Archiv der Kategorie: Realia

Homerische-Frage-und-Epischer-Kyklos

Homerische-Frage-und-Epischer-Kyklos

Die ‚Homerische Frage‘ und der Epische Kyklos

Ausgangssituation … Stichpunkte … offene Lösungsansätze – mps –

 

Bereits zur Person Homers stehen zwei Thesen einander gegenüber:

Abbé d’Aubignac (1604-46): Homer (ὅμηρος = Geisel, Bürge) ist als Person eine Fiktion, eine Kollektivbezeichnung für eine Vielzahl von Rhapsoden [ῥαψ-ῳδός [ἀοιδός] = Wandersänger [vgl. u. oral poetry]), welche „Gedichte Homers“ verbreiteten [→ etwa Volker von Alzey aus dem Nibelungenkreis oder die mittelalterlichen Minstrels].

  1. v. Wilamowitz-Moellendorff († 1928): den antiken, stark legendenhaften Nachrichten über das Leben des Dichters Homer liegt ein historischer Kern zugrunde.

Für uns heute ist Homer (8. Jh. v. Chr.) eine Chiffre als Verfasser dreier Epenkomplexe – der Ilias, der Odyssee und der homerischen Hymnen, von denen letztere sicher nicht von Homer / vom Verfasser der Ilias oder Odyssee stammen.

Aus antiken Notizen lässt sich erschließen, dass Homer (mit ‚bürgerlichem‘ Namen Melesígenes) aus der Gegend von Smyrna (Westküste Lydiens) stammte und an den Fürstenhöfen des westlichen Kleinasien (Ionien) verkehrte; Hauptwirkungsfeld dürfte die Insel Chios gewesen sein, sein Grab soll auf der Kykladeninsel Ios liegen. Die Nachricht von seiner Blindheit ist wohl Legende (vgl. die blinden Sänger Demódokos bei den Phäaken oder Phēmios auf Ithaka).

Erstmals von Gelehrten des ausgehenden 5. vorchristlichen Jahrhunderts (den Chorizónten Xenon und Hellanikos) zur Diskussion gestellt (von Aristarch v. Samothrake [216-144 v. Chr.], dem Schüler und Nachfolger des Aristophanes v. Byzanz als Vorsteher der alexandrinischen Bibliothek und [mit] bedeutendstem alexandrinischen Grammatiker, aber zurückgewiesen und für das weitere Altertum unterdrückt) und vom Abbé d‘ Aubignac (s.o.) in der modernen Philologie erneut vertreten, herrscht heute die Auffassung vor, dass Ilias und Odyssee nicht vom gleichen Dichter stammen: Unterschiede im sozialen Milieu der Handlung (die Ilias spiegelt die Adelsgesellschaft mykenischer Zeit [1600-1200 v. Chr.], die Odyssee die Gesamtgesellschaft der Zeit Homers [8. Jh.]), in der Wesensart der Haupthelden, in der Handlungskonzeption im Großen (die Ilias eine Episode, von welcher aus der gesamte Krieg um Troja betrachtet wird – die Odyssee Erzählung eines linearen Geschehens mit kunstvoller Verflechtung der Handlungsstränge [z.B. Nachreichung von umfangreichen Passagen der Handlung in Form der Ich-Erzählung in den Phäakenbüchern]) wie in den zahlreichen, märchenhaft-novellistischen Elementen der Odyssee im Kleinen, sowie jüngere Stadien der Sprachentwicklung (in Morphologie wie Syntax) in der Odyssee lassen diese als das (um eine Generation?) spätere Werk erscheinen, während der Dichter der Ilias zumeist mit Homer identifiziert wird.

 

Die Homerische Frage: mit diesem Problem verbinden sich verschiedene Theorien zum Zustandekommen der epischen Gedichte Ilias und Odyssee in der uns heute vorliegenden Gestalt:

 

  1. a) Liedertheorie: die Ilias besteht aus vielen einzelnen, dem dichtenden Volksgeist entstammenden und von fahrenden Sängern = Rhapsoden mündlich weitergetragenen Liedern, welche in der Regierungszeit des Peisistratos v. Athen (560-27 v. Chr.) erst schriftlich fixiert, zusammengefügt und redigiert wurden (vgl. Cic. de or. 3, 137: Pisistrati? qui primus Homeri libros confusos antea sic disposuisse dicitur, ut nunc habemus).

 

  1. b) Kompilationstheorie: selbständige Kleinepen (behandelnd etwa die Heim- u. Irrfahrten der Trojakämpfer [Nóstoi – s.u. Epischer Kyklos]) wurden von einem Kompilator (lat. compilare – zusammenraffen; ausbeuten, plündern) oder Redaktor zur Odyssee

 

  1. c) Entwicklungstheorie: Eine Ur-Ilias geringen Umfanges wurde durch Einschübe und Hinzufügungen erweitert. In der Odyssee wäre eine solche denkbare ‚Interpolation‘ die Telemachie. Möglicherweise sind der Verfasser einer Ur-Ilias und einer Ur-Odyssee

 

  1. d) Unitarische Theorie: die Ilias ist das Werk eines Dichters; diese These wird bekräftigt durch die Beobachtung strukturähnlicher Szenen (Heeresversammlung, Botenszenen, Begrüßung / Ansprache o.ä.) in Ilias wie Odyssee, welche auf eine einheitliche Konzeption wie Komposition beider Gedichte jeweils hinweisen (← Strukturanalyse).

 

Der Epische Kyklos: umfasst einen Kreis von weiteren epischen Dichtungen, welche den gesamten Mythos (außer Ilias und Odyssee) von der Entstehung der Welt bis zum Tod des Odysseus behandeln, in einem engeren Sinne allerdings den Sagenkreis um den trojanischen Krieg ergänzen, ausgestalten und abrunden. Zeitlich anzusetzen sind sie wohl zwischen 800 und 500 v. Chr., verschiedene Dichter sind auch namentlich bekannt (Arktinos, Hegesias v. Salamis, Lesches v. Mytilene, Stasinos, Kinaithon u.a.), eine sichere Zuordnung einzelner Werke aber kaum möglich. Erhalten sind uns einzelne Fragmente oder bloße Titel, daneben Testimonien = (längere oder kürzere) Nachrichten jüngerer antiker Autoren aus bzw. über verschiedene Dichtungen, außerdem spätere Bearbeitungen des gleichen Stoffes in Lyrik und Drama sowie in der Bildenden Kunst. Auf trojanischer Seite tritt die Aenéis Vergils – eine Art Odyssee und am Ende auch nóstos (s.u.) des überlebenden Helden und seiner Gefährten – in der römischen Literatur als paralleler Erzählstrang hinzu.

 

Als Sagenkreise sind zu unterscheiden:

  1. a) Göttergeschichte: Theogonie (Hesiod um 700 v. Chr.), Titanomachie (vgl. [Ps.-] Aischylos‘ Prométheus [desmōtes]);

 

  1. b) der thebanische Sagenkreis: Oidipodeía (vgl. Sophokles‘ König Ödipus sowie Ödipus auf Kolōnós), Thébais (Zug der Sieben gegen Theben, vgl. Aischylos; Euripides‘ Phoenissen und Hiketiden, Sophokles‘ Antigone) und Epígonoi (Zug der Söhne der Thebenfahrer [aus Argos] gegen Theben);

 

  1. c) der trojanische vor dem Geschehen der Ilias:

 

  • Kyprien (Vorgeschichte: Hochzeit des Peleus und der Thetis [vgl. Catull, c. 64], Parisurteil, Entführung Helenas, Werbung des Menelaos zum Kriegszug, Ereignisse in Aulis [Iphigenie, vgl. Euripides] und Geschichten aus dem in der Ilias nicht behandelten Kriegsabschnitt (1.-9. Kriegsjahr; vgl. etwa Bakchylides‘ Dithyrambos Die Antenoriden oder Die Rückforderung der Helena);

 

nach dem Geschehen der Ilias:

 

  • Aithíopis: Kampf des Aithiopenfürsten Memnon (Sohn der Eos) gegen Achill, beider Tod, Kampf um Achills Leiche [wie auch später um seine Waffen], seine Bestattung, Selbstmord des Aias (vgl. Sophokles); dazu Kampf Achills mit der Amazonenkönigin Penthesileía (→ Camilla in Vergils Aeneis).
  • Kleine Ilias: Ereignisse nach Hektors Tod bis zur Einnahme Trojas (→ Fortsetzung der Ilias; teilweise inhaltliche Überschneidung mit der Aithíopis).
  • Iliupérsis: Eroberung und Zerstörung Trojas mit Hilfe des Hölzernen Pferdes (vgl. Euripides‘ Hekabe, Troerinnen, Helena, Andromache), Schicksal des Laokoon und Flucht des Aeneas (→ Vergils Aeneis, B. II).
  • Nóstoi: Heimkehr weiterer trojanischer Helden, insbes. Agamemnons Schicksal und Orests Rache (Aischylos‘ Orestie [Agamemnon, Choephoren, Eumeniden]; Sophokles‘ Elektra; Euripides‘ Elektra, Orest, Iphigenie bei den Taurern).
  • Telegonie und Thesprōtis: Schicksale des Odysseus nach seiner Heimkehr – Versöhnung mit Poseidon; Aufeinandertreffen mit (→ Hildebrandslied) und (versehentliche) Ermordung durch seinen Sohn von Kirke = Telegonos, dessen Verbindung mit Penelope und die des Telemach mit Kirke

sowie

Wanderung des Odysseus nach Thesprōtien (NW-Griechenland/Epiros), zweite Ehe und Kampf gegen die Bryger (ursprünglich ein thrakischer Stamm, in W-Makedonien und Illyrien ansässig).

 

  1. d) von den Epen außerhalb des trojanischen und thebanischen Sagenkreises dürften die Argonautiká (vgl. Euripides‘ Medéa), die Herakléis (vgl. Euripides‘ Herakles sowie Sophokles‘ Trachinierinnen) und die Theséis (vgl. Euripides‘ Hippólytos) am bekanntesten sein.

 

Von den obengenannten ist der thebanische Stoff dem der Ilias zeitlich vorgeordnet (unter den Sieben gegen Theben ist Týdeus, der Vater des Trojafahrers Diomédes); auch die Helden der Argonauten- (und Theseus-)Sage gehören einer früheren Generation an als die iliadischen Helden (die Brüder Télamon und Peleus nehmen an der Kalydonischen Jagd wie der Argonautenfahrt teil und sind Väter von Helden vor Troja – Aias bzw. Achill; Philoktet ist Bindeglied: Argonaute und Trojafahrer, vgl. Sophokles. Herakles ist [kurzzeitig] Argonaute, befreit Theseus [gleichfalls Argonaute] nach dessen versuchter Entführung der Persephone aus der Unterwelt; Aigeus, der Vater des Theseus, gewährt Medea Asyl in Athen [← Eur. Medea], Theseus selbst wiederum dem verbannten Greis Oidipus in Attika [→ Soph. Oidipus auf Kolōnós]). Hesíone, die Schwester des Priamos, Sohnes des (dritten) trojanischen Gründerkönigs Laómedon, heiratet Telamon, Bruder des Peleus (= Achills Vater) und Vater des großen Aias → damit ist Priamos als Vater von Hektor und Paris zugleich Onkel von Achill und Aias und sind mithin die führenden Kämpfer auf griechischer wie trojanischer Seite Cousins. Über die gleiche Linie (Laomedons Schwester Themis – vgl. in der Aeneis die Bezeichnung Laomedóntia pubes für die nach der Zerstörung verbliebenen Trojaner) ist Priamos Vetter des Anchises und Großcousin (sowie durch seine Tochter Kreüsa Schwiegervater) des Aeneas. Dessen Sohn Askánios = Iulus wiederum wird über die Königsliste von Alba Longa (in Latium) und darauf Romulus und Remus Gründungsahne von Roma aeterna und Namensgeber aller Iulier = der gens Iulia (→ das sidus Iulum im Unterweltsbuch von Vergils Aeneis).

 

Literarisch stehen die Dichtungen des Kyklos der Ilias und Odyssee – natürlich in unterschiedlichem Maße – recht nahe; allerdings ging bei ihnen (nach dem Urteil der Antike) das Streben nach stofflicher Vollständigkeit und Abrundung der homerischen Epen offenbar auf Kosten der künstlerischen Gesamtkomposition.

 

Oral Poetry (begründet von Milman Parry 1928 ff.): eine feste Tradition der soeben angesprochenen mythischen Erzählkomplexe reicht bis in das 14. vorchristliche Jahrhundert, in mykenische Zeit (die homerischen Epen geben ja gleichfalls ein Bild der Adelsgesellschaft dieser Zeit, auch für Homer selbst also bereits ‚Geschichte‘, Vergangenheit) und damit in eine Epoche der Nicht-Schriftlichkeit zurück.

Homers Leistung besteht nun darin, dass er einerseits den mündlich gebundenen Überlieferungsstand seiner eigenen Zeit mit Hilfe des (spätestens) zu Beginn des 8. Jh. von den Phöniziern übernommenen Alphabets festgehalten hat, andererseits aber den chronologisch fortschreitenden Erzählaufbau durch eine Komposition ersetzt, welche von einem Leitmotiv (Zorn des Haupthelden; Irrfahrten) aus ein umfassenderes Geschehen (Krieg um Troja; Heimkehr des Odysseus) darstellt.

  1. a) Formeln, stehende Wendungen, zu wiederholende Verse sind unverzichtbare Hilfsmittel des Extemporierens, des (weiterhin improvisierend-kreativen) mündlichen Vortrages aus dem Gedächtnis.
  2. b) Kunstvolle Verflechtungen der Handlungsanlage (Rückblicke in Form der Ich- oder Botenerzählung, Schauplatzwechsel mit Überleitungen, Hintergrunderzählungen), Zentrierung der Geschehnisse auf ein Leitmotiv, vielfältige Bezüge und Anspielungen kennzeichnen ein Dichten, welches ohne Schriftlichkeit nicht mehr

Homer‘ hat Ende des 8. Jh. v. Chr. einzelne, umfangmäßig begrenzte Stränge vorgefundener, mündlich tradierter Volksdichtung unter dem von ihm angestrebten Kompositionsprinzip zu einem (umfangreichen und) großangelegten Ganzen, der Ilias, schriftlich zusammengefügt, wobei unsicher bleiben muss, welche Bestandteile er umlaufender oral poetry entnommen und welche er selbst (hinzu-)gedichtet hat.

Eine analoge Abfassungsgeschichte mit einem (wenig) jüngeren Dichter aus dem Umfeld Homers ist für die Odyssee anzunehmen; und in die gleiche ‚homerische Schule‘ gehören schließlich auch die sogenannten Homerischen Hymnen, Preislieder auf olympische Götter (mit Episoden aus ihrem Leben) und auf Heroen und Halbgötter unter Verwendung von Charakteristika der homerischen Großepen (Sprache, Formeln) seit dem 7. Jh. v. Chr.

Vergils-Aeneis-und-der-Epische-Kyklos

Vergils-Aeneis-und-der-Epische-Kyklos

Vergils Aeneis – zwischen Weltdeutung des Epischen Kyklos und Römischem Nationalepos

von: Michael P. Schmude

 

Auf den ersten Blick verlaufen in Vergils Aeneis zwei – voneinander getrennte – epische Erzählstränge:

  • In der ersten Hälfte zeigt sich der Hauptheld als Umherirrender, als Heimat Suchender – Aeneas als Odysseus ? → Homers Odyssee
  • In der zweiten Hälfte zeigt sich der Hauptheld als Neuansässiger, als Eroberer – Aeneas als Achilleus ? → Homers Ilias
  • Im Ganzen ist die Aeneis die Geschichte des Troianers Aeneas und seiner Gefährten, die nach der Zerstörung ihrer Heimatstadt (im NW Kleinasiens) durch die versammelten Griechen über die Ägäis, das Ionische und das Tyrrhenische Meer auf der Suche nach der Heimat ihrer Vorfahren schließlich in Latium (an der Tibermündung) anlanden, um dort von Neuem ihre Stadt zu erbauen. Aus dieser soll (über die ‚Zwischenstation‘ Alba Longa) einmal Rom, das künftige caput mundi, hervorgehen.

 

Zur eigentlichen Präsentation im Ganzen → Innenseite

 

Anmerkungen zu den Folien der Präsentation

Die Aeneis und ihr Autor (a)

Enteignungen durch Octavian für seine Veteranen nach der Schlacht (Sept./Okt. 42 v. Chr.) bei Philippi (im Osten Makedoniens) gegen die Caesarmörder (Brutus, Cassius).

Vergilius Maro, geboren in dem Ort Andes bei Mantua, Eltern einfache, aber vermögend gewordene Landleute (Vater Töpfer). Umfassende Ausbildung in Rhetorik und Philosophie (Cremona, Mailand, Rom), insbesondere bei dem Epikureer Siron in Neapel.

Der Maecenas-Kreis ist eine Art literarischer Zirkel / Salon, ein Kreis von Dichtern: am bekanntesten Vergil und Horaz (den Vergil dort einführt [sat. 1, 6, 54 f.] und dem Maecenas ein Landgut schenkt).

[C. Cilnius Maecenas, 70-8 v. Chr., aus der etruskischen Stadt Arretium, Diplomat und Vertrauter des Augustus sowie bei Abwesenheit dessen Stellvertreter in Rom].

Augustus bittet den Dichter um ein Nationalepos für die Römer, und Vergil kommt diesem Anliegen – nicht ohne Zögern, aber durchaus auch aus eigener Überzeugung –  schließlich nach. Dies bring ihm bis heute von mancher Seite den Vorwurf ein, ein augusteischer Hofdichter zu sein. Vergil soll testamentarisch die Verbrennung der – noch nicht vollendeten – Aeneis verfügt haben, was Augustus aber verhindert haben soll (Plin. NH 7, 14).

Hermann Broch: Der Tod des Vergil (New York 1945).

 

Die Aeneis und ihr Autor (b)

Die Bucolica, 10 kurze Gedichte (= Eclogae) mit im Ganzen 829 vv., fußen auf der Hirtendichtung des Theokrit (3. Jh. v. Chr., aus Syrakus) und spielen mit Themen einer idealisierten Hirtenwelt in einer idealen Landschaft aus dem Sizilien des hellenistischen Dichters, aus der ‚geistigen‘ Dichterregion Arkadien und dem Oberitalien Vergils.

Die Georgica behandeln in vier Büchern B. 1: Ackerbau und Wetterkunde, B. 2 die Baumzucht (Olivenbaum und Weinstock), B. 3 die Haustierzucht und B. 4 die Welt der Bienen (bewusst übergangen hier [4, 116-48] der Gartenbau → [Lucius Iunius Moderatus] Columella [1. Jh. n. Chr.], 12 Bücher De re rustica [nach 64] B. 10).

 

Die Aeneis und ihr Narrativ (a)

Buch 1: Kurz nach ihrer Abfahrt von Sizilien gerät die Flotte des Aeneas in einen verheerenden, von Iuno bei dem Windgott Aiolos erwirkten Seesturm, welcher sie an die Küste Nordafrikas  zerstreut und verschlägt. Aeneas rettet sich in eine Bucht an der Küste Libyens.

Wechsel der Erzählebene: auf dem Olymp Zwiegespräch zwischen Venus und Iuppiter: dieser verspricht die Gründung einer Stadt in der Nachfolge Hektors – und Rom die künftige Weltherrschaft.

Ankunft des Aeneas (von seiner Mutter in einer Wolke verhüllt) in Karthago; im gerade erstehenden Tempel der Iuno sieht er sich mit Darstellungen der Geschehnisse vor Troia (u.a. Tod Hektors; Penthesileia → Aithiopis) konfrontiert (→ Odysseus durch den Sänger Demodokos bei den Phaiaken).

Zusammentreffen mit Dido, welche die Troianer willkommen heißt und ihre Fürsten zum Gastmahl in ihren Palast lädt. Dort beginnt Aeneas seine Erzählungen (und Dido, sich – unter Mitwirkung der Venus – in den Anführer der Troianer zu verlieben …).

Buch 4: Iuno und Venus sorgen jetzt gemeinsam dafür, dass sich die Königin endgültig in Aeneas verliebt, und es kommt zu einem eheähnlichen Miteinander samt gemeinsamem Weiterbau von Karthago. Es bedarf eines ‚Machtwortes‘ Iuppiters über seinen Boten Hermes, um Aeneas an dessen eigentlichen Auftrag, seine fata zu erinnern … Dieser setzt, obwohl von Dido zur Rede gestellt, die Flotte wieder Richtung Sizilien und Italien in Bewegung. Dido verwünscht ihn und stürzt sie sich ob des – für sie – Treuebruchs in Schwert und Scheiterhaufen.

 

Die Aeneis und ihr Narrativ (b)

Buch 6: Eingegliedert in die Unterwelt sind der Tartaros (→ Hölle) für die exemplarischen Verbrecher) wie das Elysium (→ Paradies) für die vorbildhaften Menschen wie Aeneas‘ Vater Anchises.

Aeneas trifft in der Unterwelt wieder auf Dido wie Odysseus in der Nekyia auf seinen alten Widersacher Aias (Streit um die Waffen Achills und Selbstmord des Aias nach seiner Niederlage gegen Odysseus ← Aithiopis) . Beide Begegnungen verlaufen unversöhnlich.

Anchises führt und erläutert – im Zusammenspiel mit der stoischen Lehre von der Seelenwanderung – seinem Sohn die ‚Heldenschau‘, die ‚Parade‘ prominenter Figuren der Römischen Geschichte – gipfelnd in den Vertretern der gens Iulia, dem Geschlecht von Caesar und Augustus.

Buch 7: Landung in der Tibermündung – das Tisch-Prodigium bestätigt Latium als das vorherbestimmte Land der Heimkehr (116-29).  Eine Gesandtschaft der Troianer an den ortsansässigen König Latinus führt sogleich zu gastfreundlichem Empfang und Bündnisangebot (gemeinsamer Ahnherr Dardanus / Latinus bietet – seinen fata entsprechend – Aeneas seine Tochter zur Ehe an).

Gegenaktion der Iuno:  mittels der Furie Allecto  treibt sie die Königinmutter Amata  und den Rutulerfürsten Turnus zur Feindschaft gegen die Troianer. Aufmarsch der latinischen ‚Völker‘  (641 ff.) zum Bündnis gegen die Ankömmlinge (← Schiffskatalog in Buch 2, 484 ff. der Ilias).

Buch 8: Anfangs der Fahrt tiberaufwärts zu Euander markiert das Sau-Prodigium (42-48; 81-85) den Ort für die Neugründung der Stadt (Alba Longa). Aeneas erhält durch seine Mutter eine neue Waffenrüstung von Vulcanus – die Schildbeschreibung zeigt ein Panorama römischer Geschichte ← so in der Ilias die neuen Waffen für Achill durch seine Mutter Thetis von Hephaistos, nachdem Patroklos (in der Rüstung Achills) von Hektor erschlagen worden war (Buch 18, 468 ff./19, 3 -18).

 

Die Aeneis und ihr Narrativ (c)

Buch 9: der Ausbruchsversuch des Nisus und Euryalus aus dem – während der Abwesenheit  des Aeneas – von Turnus bedrängten Lager der  Troianer endet in einem Blutbad unter den Rutulern und mit dem Tod der beiden Jungen ← in B. 10 der Ilias führt die Dolonie des Odysseus und Diomedes zu einem Blutbad unter dem Gefolge des thrakischen Königs Rhesos.

Buch 10: der junge Pallas, Sohn des Arkaderkönigs Euander, fällt im Kampf gegen Turnus, der ihm sein Wehrgehenk raubt (495-502) – dies wird der Anlass zum Todesstoß des Aeneas im finalen Zweikampf 12, 939 ff. ← Rache des Achill an Hektor (Ilias B. 22) für die Tötung und Spoliierung seines jungen Freundes und Cousins Patroklos  (Ende B. 16 / Anfang B. 17).  Aeneas tötet den vertriebenen Etruskerkönig Mezentius und dessen Sohn Lausus (762 ff.)

Buch 11: Camilla, die kriegerische Königin der Volsker, wird als Anführerin der latinischen Reiterei von dem Etrusker Arruns mit einem Pfeilschuss  getötet ← in der Aithiopis die Amazonenkönigin Penthesileia (auf Seiten der Troianer), von Achill getötet, der sich beim Anblick ihres Leichnams in sie verliebt  und von dem hässlichen Zänker Thersites dafür verspottet wird (er tötet diesen auf der Stelle).

Buch 12: auch wenn Iuno Friedensvereinbarungen hintertreibt [die Abmachung zum Zweikampf Turnus – Aeneas wird durch den Lanzenwurf des rutulischen Auguren Tolumnius gebrochen (258 ff.) ←  Il. 4, 85 ff. Bruch der Eide durch den Pfeilschuss des Troers Pandaros] und die Quellnymphe Iuturna, Schwester des Turnus, diesen wiederholt (in Gestalt seines Wagenlenkers) der Entscheidung entzieht, kommt es – nach einem letzten Gespräch zwi-schen Iuppiter und Iuno auf der Götterebene, welches Iuno zur Schutzgottheit des neuen, vereinten Ausonischen Geschlechtes macht (791-841) – zum Zweikampf, nach welchem Aeneas – unter dem Eindruck des geraubten Wehrgehenks des Pallas (947-49) – Turnus tötet.

 

Die Aeneis und Homer (a)

Buch 3: Verschiedene Orakel und Vorzeichen – in Thrakien (Leichnam des vom Thrakerkönig Polymestor ermordeten Priamossohnes Polydoros). Auf Delos (das Orakel weist sie ins Land ihrer Ahnen: Anchises deutet es fehl als Kreta, woher Teukros, Schwiegervater des Dardanus, stamme; eine Seuche vertreibt sie). Die Penaten erscheinen Aeneas im Schlaf und weisen auf Hesperien (woher Dardanus, der Vater des Ilus, Gründers von Troia, stamme). Bei den Strophaden (Inselgruppe im Ionischen Meer, wo die Harpyien hausen) weist die Harpyie Celaeno auf das Tisch-Prodigium (7, 116-29) voraus. In Actium begründen sie troianische Sportwettkämpfe. In Buthrotum (Epirus) bestätigt Helenos (Sohn des Priamos und unterdessen mit Andromache, Hektors Witwe, verbunden) Italien als Ziel und weist auf das Sau-Prodigium (Ara Pacis – 8, 81-85) als Ort der Stadtgründung voraus, warnt vor den Griechen an Italiens Ostküste [→ Diomedes: 11, 252-93, insbes. 285-87] sowie vor Skylla und Charybdis in der Meerenge von Messina [← Odysseus Od. 12, 222—59]: deswegen solle er westlich um Sizilien herum an die Westküste Italiens nach Cumae (südlich von Neapel) fahren.

Auf Sizilien, im Schatten des Ätna, nehmen sie einen Gefährten des Odysseus (Achaemenides) auf, den dieser auf seiner Flucht vor dem Kyklopen Polyphem zurückgelassen hat

 

Die Aeneis und Homer (b)

[Aufsatz] Homerische Motive in Vergils Aeneis,

in: Der Altsprachliche Unterricht  49, 2+3 (2006), S. 104–107.

Vergil sucht auf Schritt und Tritt die Anbindung an Homer – um es dann sogleich ‚anders‘ zu machen, zwei markante und aussagekräftige Beispiele:

  • Die Skylla-und-Charybdis-Episode aus B. 11 der Odyssee kommt auch bei Vergil vor: doch Aeneas fährt (B. 3), von seinem Schwager Helenos gewarnt, eben nicht durch die Meerenge von Messina – eigentlich der kürzere Weg ins verheißene Westitalien – , sondern entgeht ihnen (sieht sie auf der Fahrt von ferne) durch den Umweg um Sizilien herum.
  • Auch zum Kyklopen-Abenteuer des Odysseus (B. 9 der Odyssee) – für die Aeneis-Handlung völlig irrelevant – knüpft Vergil einen Seitenstrang: auf Sizilien (B. 3) nehmen sie einen Gefährten des Odysseus, der bei der überstürzten Fluch von der Insel Polyphems dort zurückgeblieben war, dauerhaft bei sich auf.

[Versuch einer Einigung durch den Zweikampf der Hauptbetroffenen statt durch den Krieg der Heere:

  • Das vereinbarte (Il. 3, 245-325) Aufeinandertreffen  Menelaos – Paris wird von Aphrodite ‚beendet‘ (380-82); Il. 4, 85 ff. dann Bruch der Eide durch den Pfeilschuss (124-26) des Troers Pandaros (Athene). Für die Ilias bleibt dies Episode. Das Duell zwischen Achill und Hektor folgt persönlichen Motiven (Patroklos) und beendet Nichts; der Krieg um Troia findet seinen Abschluss erst  mittels der List des Odysseus.
  • Die Vereinbarung zum Zweikampf Turnus – Aeneas  (Aen. 12, 75-80 /116 ff.) wird durch den Lanzenwurf des rutulischen Auguren Tolumnius (266-68) gebrochen, das finale Aufeinandertreffen der beiden aber nurmehr (durch Iuno-Iuturna) verzögert. Die Aeneis  kommt mit dem Duell der beiden Fürsten zu ihrem Abschluss.]

 

Die Aeneis im Rahmen des Epischen Kyklos

  • Der fatalen Heimkehr des Agamemnon (← Iphigenie in Aulis) und der troischen Seherin Kassandra hat der Tragiker Aischylos eine Trilogie (AgamemnonChoephorenEumeniden) gewidmet, die Orestie.
  • Diomedes kehrte zwar unversehrt in seine Heimat Argos zurück, wurde aber nach längeren Thronwirren von dort verbannt und wanderte mit seinen Gefolgsleuten in das südöstliche Italien aus und gründete in Apulien die Stadt Argyrippa (Arpi). Dem Turnus verweigert er auf Anfrage seine Unterstützung gegen Aeneas (11, 285-93 „… wenn es außerdem zwei solche gegeben hätte …“).
  • Die Odyssee des Odysseus ist der Nostos schlechthin … an Umfang wie märchenhaft-tragischem Gehalt.
  • Aeneas – auch die Aeneis ist ein Nostos → Dardanus …

 

Die Aeneis als Römisches Epos

  • Götterszene: Werdegang der Aeneas – Ascanius – Romulus – Augustus, mündend in ein grenzenloses Friedensreich.
  • Unterweltsbuch: Heldenschau von den Königen Alba Longas bis zu Augustus und dessen früh gestorbenem Wunschnachfolger Marcellus.
  • Schildbeschreibung: das kommende Schicksal des römischen Volkes – Szenen von Romulus und Remus mit der Wölfin bis zum Triumph des Augustus nach der Seeschlacht von Actium (← Schild des Achill Il. 18, 482-608) – auf den Schultern des Aeneas.

 

Aeneas und ‚seine‘ Troianer als erste Flüchtlinge und Migranten (a)

[Vortrag] Fremdheit und Migration in Homers Odyssee und Vergils Aeneis,

in: Lingue Antiche e Moderne 10 (2021), S. 19-39.

Die Königin des gerade erstehenden Karthago (Neu-stadt, wie das griechische Néa-pólis, heute Neapel), Dido, mit eigenständigem Migrationshintergrund, nimmt den (durchaus nicht unbekannten) Ankömmlingen gleich zu Beginn die Furcht vor den – notwendigen – Grenzsicherungsmaßnahmen.

Erkennbare Motive der Aufnehmenden sind die Prominenz der Flüchtlinge, Mitgefühl, nicht zuletzt die Aussicht auf Bündniszuwachs. Um das gemeinsame Flüchtlingsschicksal weiß Aeneas von seiner Mutter, Dido lässt es anklingen.

[Die Liebe der infelix, der unglücklichen Dido, zum Troianerfürsten wird – tragisch und gesteuert allerdings von außen – in der Folge hinzukommen …].

 

Aeneas und ‚seine‘ Troianer als erste Flüchtlinge und Migranten (b)

Auch in Latium wendet sich – gegenüber einer ordnungsgemäß diplomatischen Delegation der Aeneaden – der ortsansässige König Latinus gastfreundlich und verständnisvoll den hilfesuchenden und vom Hörensagen angekündigten Neuankömmlingen aus einem fernen Land zu. Einer der Gründerväter Troias, Dardanus, war von eben hier zu seiner Wanderung ins kleinasiatische Phrygien aufgebrochen.

Und es ist eigener Antrieb (sponte suā), welcher die Latiner die Fremdlinge aufnehmen lässt, noch nicht einmal gesetzlich geregeltes Gastrecht, sondern alter Götterbrauch (Saturnus [griech. Kronos] ist der Gottkönig des Goldenen Zeitalters in Italien), an welchen das uralte Geschlecht sich gebunden fühlt.

Den Ausschlag für den König gibt freilich die Rückbesinnung auf ein vormaliges Orakel seines Vaters Faunus, welcher ihm einen Schwiegersohn aus fernem Lande angekündigt hatte und aus der Verbindung seiner Tochter Lavinia mit diesem eine mächtige, weltbeherrschende Nachkommenschaft: es sind also in der Aeneis Vergils stets bereits auch politische – im heutigen Wortsinne – Motive mit ihm Spiel …