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Der-Mensch-Maengelwesen-oder-Krone-der-Schoepfung

Der-Mensch-Maengelwesen-oder-Krone-der-Schoepfung

Der Mensch ‑ Mängelwesen oder Krone der Schöpfung ?*

von Michael P. Schmude,  Boppard

aus: Anregung 43 (1997), S. 91-94            [Abiturrede 1996]

 

Die Menschen gehen ihres Weges und bewundern die Gipfel der Berge, die ungeheure Flut des Meeres, das Abwärtsgleiten der breiten Ströme, den Ozean in seiner Unermeßlichkeit und die Kreisbahnen der Sterne ‑ von sich selbst jedoch entfernen sie sich mehr und mehr“ ‑ so der italienische Dichter und Humanist Francesco Petrarca im 14. Jh. in einem Brief an Freunde (de fam. VI <IV 1>) ‑ wer oder was ist der Mensch ?

Diese Frage, in der Vorhalle des Apollontempels zu Delphi als Gebot formuliert ‑ das bekannte „gnṓthi seautón: erkenne Dich selbst“ der Sieben Weisen ‑, bewegt die spekulierenden Geister der Jahrhunderte ‑ im besten Sinne des Wortes speculari als ‚umherschauen, erforschen, beobachten‘. Aus der Frage nach der Ordnung der physikalischen Welt, dem Kosmos, die von den vorsokratischen Naturphilosophen des östlichen Mittelmeeres, von Thales v. Milet, von Pythagoras u.a., seit dem 7. vorchristlichen Jahrhundert aufgeworfen wurde, hatte sich die weitergehende nach der Entstehung menschlicher Gemeinschaft und Kultur ergeben. Wir denken aber auch an den Kyniker Diogenes ‑ den in der Tonne ‑ , wie er im Athen des 4. Jahrhunderts in Diensten desselben Delphischen Apoll am hellichten Tag mit einer Lampe umherläuft, um nach einem Menschen zu suchen (Diog. Laert. 6, 41).

Es war einst eine Zeit, wo es Götter zwar gab, sterbliche Geschlechter aber gab es noch nicht …“ beginnt ein Mythos, welchen Platon den Sophisten Protagoras vortragen läßt (Prot. 32o d ff). Danach bildeten die Götter die Lebewesen zur vorherbestimmten Zeit im Erdinnern aus einem Gemenge von Erde und Feuer und beauftragten das Brüderpaar Prometheus und Epimetheus ‑ den Vorherdenker und den Nachherdenker ‑ , diese ans Licht der Welt zu befördern und mit den hierfür erforderlichen Wesensanlagen auszustatten. Es gelang dem Epimetheus, seinen Bruder zu beschwatzen, ihm diese Aufgabe alleine zu überlassen, und so machte er sich ans Werk.

Er legte dabei zunächst auch einen erstaunlichen Verstand an den Tag: welchen er Stärke zugeteilt hatte, die bedurften nicht besonderer Schnelligkeit, mit dieser hingegen versah er die Schwachen und Kleinen, dazu mit Flügeln oder unterirdischer Behausung. Er vergab Felle gegen Hitze wie Kälte, Hufe und Klauen, wies den verschiedenen Arten verschiedene Formen der Ernährung zu, den einen Kräuter und Früchte, den anderen das Fleisch anderer Tiere; die Räuber begrenzte er in ihrer Vermehrung, während er der Beute durch entsprechende Zeugungskraft den Bestand ihrer Gattung sicherte …

Doch jetzt hatte er ein Problem: nach seiner auf den ersten Blick so umsichtigen Verteilung war nichts mehr für das letzte der sterblichen Geschlechter übriggeblieben, den Menschen. Als der Bruder Prometheus hinzukam und die Bescherung sah, wußte er nur noch dadurch Abhilfe zu schaffen, daß er der Athene die Handwerke und dem Hephaistos das Feuer stahl und den Menschen brachte; bekanntlich hat Zeus ihm dies niemals verziehen und ihn zur Strafe an eine Felswand schmieden lassen – es sollte eines Herakles bedürfen, um ihn später aus dieser wenig befriedigenden Lage zu befreien.

Der Mensch als Mängelwesen, ein Stiefkind der Natur ‑ weniger behende als die geflügelten Schwachen, den Starken unter den tierischen Geschlechtern an Kraft unterlegen und auch in seiner Vermehrung nicht unerheblichen individuellen Schwankungen unterworfen ‑ ist das der Mensch, von welchem der gleiche Protagoras den berühmt-berüchtigten Homo-mensura-Satz prägen sollte: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der Seienden, daß sie sind, der nicht-Seienden, daß sie nicht sind“ (VS 80 B 1) ? Platon hat die Unzulänglichkeiten des Einzelmenschen zum Beweggrund für den Zusammenschluß zu sozialen Gemeinschaften gemacht: die bürgerliche, die politische Fertigkeit hatte Prometheus freilich nicht stehlen können, die verwahrte Zeus einstweilen noch persönlich. In der Politeia sodann, Platons Staatsmodell, ergänzen sich die Menschen mit jeweils derjenigen Fähigkeit, die jeder Einzelne zur allgemeinen Bedürfnisbefriedigung beitragen kann (369 b 5 ff.): der Bauer stellt seinen Pflug nicht selbst her, auch der Arzt benötigt Schuhwerk, und der Kaufmann wird von Kopf- oder Bauchschmerzen geplagt. Allerdings bedarf es als ordnenden Elementes auch hier noch eines allgemeinen Rechtsempfindens.

Demgegenüber prägt Aristoteles den Begriff vom Menschen als Zṓon politikón (Pol. 1253 a 3), welcher später insbesondere für die Stoa (vgl. Cic. off. I 22 [Panaitios]; I 152‑61 [Poseidonios]) maßgebend wurde: wie Cicero es nach ihm formulieren sollte, sei Grund für das Zusammengehen nicht so sehr die Schwäche und Wehrlosigkeit als vielmehr ein gleichsam natürlicher Trieb des Menschen zur Geselligkeit, der Einsiedelei seinem Wesen nach scheue (rep. 1, 39). Es war Epikur, der Vielbemühte und meist Geschmähte, welcher beiden Vorstellungen, die zuvor schon nicht scharf voneinander zu trennen waren, in seinen Kulturphasen Rechnung trug ‑ soweit wir dies jedenfalls aus der dichterischen Kulturentstehungslehre seines römischen Schülers und etwas jüngeren Zeitgenossen Ciceros, Lukrez (5, 925 ff.), ersehen können: während zunächst einmal die äußeren, natürlichen Umstände auf den Menschen Zwang ausüben, sind erst in einem zweiten Schritt menschlicher Verstand und Überlegung Triebkräfte einer sozialen und kulturellen Entwicklung.

Kehren wir zurück zum Homo-mensura-Satz des Sophisten: wenn der Mensch das Maß ist ‑  wer setzt ihm das Maß, wer gibt ihm die Norm, wer zeigt ihm seine  Grenze ? Wo bleibt für ihn dann der Gott, die Ordnung über ihm ?

Als den Menschen die Erde nicht mehr genügte, bauten sie einen Turm, um in den Himmel zu gelangen, und als die chaotischen Giganten die Ordnung der Götter umstürzen wollten, türmten sie Berge gegen den Olymp auf ‑ wie es den Einen erging, erzählt uns das Alte Testament (Gen. 11), was den Anderen blühte, ist am Pergamon-Altar auf der Berliner Museumsinsel zu besichtigen. Doch nirgendwo wird der Mensch in seiner vermeintlichen Stärke und Souveränität so unerbittlich in seine Schranken gewiesen wie in den Über-Menschen der Attischen Tragödie: von Kreon, dem Herrscher über Theben, welcher sich in Staatsraison wider alle Menschlichkeit versteigt, bis zum Meisterdetektiv Ödipus in seiner intellektuellen, aber hybriden Brillanz, mit welcher er schon das Menschenrätsel der Sphinx gelöst und diese in Verzweiflung gestürzt hatte: zerschlagen, weil sie das ihnen ‑ eben doch ! ‑ gesetzte Maß überschritten haben. Nur einer will zum tragischen Helden nicht recht taugen: es ist der vielduldende Odysseus, der listenreiche, der um seine Schwächen weiß und schlau seine Stärken ausspielt ‑ und überlebt.

Ungeheuer ist viel, doch nichts ungeheurer als der Mensch – er herrscht über die Stürme des Meeres und die Erde mit ihrem Getier, herrscht über Rede und Gedanken, über Städte – nur dem Ort der Toten zu entgehen, das hat er nicht gelernt, Hochmut, Unrecht und Frechheit bringt er …„; in diesem Sinne läßt Sophokles den Chor der Antigone (332 ff.) sich vor deren Artgenossen verwahren: was hatte man sich nicht Alles untereinander angetan, stets mit gutem Grund, mit tragischer Notwendigkeit ‑ der Bruder den Bruder von Stadt und Herrschaft ferngehalten, der wiederum die Vaterstadt mit einem fremden Heer angegriffen und belagert, die Brüder sich schließlich im Zweikampf gegenseitig getötet, doch nur einer durfte bestattet werden, der Leichnam des anderen sollte Hunden und Vögeln zum Fraß dienen, die Schwester, die das Bestattungsverbot übertreten hatte, sah der Todesstrafe entgegen, ihr Verlobter, Sohn desjenigen, welcher Verbot wie Strafe erlassen hatte, beging darum Selbstmord, seine Mutter folgte ihm darin ‑ eine Familie, ein Katalog von Leichen ‑ der Mensch dem Menschen Wolf ‑ homo homini lupus …

Versöhnlicher ist nur die Komödie: „… ich bin Mensch, nichts Menschliches ist mir fremd“ ‑ mit diesem Bekenntnis läßt der Afrikaner Terenz ‑ nach einer hellenistischen Vorlage ‑ im 2. Jh. v. Chr. eine seiner Figuren sich selbst charakterisieren (Heautont. 77): doch welcher Mensch ist hier gemeint ‑ der Mensch als Mängelwesen oder der Mensch als Krone der Schöpfung ? Die beiden Quellenschriften zur alttestamentlichen Genesis, der (ältere) Jahwist (Gen. 2, 4b‑25) wie die (jüngere) Priesterschrift (Gen. 1, 1 ‑ 2, 4a) sehen in ihm Mittel- bzw. Höhepunkt der Welterschaffung, ausgestattet mit einer Art Freifahrtschein, sich diese untertan zu machen, könnte man meinen …

Doch bekanntlich behagte das Prunkstück auch seinem Erschaffer immer weniger, je weiter und breiter es sich machte, bis er schließlich die Große Flut schickte, um ‚klar Schiff‘ für einen neuen Anlauf zu bekommen (Gen. 6‑8); bei dem Griechen Hesiod (um 7oo vor) wie bei dem Römer Ovid einige Jahre nach Christi Geburt wird dies über die Deszendenz der Menschengeschlechter hinweg vom Goldenen bis zum Eisernen Zeitalter nötig (Erga 1o9 ff / Metam. 1, 89 ff; 244 ff): übrigens ist diese Vorstellung vom Mißraten des ersten Schöpfungsversuches ein gemeinsames Grundmuster menschlichen Denkens, denn in den Aufzeichnungen verschiedener Kulturvölker mit Schöpfungsberichten, von den Indianern Nordamerikas bis zu den Einwohnern des Zweistromlandes, bedarf es einer Sintflut, um das Mißlingen der Schöpfung noch einmal zu korrigieren. Nun ist dies natürlich kein beliebig wiederholbares Verfahren, und welcher Weg beschritten werden sollte, als auch der zweite Versuch mit der ‚Krone der Schöpfung‘ danebengeriet, findet sich im Neuen Testament gleich mehrfach aufgezeichnet ‑ ihren Mängeln war indes mit Verbesserungsvorschlägen nicht mehr beizukommen, da half nur noch Vergebung statt Strafe. Der Mensch sitzt längst schon im Dunkel des Jammertals.

Es ist der Humanismus, welcher den Menschen wieder in den Mittelpunkt rückt, nach den Möglichkeiten seiner eigenständigen Entfaltung wie nach seiner Daseinsbestimmung als Individuum fragt. Insbesondere der Renaissancehumanismus im Florenz des Quattrocento, im 15. und 16. Jahrhundert, stellt mit der Wiederentdeckung der Klassischen Texte der alten Griechen auch deren zentrale Frage nach der Eigenart des Menschen in den Vordergrund. Wiederaufgenommen im Neu-Humanismus der Deutschen Klassik, reicht seine Kraft trotz zeitgeistbedingter Anfechtungen mancher Epochen bis in unsere Tage, seine Notwendigkeit besteht in ebendem Maße, wie die Kernfrage, welche im Begriff Humanismus Programm geworden ist, auf eine erschöpfende Antwort dringt ‑ aber ist eine solche überhaupt vorstellbar ?

Nun ‑ wir werden dies hier und heute jedenfalls nicht leisten können, und das war auch mit diesem kleinen, eher willkürlich zusammengestellten Panoptikum ganz unterschiedlicher Auffassungen an keiner Stelle beabsichtigt. Vorgeführt werden sollte, wie die Frage nach Wesen und Bestimmung des Menschen aufgeworfen und zeitlos formuliert, kontrovers und zeitbedingt diskutiert, uns Späteren aller Zeiten als Hausaufgabe mit auf den Weg gegeben wurde. In der Auseinandersetzung mit, in Annahme wie Zurückweisung bereits gegebener Antworten, liegen Möglichkeiten, in der Erkenntnis unserer Grenzen wie unserer Verantwortung gegenüber dem Ganzen, in dem von uns geforderten, wohlverstandenen Respekt vor der Schöpfung und ihrer Wohlgeordnetheit, ihrer Eu-kosmía, ein Stück weiter aus dem Neandertal herauszutreten.

Lahnstein, 28. Juni 1996                                                Michael P. Schmude

 

*Erstfassung in: Anregung – Zeitschrift für Gymnasialpädagogik (s.o.); fortlaufend überarbeitet und erweitert in: www.ulisseweb.eu: Official documents – Papers of Malta Convention 09.04-05.2006 sowie Der Mensch – von Prometheus bis Sartre: ein philosophischer Par-Cours, in: Lingue Antiche e Moderne 2 (2013), 79-104.