreffen Einzelphänomene (etwa in der Figurenlehre) – auch moderne Handbücher der Beredsamkeit verorten sich insbesondere in ihrem systematischen Teil bei Aristoteles, Cicero und Quintilian. Kennzeichnend ist natürlich die äußerlich rein monologische Anlage (die ein inneres Zwiegespräch durchaus enthalten kann), und die Frage liegt nahe „wie sieht es denn aus mit der Rhetorik im Dialog, in der Diskussion, in der Disputation, in der Debatte ?“ Und so hat ein bereits mehrfach genanntes, modernes Format des agonalen Wortwechsels diese beiden Spielarten verbalen Austauschs miteinander kombiniert und in ein Regelwerk eingebettet, in welchem das antike System freilich überall erkennbar bleibt – die Debatte nach Jugend debattiert, einem Gemeinschaftsprojekt auf Initiative der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung (Frankfurt a. M.) und zusammen mit den Kultusministerien der Bundesländer.

Die Brockhaus-Enzyklopädie (Bd. 5 [191988] 178) leitet die Debatte vom französischen débattre <durchsprechen>, <den Gegner mit Worten schlagen> (auch wir sprechen von einem <durchschlagenden Argument>) aus dem vulgärlateinischen battuere (eigentlich einem keltischen Fremdwort) für <schlagen, stoßen, klopfen> her und beschreibt sie als „offene Diskussion, Erörterung, Aussprache (Gr. Duden-Lexikon: … in geregelter Rede und Gegenrede), bes. bei unterschiedlichen oder gegensätzlichen Auffassungen. Besonders durchgebildet ist das Verfahren der Debatte bei internationalen Konferenzen, politischen Versammlungen und parlamentarischen Verhandlungen“.

Das Historische Wörterbuch der Rhetorik (Bd. 2 [1994] Sp. 413) definiert die Debatte als „eine Form sprachlicher Auseinandersetzung, die auf einem antagonistischen Grundschema beruht. Dabei steht die Auseinandersetzung mit dem Ziel gedanklicher Virtuosität und sprachlicher Vollendung in Konkurrenz mit der Auseinandersetzung um den sachlichen Gehalt“. Der Begriff entsteht in den französischen Kathedralenschulen des 11. und 12. Jh., also im Umfeld theologisch-philosophischer Schuldisputationen; kennzeichnend und Voraussetzung sind für diese Grundform eines gesamteuropäischen Streitgespräches vier Merkmale:

  1. die gesellschaftliche Anerkennung von Redegewandtheit,
  2. die Ebenbürtigkeit bzw. Gleichwertigkeit der Gegner zu Beginn einer Diskussion,
  3. das Interesse an der Gegensätzlichkeit der Standpunkte (auch als Ausdruck für die Interessen sozialer Gruppen oder Typen),
  4. die Erkenntnis und Anerkennung von sprachlichen Ambivalenzen und Meinungsunterschieden je nach Standpunkt und Kontext.

Gleichwohl sieht man an diesen Bestimmungen bereits den Bedarf an klarer Abgrenzung des Formats <Debatte> von anderen Formen der verbalen Auseinandersetzung:

Unterschieden von der Debatte als Gespräch zur Klärung von praktischen Entscheidungsfragen („Soll der Staat zur Verbesserung des Bildungswesens neue Kredite aufnehmen ?“) sind die Diskussion zur Klärung von offen formulierten Sachfragen (W-Fragen „Wer, wo, wie, warum … ?“) sowie die Disputation zur Klärung von Voraussetzungen (theoretische Alternativfragen – „Ist der Mensch eher durch Naturveranlagung oder durch Umweltfaktoren disponiert ?“), wenngleich die rednerische Praxis sich die Mischung zunutze macht (zu Diskussion und Disputation in ihrer historischen Entwicklung → die entsprechenden Artikel des HWRh). Auch das antike ‚System der Rhetorik‘ hatte zwischen abstrakt-theoretischen Fragen (quaestiones infinitae) und konkret-praktischen Fragen (quaestiones finitae) unterschieden und aus letzteren die drei Redegattungen (genera causarum) Gerichts-, politische und Gelegenheitsrede abgeleitet, zu denen wiederum sich auch Jugend debattiert in Beziehung setzt. Vor diesem Hintergrund bleiben zum Einen Anliegen und Eigenart des Jugend debattiert – Formates zu klären, zum Anderen, worin im Besonderen eine Jugend debattiert – Debatte besteht.

Zu Ersterem: es ist praktizierte Rhetorik, Debattierkunst im Für und Wider mit Anderen, in Regeln gefaßt und in unterschiedliche Formen des Vortrags strukturiert. Grundanliegen ist es, der Rhetorik wieder ihren Platz im unterrichtlichen Angebot einzuräumen, welchen sie zu Zeiten der Septem Artes Liberales ganz selbstverständlich einnahm: als Fertigkeit, sich zu einem Thema nach allen Seiten mit Kenntnis in der Sache, angemessenem sprachlichen Ausdruck sowie Gesprächsfähigkeit zum Gegenüber und daraus nicht zuletzt resultierender Überzeugungskraft zu äußern. Im Vergleich mit den antiken genera causarum ordnet Jugend debattiert sich deutlich dem genus deliberativum, der Für und Wider erörternden politischen Rede zu.

Zum Zweiten: eine Debatte nach dem Format Jugend debattiert setzt sich aus drei Teilen zusammen: in einer Eröffnungsrunde gibt jede/r der Debattierenden ein zweiminütiges Eingangsstatement zum gestellten Thema ab. Dabei sprechen sich zwei für die in Frage stehende Maßnahme aus, zwei dagegen; es beginnt, wer eine Änderung des bestehenden Zustandes wünscht.

 Exemplarisch für diese Viererstruktur der Gesamtdebatte sind die Tetralogiai des attischen Redners und Sophisten Antiphon von Rhamnus (5. Jh. v. Chr.).

 Die Freie Aussprache gibt ein offenes Wechselgespräch der stets vier Debattierenden (12 min.), die ihre in der Eröffnungsrunde eingenommenen Standpunkte nunmehr entfalten können: jetzt wird die monologische durch eine dialogische Struktur abgelöst; das Aufeinandertreffen (battuerebattre s.o.) der Argumente erfolgt ohne Moderator, also ungebunden, aber nicht ungeregelt. Das Wort hat, wer es sich nimmt, und so finden sich hier am ehesten Elemente auch der Diskussion. Eine gewisse Strukturierung neben dem Austausch der eigentlichen Argumente kann dabei durch résumierende Einlagen („darüber sind wir uns jetzt einig, strittig bleibt aber weiterhin …“) einzelner Debattenteilnehmer erreicht werden. Eine Schlußrunde ermöglicht jeder/m Debattierenden ein jetzt einminütiges Schlußstatement, wobei nur Argumente vorgebracht werden dürfen, welche in Eröffnungsrunde und Freier Aussprache bereits zum Einsatz gekommen waren – denn auf ein völlig neues Argument könnte man nicht mehr entgegnen. Im gemeinsamen Rückgriff auf die soeben geführte Auseinandersetzung verdichten sich diese Schlußreden ganz im Sinne einer conclusio oder peroratio des antiken ‚Systems‘. Die Reihenfolge ist die Gleiche wie in der Eröffnungsrunde. Als Antworten auf die Frage, um welche sich die – im Ganzen also 24minütige – Debatte dreht, sind nur Ja‘ oder ‚Nein‘, Pro oder Contra möglich.

 Es gibt auch kleinere Versionen wie die Mikrodebatte und die Trainingsdebatte, welche aber alle Elemente des originalen Debattenformats, wenngleich in zeitlich verkürzter und argumentativ vereinfachter Form, enthalten: eine politische Streitfrage als Thema, zwei Redner/innen pro und zwei contra, festgelegte Reihenfolge und Aufbau der Eröffnungs- wie der Schlußreden; die Freie Aussprache bleibt eine freie, und es erfolgt gleichermaßen keine Gesprächsmoderation. In der Mikrodebatte umfaßt die einzelne Eröffnungsrede drei (für die einfache) bzw. sechs Sätze (für die entfaltete Struktur), die Freie Aussprache drei bzw. fünf Minuten, die Schlußrede jeweils wiederum drei bzw. fünf Sätze, woraus sich eine Gesamtdauer von sechs bzw. zehn Minuten ergibt. In der Trainingsdebatte hat die einzelne Eröffnungsrede anderthalb Minuten, die Freie Aussprache acht Minuten, die Schlußrede jeweils eine Minute, woraus sich eine Gesamtdauer von achtzehn Minuten ergibt.

 Kriterien der Debatte sind Sachkenntnis – weiß der/die Redner/in, worum es geht ? – Ausdrucksvermögen – wie hat er, was er meint, gesagt ? – Gesprächsfähigkeit – hat er zugehört und die anderen berücksichtigt, ist er auf ihre Beiträge eingegangen ? – Überzeugungskraft – hat er, was er sagt, auch gut begründet ?

Und ganz analog zu den Vorgaben des antiken ‚Systems der Rhetorik‘ finden sich auch hier die Überzeugungsebenen der Debatte Logos (Verstandesebene bei Sprecher wie Hörer) – Ethos (Betroffenheit auf Sprecherebene) – Pathos (Betroffenheit auf Hörerebene) sowie Kairós (rechter Augenblick oder passende Situation).

Debattiert werden aktuelle Fragen von allgemeinerem gesellschaftlichen Interesse. Das Thema ist so zu formulieren, daß nach einer konkreten Maßnahme gefragt wird und nur mit ‚Ja‘ oder ‚Nein‘ geantwortet werden kann. Die Strukturen von Eröffnungsrede und Schlußrede sind festgelegt (s.u.). Die eingangs eingenommene Position zur Frage darf durchaus – begründet – geändert werden. Die Beratungen der Jury, welche die Debatte als Ganzes wie die einzelnen Debattierenden nach den genannten vier Kriterien bewertet und qualifiziert rückmeldet, sind generell öffentlich.

 Zu unterscheiden ist das Jugend debattiert-Format vor dem Hintergrund von ‚Fraktionszwang‘ und rechtfertigendem gegenüber deliberativem Anliegen vom britischen ‚Westminster debating‘ in Reinform wie in Spielart der seit dem 19. Jh. klassischen ‚Publikumsdebatte‘ und von der in Deutschland derzeit vorherrschenden ‚Offenen Parlamentarischen Debatte‘.

 Die Kriterien der Debatte ergeben sich aus den Arbeitsgängen des Redners des antiken ‚Systems‘ nach Cicero und Quintilian (s.o.):

  • inventio:         Argumente    finden             → Sachkenntnis
  • dispositio:                          ordnen → Sachkenntnis; Überzeugungskraft
  • elocutio:                   sprachlich ausformulieren → Ausdrucksvermögen
  • memoria:  auswendig lernen → die Debattierenden gehen ohne                                                                          Aufzeichnungen in die Debatte
  • actio                          vortragen      → Überzeugungskraft.

 

Für das Bestreiten einer gelingenden Jugend debattiert – Debatte bilden diese Arbeitsgänge – Stichwort: „Gute Argumente finden“ – den mühevollen Kern jeder Vorbereitung, welche unsichtbar die Leichtigkeit der kommenden Rede erst möglich macht (Quint. Inst. orat. X 1, 1 und 5, 1 – dazu treten progymnasmata, diese firma quaedam facilitas / héxis – „sichere Geläufigkeit“ zu erreichen und zu pflegen). In dieser Vorbereitungsphase recherchieren die Debattierenden zur Sache, machen sich kundig und leiten daraus Argumente ab (← inventio); hier kommen unterschiedliche Hilfsmittel zum Einsatz wie der Fragenfächer (zur Klärung von Hintergrund-, sogenannten W-Fragen, die als Unterfragen dem Ziel dienen, das strittige Thema durch Eingrenzung genau abzuklären), der Begriffsbaum zu Abgrenzung, Zuordnung und Hierarchisierung von Begriffsfeldern (Arbor Porphyrii) oder das Suchfenster zu Unterscheidung wie Gewichtung von Pro- und Contra-Argumenten (← dispositio).

Der (Begriffs-)Baum ist ursprünglich eine Metapher des neuplatonischen Philosophen und kaiserlichen Beamten Boëthius (um 480 bis 526) für eine hierarchische Methode der ontologischen Klassifizierung in fünf Grundbegriffen – Gattung (genus), Art (species), artbildender Unterschied (differentia specifica), wesentliches Merkmal (proprium), zufälliges Merkmal (accidens) – die der Schüler Plotins und spätantike Aristoteles-Kommentator Porphyrios von Tyros (232 bis 301) in seiner Einführung (Eisagōgḗ) zu dessen Katēgoríai – und damit dem (nach)aristotelischen Organon, seiner Logik – entwickelt hatte (In Porphyrium commentationum III – Migne: PL 64, 103). Um 1240 formuliert der Scholastiker und Logiker Petrus Hispanus (Summulae logicales, tract. II 11) diesen als epistemologischen Terminus für die mittelalterliche (R. Llull 1305) und neuzeitliche Enzyklopädik (Bacon 1620, E. Pourchot 1730, Diderot 1751).

 Zumindest die Eingangsreden sind nicht nur in diesem Sinne vorbereitet, sondern auch sprachlich ausformuliert (← elocutio) und müssen in freiem Vortrag (← memoria) verständlich und authentisch die Mit-Debattierenden ‚in Stellung bringen‘ und die Jury überzeugen können (← actio).

Den ‚klassischen‘ Teilen der Rede exordium (Einleitung) – narratio (Erzählung des Herganges) – propositio (Präzisierung des Sachverhalts) – probatio (positivem) – refutatio (negativem Beweis im Rahmen der argumentatio) – conclusio (Schluß) nähert sich die Struktur der Eröffnungsrede einer Debatte an – der ‚Rhetorische Fünfsatz‘: eine Einleitung enthält die Klärung des Themas und Präzisierung einer Maßnahme oder eine (kritische/unterstützende) Anknüpfung. Daran schließen das erste (zweitstärkste), zweite (schwächste) und dritte (gewichtigste) Argument an, während der Schluß den ‚Zielsatz‘ enthält: „und darum bin ich dafür/dagegen, daß …“. Die festen Bauteile einer Schlußrede sind das Wiederaufgreifen der Ausgangsfrage, die Gegenüberstellung des Hauptargumentes pro und contra, gipfelnd im persönlich überzeugendsten Beweisgrund für oder gegen die debattierte Maßnahme sowie am Ende die unverändert beibehaltene oder begründet modifizierte Einstellung hierzu.

Zur Eröffnung einer Debatte gibt es vier Positionen mit vorgesehenen Rollen:

Pro 1:  bereitet das Thema für die Debatte auf – präzisiert die Fragestellung und schlägt erste Maßnahmen zur Erreichung der gewünschten Veränderung vor, ‚bringt den Ball ins Spiel‘ (← propositio).

Contra 1:  beleuchtet kritisch die vorgeschlagene Maßnahme.

Pro 2:  unterstützt, ergänzt, vertieft, modifiziert die erste Position.

Contra 2:  unterstützt Contra 1, faßt aber bereits ansatzweise zusammen und leitet zur Freien Aussprache über.

Dabei gehören die monologischen Teile zu Beginn und am Ende zum aristotelischen Rede-Génos symbouleutikón, dem genus deliberativum, der geschlossenen Erörterung des Für und Wider. Aber auch die dialogische Mittelpartie wird nicht erfolgreich bestritten werden ohne Beachtung der vom antiken ‚System‘ bereitgestellten Aspekte.

Geeignete Themen für das Jugend debattiert – Format sind beispielsweise:

„Soll der Bundespräsident vom Volk direkt gewählt werden ?“

„Sollen direktdemokratische Elemente wie Volksbegehren oder Volksentscheide eine stärkere Rolle im politischen Entscheidungsprozess spielen ?“

„Sollen öffentliche Plätze (innerstädtische ‚Brennpunkte‘) videoüberwacht werden ?

„Sollen Haschisch und Marihuana dem Alkohol gesetzlich gleichgestellt werden ?“

„Sollen straffällig gewordene ausländische Jugendliche in ihre Heimatländer abgeschoben werden?“

„Soll Sponsoring an deutschen Schulen offiziell erlaubt werden ?“

„Soll der Religionsunterricht generell nur außerhalb der Schule stattfinden ?“

„Sollen auch Lehrende (durch ihre Schüler/innen) benotet werden?

„Sollen auch Nicht-Pädagogen in der Schule unterrichten ?“

„Sollen am Ende der Klassenstufe 10 Abschlußprüfungen eingeführt werden ?“

„Soll ein bundesweites Zentralabitur eingeführt werden ?“

„Sollen bundesweit zentrale Examensprüfungen stattfinden ?“

Rhetorik ist überall – nicht nur in einschlägigen Situationen des Lehralltags wie Referat vor der Klasse oder Seminargruppe, Rede in der Schülermitverwaltung oder AStA-Debatte, Auftritt im schulischen wie studentischen Debattierklub oder Darstellung eigener Forschungsergebnisse: auf jeder Ebene des mutter- wie fremdsprachlichen Unterrichts begegnen Lernende wie Lehrende Redner/innen und ihrer Kunst, vermitteln in Sachtexten Darstellungen öffentlicher Rede einen Eindruck von Erfordernis und Macht des gesprochenen Wortes. Sprachreflexion, Übersetzungsarbeit und fortschreitende Beobachtungen zur Funktion von Stilmerkmalen schulen den bewussten Umgang mit den eigenen Ausdrucksmöglichkeiten. Die Lectio plurima an Schule wie Universität zeigen Form und Struktur literarischer Sprache in Dichtung und Prosa, ergänzt durch Überlegungen zur Wirkung von Körpersprache.

Aber auch das erste Bewerbungsschreiben hat bereits seine rhetorische Dimension, ein Vorstellungsgespräch ist stets auch ein Darstellungsgespräch, in welchem es für den Probanden oder besser: den orator probandus bzw. die oratrix probanda darum gehen muß, iudicem benivolum facere, den/die Personalchef/in für sich einzunehmen. Und Grundlage einer jeden guten Verhandlungsstrategie wird zum Einen die gedanklich-dialektische, zum Anderen die sprachlich-stilistische ‚Aufrüstung‘ sein.

So wird Lernenden von einer gewissen Sprachkompetenz an bereits bewusst, dass Redekunst sich nicht erschöpft an ihren klassischen Orten – vor Gericht, im Parlament oder vor der Festcorona. Die in diesem Sinne eingeführte und erarbeitete Debatte ist überall da anwendbar, wo sich Lehr- und Unterrichtsinhalte zu Entscheidungsfragen verdichten: Debattieren – die Königsdisziplin der Rhetorik.

Und abschließend sei der Hinweis erlaubt, daß sich zwischen der Projektgruppe der an Jugend debattiert Beteiligten bei der Hertie-Stiftung, Einzelnen der in Projekt wie Wettbewerb mitwirkenden Lehrkräfte sowie Herausgeber, Redaktion wie Mitarbeitenden am Historischen Wörterbuch der Rhetorik im Laufe der Jahre durchaus eine Reihe personaler – sagen wir einmal – ‚Überschneidungen’ ergeben und damit zu einer mutmaßlich fruchtbaren Verzahnung zwischen rhetorischer Theorie und angewandter Beredsamkeit beigetragen haben.

Amor und Psyche

Amor-und-Psyche  [aus: Scrinium 57, 1 (2012), S. 22-26]

zu Josefine Müllers: Amor & Psyche – Das Mysterium von Herz und Seele, Frankfurt a.M. (Peter Lang-Verlag) 2011. 152 S., € 29,80 (ISBN 978-3-631-61699-4).

Geistwerdung und Erhebung der Seele zu Gott, Selbstwerdung und Individuation im Zuge der Bewußtseinsentwicklung des Menschen, erzählt in der Form von Märchen und Mysterienerzählung (hierós lógos) und im Sinne des Mythos als wahrer, ursprünglicher Rede in archetypischen, symbolischen Bildern urbildhafter Strukturen in der Tiefe von Herz und Seele, entzogen „dem Zugriff durch das Verstandesbewußtsein“, Amor-Eros und Psyche als kosmische Kräfte „eines sich in jeder Seele vollziehenden Geschehens“ – unter diesen Leitfragen (9-11) unternimmt J. Müllers (M.) eine „spirituell-psychologische bzw. philosophische Deutung“ des <Märchens von Amor und Psyche> aus dem Roman des Apuleius von Madaura (2. Jh.) [Verwiesen sei hier auch auf den einführenden Aufsatz von P. Barié und K. Eyselein „Zur Deutung von Amor und Psyche im Unterricht – Plädoyer für den (tiefen)psychologischen Gesichtspunkt“ in:  MDAV 26/2 (1983), 15-22].

Nach einer kurzen Einführung in Person und Werk des Autors sowie zur Entstehung der Metamorphosen (12-16) untersucht das zweite Kapitel zum Weltbild des Apuleius und seinem Niederschlag im Roman (17-45) insbesondere die Rolle des Eros in der griechischen Kosmogonie, der Dichtung und der platonischen Philosophie (26-35): unmittelbar nach Gaia dem Chaos entsprungen und machtvoll (Hes. Theog. 121 f.) dafür sorgend, daß diese sich mit ihrem Erstgeborenen Uranos zum schöpferischen hierós gámos vereinigt (ib. 126 ff.), bleibt der zweigeschlechtliche Eros auch in der Orphik des 7. Jh. v. Chr. eine kosmogonische Urgewalt. Zugleich berge seine Doppelnatur im Sinne der harmonischen Spannung (palíntonos harmoníē, VS 22 B 51) Heraklits (um 500 v. Chr.) den Gegensatz zwischen Zeugung/Entstehen und Vergehen: die Kehrseite des Liebreizes sind Wahnsinn und Tod (M. 28). Im platonischen Phaidros (245 b 5 – c 1) als gottgesandte Manie und Triebfeder der Seele zur größten Glückseligkeit herausgestellt, werde die Liebe im Lobreigen des Symposion zum Bestreben nach dem Schönen (178 b 2 – d 2), im Trachten nach der ursprünglichen Ganzheit des Menschen (191 d 1-3) zum Erkennen des wesensmäßig Zusammengehörigen (192 e 8 – 193 a 1), im Besitz der Kardinaltugenden (196 b 6 – e 6) zur Beförderung von Dichtkunst und Weisheitsliebe (M. 31). Als Mittler zwischen Göttlichem und Menschlichem, zwischen Unsterblichem und Endlichem (202 e 1-7) führt die so verstandene Doppelnatur des Eros in seinem Streben nach dem Schönen und Guten sowie der Erkenntnis des Gleichen zur Einheit des Ganzen. Zugleich werde das Wesen des Eros als Suche nach dem Schönen mit der Anámnēsis, der Wiedererinnerung an die Schau der Idee des Schönen, verbunden (M. 33 f.), zu welchem Schönen „an und für und in sich selbst ewig überall demselben“ (211 b 1) der Liebende in sieben Stufen steigender Teilhabe (Méthexis) vordringt (210 a 4 – 212 a 7) und auf allen Ebenen die Einheit von innerem Gott und äußerem Schönen, in welchem dieser sich realisiert, erkennt.

In diese sokratische Traditionslinie stelle sich auch Apuleius mit seiner Lehre von den Dämonen (M. 36 f.) als Dolmetscher und Mittler zwischen den himmlischen Göttern – den platonischen Ideen: unkörperlich, zeitlos, unwandelbar – und den Menschen; unsterblich wie die Götter unterliegen sie, Götter der Dichter wie eben auch Amor, allen menschlichen Affekten, und in ihrer Mittelstellung seien sie zur Ideenwelt deren Abbilder. Auf der anderen Seite stehen die Ebenen des Seelenbegriffs (M. 38-45): Homers Psychḗ als „bewegendem Form-und Gestaltungsprinzip“ (Eídolon) gegenüber dem Thymós als (praemortal) individueller, dann (postmortal) kosmischer Lebensenergie entspricht die vorsokratische Unterscheidung zwischen immanenter Lebensseele und transzendenter Geist-(Noús-)Seele. Die platonische Seele, welche sich aus sich selbst heraus bewegt, unentstanden und darum auch unvergänglich ist (Phaidr. 245 c 5 – 246 a 2), findet zu ihrer Bestimmung, der Erkenntnis des Wesens der Dinge, auf dem (nicht-sinnlichen, vgl. Phaid. 99 e 5 f.) Wege der Wiedererinnerung an ihre vorgeburtliche Schau der Ideenwelt (246 a 3 – 249 d 3); dies veranschaulicht schließlich das Gleichnis von der Seele als Rossegespann unter Führung des (selbst-)erkennenden Noús (253 c 7 ff.), welcher beim Anblick des (diesseitigen) Erōtikón allein den Wagen zügeln und zur (jenseitigen) Sphäre der Idee des Schönen hin lenken kann (M. 41 f.).

Auch in der hellenistischen und frühchristlichen Literatur steht der ursprünglich freien und göttlichen, aber ins Irdisch-Materielle gefallenen Einzelseele die kosmogonische Allseele, der göttliche Lógos gegenüber. Im „Urmenschen“ (M. 44), einem „Höheren Selbst“ und „mann-weiblicher Einheit“ aus Licht (Noús) und Leben in ihm (Psychḗ) werde Eros zum göttlichen Boten des Lichts und bereite Psyche auf den Wiederaufstieg und einen erneuten hierós gámos des weiblichen (Liebe) mit dem männlichen (Geist) Prinzip vor. Die „Ebenen göttlicher Bewußtheit“ (die physische, die Empfindungs- und die Mentalsphäre) zu durchdringen = sie sinnend zu erkennen, indem sie bei sich ‚vergessene‘ Inhalte göttlicher Liebe wieder freilege, um auf diesem Wege in die Lichtwelt zu gelangen – dieses Télos der Seele zeige „im dichterischen Symbol“ das Märchen von Amor und Psyche (M. 45).

Das dritte Kapitel bettet Amor und Psyche in den Roman als Ganzen, die Eselsgeschichte des Loukios von Patrai – in der satirischen Kurzfassung des (ungefähren) Zeitgenossen Ps.-Lukian – ein und fragt nach Intentionen des Neupythagoreers und mit ägyptischen Mysterienvorstellungen (Seth – Osiris) vertrauten „philosophus platonicus“ Apuleius für seine (erweiterte) Neubearbeitung des hier problematisierten Verhältnisses von Sein und Schein, von Seele (Mädchen) und Leib (Esel) in Form der Metamorphosen (45-50).

Dementsprechend ist das vierte Kapitel der Psyche-Novelle als solcher (Met. IV 28 – VI 24) gewidmet (60-92): das Geist- und Unsterblichkeitswerden der Seele spiegele sich auf den Realitätsebenen von Märchen wie Mythos und Mysterium, die Große Göttin (Venus) und die überirdische Schönheit in der irdisch gewordenen Seele (Psyche) weisen auf die Spannung der Gottebenbildlichkeit im Geschöpf; Amor, von Venus eigentlich als Cupido zur Züchtigung der hybriden Psyche gesandt, werde zum Opfer seiner, der „Liebe des erkennenden Herzens“ selbst (M. 63 f.). Und die sterbliche Psyche , die ontische Seele als Fühlen, habe im „Streben nach dem Anderen ihrer selbst“ ihren Weg zur Erkenntnis dieses Anderen als transzendierendem Licht und göttlichem Selbst noch vor sich (M. 65 ff.): auf ihre Entrückung in Amors Palast und Schau des Liebesgottes folgen Leiden Psyches (als verzeitlichten Aspektes der Venus) in Trennung und durch die Welt irrender Suche nach der göttlichen, präexistenten Liebe. Drei Proben für Venus (Samenkörner, Vlies der Sonnenschafe, Wasser vom Quell der Styx) münden in den Gang durch die Unterwelt als vierte: wie dabei das Motiv des Totenschlafs das „Vergessen der Unsterblichkeit der inkarnierten Seele“ symbolisiere, so stellt das Mysterium des Wiedererwachens (durch den Pfeil Amors) den Aufstieg der „Sinne der Seele“ aus ihrer sterblichen Befangenheit, die bewußte Geistwerdung der jetzt erkennenden Seele und ihre Erhebung zur himmlischen Hochzeit mit dem jetzt erkannten, wahrhaften Amor auf dem Olymp dar (M. 87 f.). Von der anderen Seite betrachtet versetzt der Gott durch die Kraft seiner Liebe die Seele (Psyche) erst in die Lage, seine Geistwirkung zu erkennen und aus Cupido nunmehr Amor werden zu lassen.

Dieses Zusammenwirken des Herzens als Erkenntnisinstanz der göttlichen Liebe (Amor) mit der sich von Cupido, dem „leidenschaftlichen Herz“ läuternden und zum Höheren Selbst erhebenden Seele (89-92) bildet den Hintergrund für das letzte Kapitel, welches die Initiation (in B. XI) des Romanhelden, des Goldenen Esels Lucius, in die altägyptischen Isis- und Osiris-Mysterien sowie auf die Horus-Ebene als Weg in eine neue (M. 97), letztlich „dreimalselige“ (M. 115) Existenzweise beschreibt. Die Selbstwerdung des Lucius-Apuleius im Roman sieht M. (92, 117-22) schließlich zusammenfassend in weitgehender Analogie zur stufenweisen Entwicklung der Seele (Psyche) im darin eingelegten Märchen. Apuleius als Psychagoge in der Nachfolge des Gottes des Sokrates (seiner eigenen Schrift und Genius) auf der Suche nach seinem wahren und höheren Selbst – mit dem Ziel, „sich dem Ebenbild Gottes anzugleichen“, zum Ausklang (M. 122) – läßt vor möglicher Hybris dann doch fast ein wenig zurückweichen.

In der Reihung und Fülle tief(st)greifender, mitunter vielfältig verknüpfter und sich überschneidender Einzelgedanken und –beobachtungen auf philosophisch-theologischer, poetologischer wie (tiefen)psychologischer Ebene zugleich ist es nicht immer leicht, den ‚Roten Faden‘ im Auge zu behalten; hier hätten mehr zusammenfassende Binnenkapitel klärender wirken können. An mancher Stelle wäre auch ein genauerer Originaltextbeleg für getroffene Aussagen anstelle etwa des allgemeinen Verweises auf Schleiermacher-Platon (bzw. bloße Kapitelzählung) oder Sekundärliteratur wünschenswert gewesen. Überhaupt wird die Primärliteratur in Übersetzung verarbeitet: M. schreibt als Nicht–Klassische Philologin (dafür nicht untypisch auch Aufbau und Gehalt des knappen Literaturverzeichnisses 123-26), ihre Quellen von Hesiod bis in die Spätantike sind Übersetzungen (u.a. Artemis, Kröner) und zweisprachige (Tusculum) Textausgaben – verdienstvoll ohne Zweifel für Studierende, und nützlich in diesem Zusammenhang auch der deutsche Textabdruck (ohne Quellenangabe ?) von Amor und Psyche (127-52). Dessen ungeachtet aber wird der Vielschichtigkeit und dem Facettenreichtum des Untersuchungsgegenstandes eine sehr dichte und tiefgehende, bisweilen erst mit dem zweiten Blick zu durchdringende, in jedem Falle aber lesenswerte Behandlung gewidmet.

                                                                                  Michael P. Schmude, Boppard

 

Der-Blick-von-außen-auf-das-Andere

Der-Blick-von-außen-auf das-Andere

Lektüregänge in der Mittelstufe – der „Blick von außen auf das Andere“: Entdecker und Eroberer über fremde Menschen und Kulturen

von Michael P. Schmude,  Boppard

aus: Mitteilungsblatt des DAV-NRW 58 (2010), Heft 1, S. 9-19 – erweiterte und ausgeführte Fassung → Pegasus XII/1 (2012), S. 33-49 (mit Anhängen)

 

Friedrich Maier beklagte bereits vor Jahren die an den lateinischen Spracherwerb sich anschließende Phase als „Torso […] ohne echtes Profil und auch weithin ohne begründbares Konzept“ [Forum Classicum 45 (2002), 175-185], als „nervigen Übersetzungsdrill“ in Schwundstufenform lückenhafter syntaktischer und lexikalischer Kenntnisse bei den Lernenden, „ohne viel Rücksicht auf den Inhalt des so Übersetzten“, in den Augen der Schülerinnen und Schüler ohne „den geringsten Wert für ihr Leben“. Maier plädiert für eine Reform des Lektüreunterrichtes in der Mittelstufe in Richtung ‚Autorenmodell‘ oder ‚Lesebuchmodell‘, was im gleichen Jahr Niederschlag in Gestalt des Pegasus findet. Freilich spricht er noch Ende 2005 in einem Vergleich der Lage des Lateinunterrichtes hierzulande mit demjenigen in Österreich weiterhin vom „Dilemma der Mittelstufe“ bzw. vom „Mittelstufenproblem“ [Forum Classicum 48 (2005), 252], und vor dem Hintergrund, daß in Deutschland 80 % der Schülerinnen und Schüler ihren Lateinunterricht vor dem Eintritt in die Oberstufe beenden, kommt einer „überzeugenden konzeptionellen Vorgabe für den Lektüreunterricht der Mittelstufe“ (Maier) eine herausragende Bedeutung mit Blick auf Attraktivität und Wählbarkeit des Faches auch für darauffolgende Schuljahre zu.

Klaus Westphalen bezeichnet in seinem Grundsatzartikel „Wohin steuert der Lateinunterricht ?“ in Heft 3 des Forum Classicum 48 (2005), 175-181 mit ganzen 10 (!) Zeilen die Phase der Mittelstufenlektüre (in Übergangs-, Erst- und Autorenlektüre) als „das Experimentierfeld des multivalenten Faches“, auf welchem „sich der Charakter des Lateinunterrichts  am stärksten verändert“ habe, und unterscheidet (179) als Lektüreangebote: 1.) herkömmliche Autorenlektüre typischer Anfangsautoren (wie Caesar, Nepos, Terenz) sowie später anspruchsvollerer Literatur (vor allem Ovid, Sallust); 2.) spezielle Übergangslektüre, d.h. leichte, interessante, manchmal sogar neu verfaßte Texte (etwa die unten noch genannte Transit-Reihe); 3.) erleichterte Autorenlektüre, teilweise in Form sog. easy readers (hierzu gehören auch die u.g. <Modelle zum Altsprachlichen Unterricht> des Kölner Arbeitskreises ‚Lateinische Anfangslektüre‘); 4.) themenbezogene Lesebücher mit starker Betonung des Kulturerbes – vor allem aus der Reihe <Antike und Gegenwart> der von F. Maier (s.o.) herausgegebene Band Pegasus – Das lateinische Lesebuch der Mittelstufe (materialreicher Lehrerkommentar 2005); 5.) schülerorientierte Lesebücher, gezielt bezogen auf „Fragen und Probleme der Jugendlichen“ (Tolle lege oder die Übergangslektüre der Prima 2006 ff.); 6.) traditionelle Autorenlesebücher (Anthologien wie die Gustula).

Im Mitteilungsblatt des LV NRW im DAV (4/2008) sichtet Tom van de Loo verschiedene Möglichkeiten der „Übergangslektüre als Nahtstelle zwischen Lehrbuch und kontinuierlicher Lektüre“ (S. 4-29) und systematisiert darin (S. 7-9) nach 1.) literarischen Gattungen, 2.) Autoren- oder thematischen Lektüren, 3.) adaptierten oder Originaltexten sowie 4.) an ein vorangehendes Lehrbuch anschließenden oder lehrwerkunabhängigen Sammlungen. Als Eignungskriterien für eine Übergangslektüre benennt er (S. 10 f.): a) leichte bis mittelschwere (ggfs. adaptierte) Originaltexte für eine plurima lectio, b) Schulung und Vertiefung der Kompetenzen Texterschließung und Übersetzung; dabei Vervollständigung lektürerelevanter sprachlicher Phänomene aus der Lehrbuchphase, c) inhaltliche Ergiebigkeit für Möglichkeiten der Interpretation sowie d) Interesse für und Verbindung zur Lebenswelt der Schüler – Stichwort: „historische Kommunikation“ und Bewußtsein um das Werden der europäischen Kultur.

Im Folgenden soll zunächst aus eigener Erfahrung eine an die Spracherlernung anknüpfende – und stets erweiterbare – Auswahl möglicher Lektüredurchgänge für die Mittelstufe vorgestellt werden – nicht um einen alternativen Kanon jetzt etwa zu kreieren, sondern um mögliche ‚Rote Lektüre-Fäden‚ zu spannen, welche Schüler/innen – zumal in einer ja nicht ganz unproblematischen Phase ihrer Entwicklung – altersgerecht Fragestellungen der römischen und lateinischen Literatur entdecken und ihnen vertraut werden lassen, die ihrer eigenen Lebenswelt alles andere als fern stehen, die sozusagen das <Weltwissen> der antiken Texte zu <Lebenswissen> bei den jungen Menschen verdichten … – und hierauf gründet sich sodann auch die Wahl gerade dieses Schwerpunktes einer Lektürereihe: der „Blick von außen auf das Fremde“ – subjektiv, gesteuert und/oder steuernd: wie bildet sich ein Bild ? (Vespuccis Mundus Novus, Caesars ethnographische Exkurse im Bellum Gallicum V/VI) – und welche Folgen hat dies ? Als Ausblick und Vertiefung schließlich die Debatte zwischen Sepúlveda und de Las Casas über angemessenen Umgang mit den indigenen Völkern: die größere zeitliche Nähe zu den Schüler/innen (bei immer noch verbleibenden 500 Jahren natürlich durchaus relativ), die Positionierung an einer Epochenmarke, dem Beginn der Neuzeit mit ihren großen, bahnbrechenden Neuentdeckungen, nicht zuletzt aber ihre Aktualität aufgrund der Parallelen zur unmittelbaren Jetzt-Zeit der Lesenden machen eine solchermaßen thematische Lektüre zu einer weiterführenden, weil die geistige Auseinandersetzung befördernden Anregung und denkbaren Alternative zu herkömmlichen Lektüregängen der Mittelstufe. – Zunächst also:

 [die Anordnung innerhalb der Spalten der Tabelle ist nicht korrekt; planmäßige Wiedergabe in der herunterzuladenden PDF-Datei s.o.]
Cicero in Verrem [Modelle zum AU; didaktisiert]:

Ciceros berufliche Anfänge als Politiker; Cicero als Redner und Anwalt.

Römische Provinzialverwaltung (= Actionis in C. Verrem Sec. liber IV 60 ff.)

Rhetorik

bearb. vom Kölner Arbeitskreis ‚Lateinische Anfangslektüre‘ (Frankfurt / Diesterweg 3199o).

 

Cicero – Philippica:

Vom Machtkampf nach Caesars Ermordung [Modelle zum AU; didaktisiert]:

Cicero gegen Antonius im Herbst des Jahres 44 (aus der Oratio Philippica II)

‚Res publica amissa‘

bearb. vom Kölner Arbeitskreis ‚Lateinische Anfangslektüre‘ (Frankfurt / Diesterweg 1987).

 

Historia Apollonii regis Tyri:

Roman mit Elementen aus Epos, Märchen, Tragödie, Komödie, Geschichtsschreibung, von K.-H. Niemann (Stuttgart/Klett 1992 ff.) [vgl. AU 34,4 (1991), 28-35] – auch in den Gesta Romanorum, Nr. 153.

 

 

 

 

Curtius Rufus – Alexander der Große, bearb. von J. Fuchs und G. Flemmig (Bamberg/Buchners 2005 ff.) [ratio 1].

 

Caesar – Bellum Gallicum

 

 

BG I, 1-3o (bellum Helveticum).

 

 

 

 

Vgl. auch die beiden der Übergangs- und Erstlektüre gewidmeten Hefte des AU 18,5 (1975) und 43,4+5 (2000).

 

Mundus Novus Texte zur Entdeckung der Neuen Welt (Vespucci, Cortes, Petrus Martyr u.a.), von J. Klowski und E. Schäfer (Stuttgart/Klett 1991 ff.) [vgl. AU 27,6 (1984) 49-70 / 30,2 (1987) 47 ff. / Gymnasium 100 (1993) 323-41 / Anregung 43 (1997) 320-23, 329-40] – De Indis nuper inventis (s.u.), von R. John (Bamberg/Buchners 22005 ff. [Studio 2]).

 

Terenz, Eunuchus Die private Welt der hellenistischen Komödie.

 

[Plautus in Comics – Die Gespenster-geschichte (Mostellaria), mit dem latei-nischen Text dargest. von H. Oberst (Zürich-München/Artemis 101993)].

 

Caesar, Bellum Gallicum Ethnographische Passagen: Gallier- und Germanenexkurs (VI 11-28), Britannierexkurs (V 12-14).

 

Ovid, Metamorphosen selectas composuit Rubricastellaunus / pinxit Martin Frei (Klett 1996) – in Bildergeschichten mit dem Originaltext unter der jeweiligen Bildsequenz.

 

Caesar, Bellum GallicumBritannienexpeditionen (IV 2o ff./ V 8-23).

 

Caesar, Bellum Gallicum Buch VII: der Freiheitskampf der Gallier unter Vercingetorix.

 

 

 

I. Textgrundlage für die anschließende Lektüresequenz „der Blick von außen auf das zivilisatorisch Fremdartige“:

  • Americo Vespucci: Mundus Novus (1503), insbes. Zeile 90 – 165: quoad gentes …
  • Juan Ginés de Sepúlveda: Apologia pro libro de iusti belli causis (1550) I – IV
  • Bartolomé de Las Casas: Adversus persecutores et calumniatores gentium novi orbis ad oceanum reperti Apologia (1550) I – IV.

[alle in: Mundus Novus – Lateinische Texte zur Eroberung Amerikas, ausgewählt und erläutert von J. Klowski und E. Schäfer (Stuttgart/Klett 1991 ff.)]

 

  • Caesar, BG VI 13-19 (Gallier), 21-23 (Germanen); V 12/14 (Britannier).

optional → aus Jahrgangsstufe 11: Tacitus, Germania: Auswahl insbes. aus c. 7 – 27: Ursprung und Sitten der Germanen im Ganzen, u.a. Gefolgschaft; Kult; Politik und Gerichtswesen; Kleidung und Ehe, Erziehung, häusliches Leben und Siedlung.

 

Ein Zeitansatz für diesen Lektüreschwerpunkt selbst kann durchaus variieren: neben den ‚üblichen‘ Faktoren wie Klassengröße, tatsächlicher Wochenstundenzahl, Alter oder Leistungsstärke der Lerngruppe wird er im wesentlichen vom gewählten Umfang der Originallektüre (z.B. Mundus Novus ganz oder lediglich quoad gentes …), ihrer Unterstützung und Entlastung durch Schülerreferate (etwa zum Britannier- oder Germanenexkurs BG V 12-14 bzw. VI 21-24) oder arbeitsteilige Gruppenarbeiten (s.u. zu Sepúlveda – de Las Casas) bzw. Lernzirkel (Stationenlernen) bestimmt sein.

 

1499 kehrt Vasco da Gama aus dem vorderindischen Calicut nach Portugal zurück, hat Südafrika und das Kap der Guten Hoffnung umrundet und damit den Seeweg nach Indien entdeckt – anders als der Genuese Christoph Kolumbus, welcher (für die spanische Königin Isabella) seit 1492 lediglich die Karibischen Inseln sowie die Küsten Mittel- und des nördlichen Südamerika angesteuert hatte. 1500 weicht Pedro Alvares Cabral den Windverhältnissen im Golf von Guinea1 nach Südwesten aus und sichert Portugal die Ostküste Brasiliens, nachdem bereits 1497 der Italiener in englischen Diensten (Heinrichs VII) Giovanni Caboto im Norden die Ostküste Kanadas (Neufundland) wiederentdeckt2 hatte.

Der gebürtige Florentiner Amerigo Vespucci, Leiter der von Lorenzo Di (Sohn des) Pierfrancesco de‘ Medici in Sevilla gegründeten Handelsniederlassung, nahm zwischen 1497 und 1504 an vier Entdeckungsreisen nach Mittel- und Südamerika teil, die beiden letzten im Auftrag des portugiesischen Königs Emanuel I.; auf seiner dritten und wichtigsten betritt er 1502 die brasilianische Küste und berichtet in einem Brief an den Herrn seines Bankhauses über das neuentdeckte Land.

Dieser Ende 1502/Anfang 1503 ursprünglich italienisch abgefaßte Brief taucht im Jahre 1503 gleichzeitig in verschiedenen europäischen Städten, namentlich Paris und Florenz, unter dem Titel Mundus Novus in lateinischer Fassung auf  (das italienische Original ist nicht erhalten): am 14. Mai 1501 sticht Vespucci von Lissabon aus mit drei Schiffen (zehn Monate) in südlicher Richtung in See. Vorbei an den Kanaren und der nordafrikanischen Küste (litus Africum) legen sie bei Cap Verde (Mandingha, 14° nördl. Breite) im Westen des Senegal und Gambias an der Küste Schwarzafrikas (litus Aethiopicum) an, um von dort aus in südwestlicher Richtung den Atlantik zu überqueren und nach zwei Monaten und drei Tagen an der Nordküste Brasiliens südlich der Amazonasmündung zu landen, die man – mit mehreren Landgängen und freundlicher Aufnahme durch die einheimische Bevölkerung – zunächst östlich, sodann (auf 8° südl. Breite) etwa um das heutige Recife (vorm. Pernambuco) herum weiter nach Süden (bis über den südlichen Wendekreis [des Steinbocks] hinaus auf 17,5 Grad an den antarktischen Polarkreis heran) entlangfährt: man beschließt, die Gegenden zu erkunden und ihre Einwohner kennenzulernen, man wird überall gastlich empfangen und hat freundschaftlichen Umgang mit den Bewohnern der Landstriche.

1Hanno von Karthago hatte um 500 v. Chr. an dieser Stelle vor dem Gabun/Kamerun seine Entdeckungsreise über die Säulen des Herakles (Straße von Gibraltar) hinaus in südlicher Richtung um die westafrikanische Küste abbrechen und in der Bucht ‚Horn des Südwindes‘ umkehren müssen, weil man zur damaligen Zeit noch nicht gegen den Wind segeln konnte.

2Der Norweger Leif Eriksson, Sohn Eriks des Roten, war um 1000 von Grönland nach Labrador und Nova Scotia abgedriftet.

 

Arbeitsauftrag – nach gemeinsamer Lektüre betrachten vier Gruppen Z. 90-165 hinsichtlich wertungsneutraler, positiver und negativer Eigenschaften und tragen diese in einem ersten Schritt in die vorbereiteten Spalten einer Tabelle ein, wobei sie folgende, sich in Einzelnem überschneidende Gesichtspunkte zur Eingrenzung der besonderen Merkmale der Indios Vespuccis (!) untereinander aufteilen:

1.) Soziale Bindungen; Generationen,

2.) Lebensweise(n); individuelle Eigenart(en),

3.) Wirtschaftsbeziehungen,

4.) Gemeinwesen innerhalb wie außerhalb – Gesellschaftsstrukturen.

Zwei Grundaussagen durchziehen Verspuccis Darstellung der indianischen Ureinwohner:

a) Breitestes Schwelgen in allen Formen der Körperlichkeit, beginnend mit einer neutral (aber 92–94: Nacktheit !) bis positiven Darstellung (wohl geformt – grazile Bewegungen (102 f.), welche sehr bald aber einmündet in eine Klimax der Abartigkeiten: ‚Piercing‘ in allen Gesichtsteilen (104–17), Sexualpraktiken (118–22), Polygamie und völlige Promiskuität (125–27), Grausamkeit im Krieg (130–32), Kannibalismus (133–40), Wollust der Indiofrauen gleichwohl ohne äußerliche Verunstaltung (145–52): gerade in Letzterem ein Bedienen eines männlichen Voyeurismus mit ‚Frivolitäten‘, über welche heutige Jugendliche vielleicht gerade noch lächeln, aber gerade für Schüler/innen lehrreich: zur Herabsetzung fremder Ethnien ebenso wie sozialer, hier: geschlechtlicher Gruppen wird zuvorderst der Bereich körperlicher Eigenarten bemüht.

b) Abwesenheit jeglicher zivilisatorischer, geschweige staatlicher Strukturen wie Besitz, Administration, Kult, Kriegskunst oder Wirtschaftsleben: dies Alles freilich kurz, knapp, lapidar – lakonisch ‚abgehakt‘, geschwelgt wird in Anderem …

Aus Beidem ergibt sich ein Fehlen jeglicher öffentlicher gepaart mit einem Fehlen jeglicher moralischer Ordnung – Leitmotiv: Naturkinder (128 f.) bestiis similes (142): zur Herabsetzung fremder Ethnien wird sodann und abschließend das Vorhandensein jeglicher Kultur bzw. gesellschaftlicher (und damit auch moralischer !) Strukturen verneint, die Zivilisationsstufe in die Nähe derjenigen von Tieren gerückt.

 

II. Im Vergleich dazu lesen die Schüler/innen aus Caesars BG VI 13-19 (Gallier), 21-24 (Germanen), V 12/14 (Britannier) die sachlich-pragmatische Darstellung der gallischen (und germanischen) Gemeinwesen und ihrer ‚Bauteile‘ in der Reihenfolge ihrer Wichtigkeit (natürlich in seinen Augen) überhaupt, zugleich aber auch für seine Darstellungsabsicht (→ Stärke und damit Bedrohlichkeit insbes. der Gallier für Rom).

Unter den folgenden Gesichtspunkten, welche von den Schüler/innen aus der laufenden Lektüre (bzw. Referaten: Britannier-, Germanenexkurs) heraus schon formuliert worden sind („Welche Themen behandelt Caesar in den Exkursen ?“), kann von der Lerngruppe ein tabellarischer Überblick – zunächst einmal nur für Gallier, Germanen und Britannier (für Indios eine freie Spalte lassen) – in arbeitsteiliger Gruppenarbeit erstellt und an der Tafel in Stichpunkten zusammengetragen werden:

1.) Gesellschaftsordnung:  Plebs [Sklavenstatus] – Druiden [Kult, Rechtssprechung, Strafgewalt; Geheimlehre, Lehrer] – Equites [Profi-Krieger wie bei den Germanen],

2.) Religion, Kultus und Götterhimmel [bei den Germanen eher unterentwickelt],

3.) Familie: Pater familias, aber auch vertraglich geregelte Gütergemeinschaft mit der Ehefrau. Stellung der Kinder [bei den Germanen hohe Wertschätzung später Geschlechtsreife und möglichst langer sexueller Abstinenz],

4.) Verwaltung: Beamte und Volksversammlung [nicht bei Germanen],

5.) Lebensweise: Gallier – Fehlanzeige [Germanen: Wirtschaftsform(en), Nahrung und Kleidung, Besitz, Gastrecht].

 

→ In einem zweiten Schritt wird nun betrachtet, wie Vespuccis Punkte der Ordnungs-, Kultur- und Moralfreiheit sich in die vorbereitete Übersicht zu Caesars Keltenexkursen einordnen [Eintragungen zu Indios]. Auch hier werden danach Leitfragen mit Blick auf die vorgenommenen Eintragungen zu stellen und zu diskutieren sein bzw. Arbeitsaufträge (Stillphase oder Partnerarbeit) – an die Schüler/innen:

a) Worauf legt Vespucci, worauf Caesar besonderes Gewicht im Allgemeinen ?

b) Was erregt ihre Aufmerksamkeit im Einzelnen, und welchen Beobachtungen räumen sie wie viel Platz ein ?

c) Was bezweckt der jeweilige Berichterstatter damit, welche Darstellungsabsicht leitet ihn offenbar ?

Die Schüler/innen werden vor dem Hintergrund ihrer vorausgegangenen Lektüre unschwer die völlig andersartige Gewichtung in der Betrachtungsweise Vespuccis und derjenigen Caesars erkennen:

hier der geradezu voyeuristische Überbringer mitunter gar bizarrer Fremd- und Andersartigkeit, insbesondere im persönlichen, individuellen Bereich. Ein ausgebildetes Gemeinwesen scheint nicht wirklich vorhanden.

dort der strategisch (militärisch wie politisch, außen- wie innenpolitisch) planende Analytiker der Stärke und damit zugleich der drohenden Gefährlichkeit gallischer (und germanischer) Gesellschaftsstrukturen für Roms Machtanspruch, welcher diese nicht zuletzt in eine Reihe mit „Hannibal ante portas“ (217/16 v. Chr.) und dem „Furor Teutonicus“ (105 v. Chr.) stellt.

d) Welche realen Folgen hat dies jeweils ? – Bei Caesar die fortlaufende Verlängerung seines Mandats in Gallien, bei Vespucci die von dem spanischen Hofchronisten (seit 1536) Sepúlveda und dem Dominikanermönch (und späteren Bischof von Guatemala) de Las Casas geführte Debatte um Behandlung und Wertschätzung der indianischen Völker.

 

Diese ist eingebettet in einen umfassenden Streit seit der ersten Begegnung der Spanier mit den Eingeborenen auf Haiti (12.10.1492 → Petrus Martyr 1516-30) über die Frage „Dürfen Indianer mit Gewalt bekehrt werden oder sollten Christen als Vorbild dienen ?“ (Franciscus de Victoria 1539), über die Sklavennatur der Azteken und ihre Kultur (J.G. Sepúlveda 1545) sowie die Gegenthese, daß man von den Eingeborenen durchaus lernen könne (B. de Las Casas 1550) – Texte (dazu Auszüge aus der Kolumbus-Biographie des Paulus Iovius 1551) gesammelt von R. John: De Indis nuper inventis: Texte zur Entdeckung Amerikas (Bamberg/Buchners 22005)[Studio 2] – diese können wahlweise weitergeführt und ergänzt werden durch zwei materialreiche und anschauliche Themenhefte über Konquistadoren in Peru – Theodor de Bry: Aufstieg und Fall der Gebrüder Pizarro, bearb. von A. Micha (Göttingen/Vandenhoeck 2004)[Clara 12] oder aber Wir und die anderen – Caesar und Tacitus über fremde Völker (darin auch: Cicero an seinen Bruder über die Griechen und Kolumbus über die Eingeborenen der Neuen Welt, sowie Isidor v. Sevilla [6. Jh.], Cicero, der Kirchenvater Augustinus und der Stoiker Seneca zum bellum iustum), von U. Blank-Sangmeister (Göttingen 2009)[Clara 27].

 

III. a) Welches sind die Grundthesen Sepúlvedas für eine Behandlung der Indiokulturen ? und b) An welchen Punkten ihrer Darstellung durch Vespuccis Mundus Novus lassen sich diese [in einer Tabelle gegenüber] verankern ?

Sodann sollte die insbes. auf Seiten de Las Casas‘ umfangreiche Argumentation in arbeitsteiliger Gruppenarbeit bewältigt werden – etwa je eine Gruppe die Erwiderung auf jede der vier Thesen Sepúlvedas, eine weitere diese selbst.

 

Eine wahlweise Abrundung dieses Lektüreganges noch in der Mittel-, aber bereits im Übergang zur Oberstufe könnte (10/11) – je nach den zeitlichen Möglichkeiten und Rahmenbedingungen – auch ein Blick in ganz entgegengesetzter geographischer Richtung bieten, statt in die Neue (westliche) Welt ins Morgenland auf die „Briefe aus der Türkei: der Gesandte Ogier de Busbecq im Reich Sultan Süleymans des Prächtigen“ (Antwerpen 1581) von J. Behrens (Bamberg/Buchners 2008)[Studio 7]: Ausdruck einer vorurteilsfreien, von Toleranz geprägten Sicht auf das Fremde, das Andere – Menschen und Völker, Kultur, Fauna und Flora – vor dem Hintergrund vieler verfälschender, mitunter haßerfüllter Türkeiberichte seiner früheren Zeitgenossen [Busbecq findet 1555 an einer Hauswand in der Hauptstadt der Provinz Galatien eine römisch-griechische Abschrift des Tatenberichts des Augustus: das Monumentum Ancyranum]. Unter Themenstichworten wie: Zusammentreffen der Kulturen, Infrastruktur, Botanik und Tierhaltung, Herrscher und Würdenträger, Mode, Militärwesen, Umgang mit Andersgläubigen und Rolle der Vorsehung, Stellung der Frau in der osmanischen Gesellschaft ist auch dies angesichts der gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskussion um Miteinander oder Nebeneinander, Integration oder Parallelwelten, Toleranz oder Abgrenzung gegenüber der größten anders geprägten Bevölkerungsgruppe in Deutschland von höchster Aktualität und Einbettung im realen Leben der Schülerinnen und Schüler.

 

Transfer in die eigene Lebenswelt – moderne Parallelen zu Intention und Auswirkungen der Fremdenbilder Caesars und Vespuccis werden in einer abschließenden Diskussion den Schüler/innen die Nähe zu jüngeren und jüngsten tages- und weltpolitischen Handlungskonstellationen eröffnen: UN-Mandate in Krisenregionen; <Schurkenstaaten> und Drohpotential fremder Kulturen und Religionen; Heiliger-Krieg-Vorstellungen (gegen Ungläubige), aber auch Krieg in göttlichem Auftrag (bellum iustum gegen Terroristen); Begründungen für den Irak-Krieg mit der Bedrohlichkeit des Regimes von Saddam Hussein; Parallelen zwischen Imperium Romanum und heutigen amerikanischen Interessensansprüchen, u.a.m.

 

Einfuehrung-in-die-lateinische-Prosodie-und-Metrik

Einfuehrung-in-die-lateinische-Prosodie-und-Metrik

aus: Die Weiterbildungslehrgänge Latein (2005-2011), hg. von K. Sundermann. Mainz 2013 [Impulse 15], S. 79-89.

Einführung in die lateinische Prosodie und Metrik

von  Michael P. Schmude

Die vollständige Fassung des hier nur angerissenen Artikels findet sich unter obenstehendem (grünen) Link → auf der ‚Innenseite‘ …

 

Beim Vortragen lateinischer Verse ist unschwer zu hören, daß hier die Intonation von der ’normalen‘ Prosabetonung der gleichen Worte, also vom natürlichen Wortakzent, doch an manchen Stellen durchaus abweicht. Höhen und Tiefen, Hebung und Senkung, Akzent oder Iktus laufen in einer festgeregelten Folge ab, und diese Abfolge wiederum hängt zusammen mit den Längen und Kürzen der einzelnen Wortsilben, ihren Quantitäten: zwei ineinandergreifende Bereiche der lateinischen Verslehre überhaupt – Prosodie hier als Lehre von den Silbenquantitäten und Metrik als Lehre von den Versmaßen im engeren Sinne.

 

– Der lateinische Vers besteht in einer regelmäßigen Folge langer und kurzer (quantitierende), der deutsche im Wechsel betonter und unbetonter Silben (akzentuierende Metrik). Neben dem natürlichen Wortakzent (der Prosa) steht in Dichtung zur Verdeutlichung der Versstruktur der <Ictus> (G. Hermann 1816), der Versakzent.

– Die Prosabetonung deutscher Worte liegt auf der Stammsilbe, d.h. dem sinngebenden Bestandteil. Die Prosabetonung lateinischer Worte richtet sich nach dem Drei-Silben-Gesetz: jedes mehrsilbige betonte Wort hat den Hauptakzent auf der vorletzten Silbe ([syllaba] paen-ultima), wenn diese lang, auf der drittletzten (antepaenultima), wenn die vorletzte kurz ist. Zweisilbige Worte werden auf der vorletzten Silbe betont. Anders als im Deutschen ist also der Wortakzent von der Quantität der Silben (Gegenstand metrischer Prosodie) und ihrer Abfolge (Funktion des Rhythmus) abhängig.

– Der Bau des lateinischen Verses wird demnach unabhängig vom natürlichen Wortakzent bestimmt von der Quantität der einzelnen Wortsilben, der deutsche von der Art der Abfolge seiner betonten und unbetonten Silben (dabei können wir von einem Vers erst sprechen, wenn diese Abfolge streng regelmäßig, an ein Versmaß gebunden ist, ansonsten haben wir es mit rhythmischer Prosa zu tun). Die metrische Länge oder Kürze der Wortsilben, von welcher die Betonung bzw. Akzentuierung abhängt, ist Gegenstand einer eigenen Disziplin, der Prosodie (gr. pros-ōdía =  lat. accentus).