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Flucht-Fremdheit-und-Migration-in-Vergils-Aeneis-und-Homers-Odyssee

Flucht-Fremdheit-und-Migration-in-Vergils-Aeneis-und-Homers-Odyssee

Flucht, Fremdheit und Migration

in Homers Odyssee und Vergils Aeneis

von Michael P. Schmude, Lahnstein / Vallendar

in: Herausforderung Menschenwürde – Anthropologie und Humanwissenschaften im Diskurs, hg. von I. Proft und F. v. Heereman (Ostfildern [Grünewald-Verlag] 2021) [Ethische Herausforderungen in Medizin und Pflege, Bd. 10], S. 13-32.

 

Migration und Wanderung schon zu Beginn der Antike, aus einer Zeit der Geschichte, die für Heutige nur mehr in Umrissen greifbar ist: die prominentesten – nicht einzigen – Migranten des Epischen Kyklos – Odysseus und Aeneas – , ihre Schicksale und Erlebnisse, ihre Vertreibung und ihre Irrfahrt, ihre Aufnahme und Abweisung sollen hier anhand ausgewählter Texte aus Homers Odyssee wie Vergils Aeneis auftreten.

Zwei Anführer auf dem Weg zu ihrem Bestimmungsort – zur gegenwärtigen, aber verlorengegangenen Heimat, die es neu zu erobern gilt, Odysseus (wir sprechen von Ithaka, einer Insel vor der Westküste Griechenlands), zur einstigen Heimat der Vorfahren, die neu gefunden werden muss, Aeneas (gemeint Latium, Landschaft und Umgebung des heutigen Rom). In der Odyssee sind die Zwischenstationen lediglich Durchgangsstationen nach eben Ithaka selbst; in der Aeneis wollen die Flüchtlinge an ihren jeweiligen Ankunftsorten zumindest zeitweilig auch zur Ansiedlung aufgenommen werden.

Odysseus, der ‚Vielgewandte‘, hat ein intaktes gesellschaftliches Umfeld, seine Heimat, verlassen, in welche nach Wunsch zurückzukehren ihm unterwegs wie am Ende der Reise – zudem unter Verlust all seiner Gefährten – zunächst und lange verwehrt bleibt.

Pater Aeneas, der ‚pius Aeneas, flieht aus einem vernichteten sozialen Gefüge, dem zerstörten Troia, mit dem göttergegebenen Auftrag, für sich und eine Kerngruppe Überlebender den Platz für eine Neuansiedlung und bessere Zukunft zu finden.

Zielsetzung dieser Darlegungen ist ein Panorama unterschiedlicher Sichtweisen auf Umstände und Situationen, in welche der Fremde, Flüchtende oder Irrende auf der Suche nach Heimat, Zuflucht oder Ruhestätte geraten konnte, suchend wie getrieben, selbstbestimmt wie von Übermächten verschlagen.

Die Thematik könnte aktueller nicht sein: sowohl die Ausgangssituation vor Troia – Heimatland des Einen (Aeneas), Wirkungsstätte des Anderen (Odysseus) während der Blütezeit seines Lebens – wie auch der erstrebte Ort des Neubeginns – tatsächlich neue Heimat des Einen (Aeneas), wiederzugewinnende vormalige des Anderen (Odysseus) – weisen verblüffende Parallelen zu und Gemeinsamkeiten mit Ausgangssituationen moderner Flüchtlingsschicksale auf, und hieraus entwickelt sich leitmotivisch der Rote Faden für die Textauswahl.

Dabei liegt es auf der Hand, dass in diesem Rahmen keine auch nur annäherungsweise Behandlung der jahrhundertelangen Migrationsbewegungen im gesamteuropäischen Raum gegeben werden kann, so wenig wie eine solche der Flüchtlingsproblematik zurückliegender Jahre. – An dieser Stelle sei zu ‚Flucht und Vertreibung‘ im weiteren antiken Umfeld, namentlich des biblischen Schrifttums hingewiesen noch auf den Exodus des Volkes Israel in den Mose-Büchern des AT oder auf die Flucht der ‚Heiligen Familie‘ als Reaktion auf den berüchtigten ‚Kindermord‘ des Herodes (Mt 2, 13 ff.) im NT.

 

Die Konstellation der Geschichte mutet sonderbar vertraut an: eine blühende Metropole wird – aus einer politisch gewollten Kombination vorgeschobener und wahrer Gründe – zerstört, geplündert, niedergebrannt, ihre männlichen Einwohner massakriert, die weiblichen einer ihrer nicht gemäßen Bestimmung zugeführt; einer kleinen Schar begünstigter Überlebender gelingt auf abenteuerliche Weise die Flucht auf eine ‚Reise‘ ins Ungewisse … soweit aus dem Epischen Kyklos, einem Kranz von Dichtungen, welche den Sagenkreis um den Trojanischen Krieg ergänzen, ausgestalten, abrunden und wohl zwischen 800 und 500 v. Chr. entstanden sind, wohlbekannt. Die Irrfahrten erstrecken sich über ein Meer, welches seinerzeit die Oikūménē Gē miteinander verband und auch in heutiger Zeit wieder zu einem Schicksalsmeer zwischen drei Kontinenten geworden ist, das mare nostrum im eigentlichen Wortsinne …

Wir reden hier zunächst von Aeneas und seinen troianischen Schicksalsgenossinnen und –genossen. In einem odysseischen Kontext treten sie nach ihrer Flucht aus dem brennenden Ilion (dem Burgberg der Stadt Troia) in unseren Gesichtskreis, vor der Küste des heutigen Tunesien. Dort finden nach einem verheerenden (gottgewirkten) Seesturm (Vergil, Aeneis Buch I) die schiffbrüchigen Flüchtlinge, welche zunächst führerlos und von allen Booten ausgesandt in die Stadt (nordöstlich des heutigen Tunis) strömen, zum ersten Mal eine gast- und freundschaftliche Aufnahme – die Königin des gerade erstehenden Karthago (Neu-stadt, wie das griechische Néa-pólis, heute Neapel), Dido, mit eigenständigem Migrationshintergrund, nimmt den (durchaus nicht unbekannten) Ankömmlingen gleich zu Beginn die Furcht vor den – notwendigen – Grenzsicherungsmaßnahmen:

„Solvite corde metum, Teucri, secludite curas.

 

res dura et regni novitas me talia cogunt

moliri et late finīs custode tueri. (564)

 

Quis genus Aeneadum, quis Troiae nesciat urbem,

virtutesque virosque aut tanti incendia belli ?

 

Non obtusa adeo gestamus pectora Poeni,

nec tam aversus equos Tyria Sol iungit ab urbe.

 

 

 

Seu vos Hesperiam magnam Saturniaque arva,

 

sive Erycis finis regemque optatis Acesten, (570)

auxilio tutos dimittam opibusque iuvabo.

 

Voltis et his mecum pariter considere regnis ?

urbem quam statuo vestra est, subducite navis;

Tros Tyriusque mihi nullo discrimine agetur.“

„Löst vom Herzen die Furcht, Teukrer [Teukros – Stammvater der Troianer], verbannt die

Sorgen. Das harte Los und die [ungewohnte] Neuheit

der Herrschaft zwingen mich, Solches in Gang zu setzen

und weithin die Grenzen durch Wachen zu schützen.

Wer kennt nicht das Geschlecht der Aeneaden, wer kennt

nicht die Stadt Troia, Heldentaten und Männer, oder die

Feuersbrunst eines so gewaltigen Krieges ?

Nicht so abgestumpft sind wir Punier im Herzen,

und nicht so abgewandt von der tyrischen Stadt [Tyros an der Küste des heutigen Libanon – alte Hauptstadt der Phönizier = lat. Poeni, Punier]

spannt Sol [der Sonnengott] seine Rosse an.

Ob ihr das weite Hesperien [Abendland, Westen] und

Saturnische Gefilde [Italien/Latium] anstrebt,

ob das Gebiet des Eryx [Berg, NW-Küste Siziliens] und

den König Akestes, sicher unter [meinem] Schutze werde

ich euch aussenden und mit meinen Mitteln helfen.

Wollt ihr euch aber mit mir zugleich in diesem Reiche

niederlassen ? Die Stadt, die ich baue, ist Eure, zieht die

Schiffe an Land; Troer wie Tyrer wird von mir ohne

Unterschied behandelt werden.“

 

Dieses Bekenntnis der Königin löst den Auftritt des Göttersprosses aus, der von seiner Mutter, der (Liebes-)Göttin Venus, bisher in einer Wolke verborgen und jetzt verjüngt und ‚veredelt‘ worden ist – für Schützlinge homerischer Gottheiten ein Wandermotiv, welches wir in beiden ‚Richtungen‘ immer wieder auch bei Odysseus (s.u.) antreffen. Jedenfalls ermöglicht es ein von wechselseitigem Respekt wie Ehrfurcht gleichermaßen getragenes Zusammentreffen Beider. Was folgt, ist die großzügige Versorgung der Troianer bei den Schiffen mit allem Notwendigen sowie die Ehrung ihrer Vornehmen durch ein festliches Bankett im Königspalast, auf welchem Aeneas seine und der Seinen Odyssee seit ihrem fatalen Umgang mit dem Hölzernen Pferd vor Troia erzählt (Aeneis Bücher II und III).

Erkennbare Motive der Aufnehmenden sind die Prominenz der Flüchtlinge, Mitgefühl, nicht zuletzt die Aussicht auf Bündniszuwachs. Um das gemeinsame Flüchtlingsschicksal weiß Aeneas von seiner Mutter, Dido lässt es anklingen. Die Liebe der infelix, der unglücklichen Dido, zum Troianerfürsten kommt – tragisch und gesteuert allerdings von außen – in der Folge hinzu … Doch die Aufgenommenen werden weiterziehen – nicht, weil sie in Karthago nicht bleiben wollten, es ihnen dort (gefühlt oder tatsächlich) nicht gut genug erginge, sondern weil sie ihrem Fürsten an einen anderen Ort folgen müssen – die fata, die göttlichen Bestimmungen, die auf die Gründung des kommenden caput mundi, Roms abzielen …

Nach einem dramatischen Abschied aus Karthago (Aeneis Buch IV), welcher – samt Fluch – Grundlage für eine kommende Erbfeindschaft (und deren historischen Niederschlag in den Punischen Kriegen des 3. Jh. v. Chr.) sein wird, segeln die Migranten von ihrem sicheren Erstaufnahmeland in Nordafrika aus Richtung Italien, dem verheißenen Land ihrer Väter, welches sie auch ungefährdet erreichen sollen – bis auf den Steuermann Palinurus: er ist das Opfer, das Neptun für die sichere Fahrt zur Tiber-Mündung (nachmals Ostia) verlangt.

Zuvor allerdings legen sie noch einen Zwischenstopp auf Sizilien ein (Aeneis Buch V): dort tritt Akestes, der Sohn einer troianischen Mutter, namentlich an der Westküste (Drepanum) als König hervor, empfängt und versorgt seine Landsleute freudig. Schon der Alte Ilioneus hatte die Meerenge von Sizilien in seiner flehentlichen Ansprache an Dido in Karthago als vormaliges wie auch wieder künftiges Anlaufziel der Flüchtlinge benannt (auch Dido selbst spricht davon). Zugleich richtet Akestes die Feierlichkeiten zu Ehren des zuvor (zum Abschluss von Buch III) verstorbenen und hier begrabenen Vaters des Aeneas, Anchises mit aus. Am Ende bleiben die Reise- und Kampfesmüden, Greise und Schwache, angeführt von den Müttern auf der Insel zurück, um hier unter seinem Patronat die Stadt Akeste, ein neues Troia, zu erbauen – einmal mehr freilich auf überirdisches Betreiben hin, die Göttermutter Iuno … (sie stiftet eine Sprecherin der Mütter an 620 ff., die Flotte des Aeneas in Brand zu setzen).

Anschließend also in Italien, am Strand von Cumae (in der Nähe des heutigen Neapel) gelandet, muss Aeneas wie weiland Odysseus zunächst der Unterwelt (Aeneis Buch VI) einen Orientierungsbesuch abstatten, bevor (Buch VII) zeichengestützt (116-129; angekündigt von der Harpye Kelaeno III 255-257 und Helenos III 388-395) Latium als Ort dauerhafter Ansiedlung sowie später der Platz für die Gründung der neuen Stadt feststeht. Und auch dort wendet sich – gegenüber einer ordnungsgemäß diplomatischen Delegation der Aeneaden – der ortsansässige König Latinus gastfreundlich und verständnisvoll den hilfesuchenden und vom Hörensagen angekündigten Neuankömmlingen aus einem fernen Land zu. Einer der Gründerväter Troias, Dardanus, war von eben hier zu seiner Wanderung ins kleinasiatische Phrygien aufgebrochen:

„dicite, Dardanidae [neque enim nescimus et urbem (195)

et genus, auditique advertitis aequore cursum],

quid petitis? quae causa rates aut cuius egentīs

litus ad Ausonium tot per vada caerula vexit ?

 

sive errore viae seu tempestatibus acti,

qualia multa mari nautae patiuntur in alto, (200)

fluminis intrastis ripas portuque sedetis,

ne fugite hospitium, neve ignorate Latinos

Saturni gentem haud vinclo nec legibus aequam,

sponte sua veterisque dei se more tenentem.

 

atque equidem memini [fama est obscurior annis] (205)

Auruncos ita ferre senes, his ortus ut agris

 

Dardanus Idaeas Phrygiae penetrarit ad urbes

Threiciamque Samum, quae nunc Samothracia fertur.“

„Sprecht, Dardaner [denn wir kennen sehr wohl eure Stadt wie euer Geschlecht, angekündigt

lenkt ihr eure Fahrt auf der See hierhin],

Was wünscht ihr ? Welcher Grund hat die Schiffe oder

welches Bedürfnis durch so viele tiefblaue Meere

an den Strand Ausoniens [= Italiens] gebracht ?

Ob ihr euch im Wege geirrt habt, ob von Unwettern

getrieben, wie es vielfach auf hoher See die Schiffer erleben,

ihr die Ufer des Flusses betreten habt und im Hafen euch

niederlasst: flieht nicht die Gastfreundschaft, verkennt nicht

die Latiner, den Stamm des Saturn, der gerecht nicht durch

Schranke oder Gesetz, sondern aus eigenem Antrieb und

nach der Sitte des altehrwürdigen Gottes sich treu bleibt.

Und auch ich jedenfalls erinnere mich [die Nachricht verblasst mit den Jahren]

dass Aurunkische [Stamm der Ausoner] Greise so

erzählten, wie Dardanus in dieser Gegend geboren zu den

Städten Phrygiens am Ida [Gebirge in der kleinasiatischen Troas] gelangt sei und nach Samos in Thrakien, welches jetzt Samothrake genannt wird“ [insula in der nordöstlichen Ägais]

 

Und es ist eigener Antrieb (sponte suā), welcher die Latiner die Fremdlinge aufnehmen lässt, noch nicht einmal gesetzlich geregeltes Gastrecht, sondern alter Götterbrauch (Saturnus [griech. Kronos] ist der Gottkönig des Goldenen Zeitalters in Italien), an welchen das uralte Geschlecht sich gebunden fühlt. Die Troianer können entgegnen mit der Aussicht auf Ruhm für solche Verdienste (231 f.), auf sich selbst als andernorts durchaus begehrte Verbündete und auch ihrerseits mit dem Verweis auf den gemeinsamen Urvater Dardanus. Die üblichen Gastgeschenke kommen hinzu.

Den Ausschlag für den König gibt freilich die Rückbesinnung auf ein vormaliges Orakel seines Vaters Faunus, welcher ihm einen Schwiegersohn aus fernem Lande angekündigt hatte und aus der Verbindung seiner Tochter Lavinia mit diesem eine mächtige, weltbeherrschende Nachkommenschaft: es sind also in der Aeneis Vergils stets bereits auch politische – im heutigen Wortsinne – Motive mit ihm Spiel … Die junge Lavinia entspricht übrigens in der Handlungskonstellation auf gewisse Weise der phäakischen Königstochter Nausikaa im sechsten Buch von Homers Odyssee – aber ganz anders ihr ‚(Nicht-)Auftreten‘ gegenüber Aeneas, welchen sie (wieder anders als Nausikaa) schließlich heiraten wird: zusammen mit ihrer Mutter Amata betet sie (im XI. Buch) um seine Vernichtung.

Dementsprechend gewährt Latinus den Ankömmlingen Aufnahme (260 ff.), ruft Aeneas, mit dem er in personā hier nicht zusammentrifft (erst später in Buch XI und zu Beginn von Buch XII), zu Bündnis und Nachfolge im Sinne des Orakels und entlässt sie reichbeschenkt – dass die darüber herzukommende Göttermutter Iuno als unversöhnliche Intimfeindin Troias auch dies wieder, wenn nicht zu verhindern, so doch zu hintertreiben beginnt, eröffnet eine weitere Geschichte – um Turnus, den Fürsten der ortsansässigen Rutuler (ähnlich dem Gaetuler Jarbas Aen. IV 206 ff., nicht zuletzt Auslöser der Dido-Tragödie), den inländischen Thronaspiranten, dem die Königstochter zur Frau und damit die Herrschaft als künftiger König versprochen worden war: ein heftiger Interessenskonflikt, aktuellen im Ansatz und sinngemäß durchaus vergleichbar …

 

Szenenwechsel auf die ‚andere Seite‘ und zur Parallel-Erzählung:

 

Auch Odysseus beruft sich im jüngeren homerischen Epos vor dem Kyklopen Polyphem (Odyssee Buch IX) auf den Göttervater Zeus als Schutzherrn aller Flüchtigen: aber noch bevor er das tun kann, begegnet dieser den Fremdlingen, den Xénoi, vorsorglich und lauthals unfreundlich, unterstellt ihnen gar, als planlose Räuber über die Meere zu kommen:

„Fremde, wer seid ihr ? von woher segelt ihr über nasse Pfade ?

Geht ihr einem Geschäft nach oder irrt ihr aufs Gerate-

wohl wie Räuber übers Meer, die umherschweifen und

ihr Leben aus Spiel setzen, indem sie Fremden Übles bringen ?“

Die demütige und flehentliche Ansprache, mit der Odysseus sich und seine Gefährten vorstellt, um gastliche Aufnahme und Hilfe bittet, welche dem Fremden nach göttlicher Ordnung (Thémis) zustehe, beantwortet der Kyklop mit blankem Hohn. Dessen Verweis auf Zeus, welcher den Gast geleite,

„aber scheue, Bester, die Götter: wir flehen bei Dir um Hilfe,

Zeus aber ist der Rächer der um Hilfe Flehenden und Fremden,

der Schützer des Gastrechts, welcher ehrwürdige Gäste geleitet“.

bedenkt er mit einer hybrisgeladenen Absage an jede Verpflichtung gegenüber den Göttern, denen er und seine Genossen überlegen seien – und das, obwohl die Kyklopen (wie die Giganten und die Phaiaken, s.u.) den Göttern in besonderer Weise nahestehen (so jedenfalls der Phaiakenkönig Alkinoos zu Odysseus im VII. Buch). Polyphem also: „… ein Narr bist du,

der du mich aufforderst, die Götter zu fürchten oder ihren Zorn zu meiden.

Wir Kyklopen kümmern uns nämlich nicht um den im Sturm einherfahrenden Zeus,

und auch nicht um die glückseligen Götter, denn wir sind weit trefflicher“.

Deutlicher kann die Missachtung jeglicher inner- wie überweltlicher sozialer Spielregeln kaum mehr zum Ausdruck gebracht werden – sie sind Ausdruck einzig einer individuellen Willkür, eines kyklopischen Mutwillens:

„und ich dürfte wohl kaum aus Scheu vor Zeus‘ Feindschaft Schonung gewähren,

weder dir noch den Gefährten, wenn nicht das Gemüt es mir befiehlt“.

Der Fortgang dieser unseligen Flüchtlingsgeschichte ist schauerlich: noch ehe der Listenreiche die Existenz seines – sehr wohl noch vorhandenen – Schiffes so recht unterschlagen kann, fällt das Ungeheuer über die Gefährten her und frisst sie zeitversetzt paarweise auf – Gastfreundschaft nach Kyklopenart. Die beantwortet der Gast nicht weniger spektakulär: anders als der Unhold hat er durchaus ein Gastgeschenk im Angebot, einen schweren Rotwein, dessen nachhaltige Wirkung später den Balken im Auge des Gastgebers erst ermöglichen wird – innerhalb der Skulpturengruppe der Tiberius-Grotte von Sperlonga (auf halbem Wege zwischen Neapel und Rom) findet sich diese Szene, also die Blendung des Polyphem durch Odysseus und seine Gefährten (wie auch im III. Buch von Vergils Aeneis und in Ovids Metamorphosen im XIV. Buch) eindrucksvoll nachgestellt.

Am Ende, nach geglückter Flucht aus der Höhle und angesichts einer wütenden Verabschiedung, gibt der Fremdling, welcher sich mit ‚Oútis‘, also mit ‚Niemand‘ vorgestellt hatte, sein Inkognito preis:

„Schändlicher, da du dich nicht scheutest, die Gäste in deinem Hause

zu verschlingen: dafür haben Zeus und die anderen Götter dich bestraft.

[…]

Sag, Odysseus, der Städtezerstörer, habe dich geblendet,

der Sohn des Laërtes, der auf Ithaka sein Haus hat“.

Damit ermöglicht er seinem peinigenden ‚Gastfreund‘ allerdings eine wiederum fatale Verfluchung – vergleichbar derjenigen Didos hinter den Aeneaden her (s.o.) –, welche Grundlage für die Fortdauer seiner Flüchtlingslaufbahn bleiben soll …

Weitere Erlebnisse wie die bei den Lotophagen, dem Windbeherrscher Aiolos, den Laistrygonen, alle erzählt beim Gastmahl im Palast der Phäaken (in den Odyssee-Büchern IX und X), sind Abenteuer sozusagen auf der Durchreise, keine Frage von bleibender Aufnahme oder gar neuer Beheimatung. Überhaupt ist dieser homerische Irrfahrer – erst zusammen mit seinen Gefährten, nach deren Untergang (im XII. Buch) als Folge ihres Frevels an den Rindern des Sonnengottes Helios (die hatten sie entgegen der Warnung ihres Anführers auf der Insel Thrinakia vor Hunger geschlachtet) aber alleinig – eine Dauerexistenz als Fremdling und Flüchtling. Doch wie anders zum Ende der Abenteuer seine Aufnahme bei den Phaiaken: an deren Gestade gestrandet, wird er (Odyssee Buch VI) nach süßlich-schmeichelnden Worten des Flehens von der Königstochter Nausikaa selbstverständlich und mit Verweis auf den Göttervater erstversorgt. Bemerkenswert dabei im Besonderen, mit welch vorbehaltloser Unbefangenheit das Mädchen – von Athene, der Schutzpatronin des Odysseus, bestärkt –, jung an Jahren und von herausgehobener sozialer Stellung, dem völlig unbekannten und, vorsichtig formuliert, verwilderten Mann Odysseus gegenübertritt, während die Mägde vor dem Anblick des nackten und vom Schiffbruch gezeichneten Fremdlings verschreckt fliehen.

Entsprechend ‚erwachsen‘ und abgeklärt Nausikaas Entgegnung auf die Bitten des Fremden: es ist Zeus, welcher dieses Flüchtlingsschicksal gegeben hat, und an Odysseus, es zu tragen:

„Fremder, weil du keinem schlechten noch stumpfsinnigen Manne gleichst,

der olympische Zeus aber persönlich den Menschen Glück und Gedeihen zuweist,

Edlen wie Üblen, wie er es will, einem Jeden,

so hat er auch Dir das gegeben, du aber musst es ertragen, ganz und gar.

Nun aber, da du zu unserer Stadt und Land gekommen bist,

wird es dir nicht an Kleidung mangeln noch an etwas Anderem, was einer, der leidgeprüft um Schutz nachsucht, erhalten sollte“.

Und es ist Zeus, welchem die irrenden Fremdlinge angehören (Nausikaa zu den Mägden):

„aber dieser unglückliche Mensch kommt auf Irrfahrt hierher,

den muss man nun pflegen; denn Zeus gehören alle an, [alle] Fremdlinge und

Arme, und auch die kleine Gabe wird geschätzt.

Aber gebt, Dienerinnen, dem Fremden Speise und Trank,

und wascht ihn im Fluss, wo Schutz vor dem Wind ist.

Nachdem sodann seine Beschützerin Athene gestaltend eingegriffen hat, sieht ihn mit Staunen das junge Mädchen von Neuem und wünscht sich einen solchen gar als Ehemann – das wird später (in Buch VII) auch ihr Vater, nachdem er den Fremden als Bruder im Geiste kennengelernt hat, wiederholen und sich diesen als Schwiegersohn vorstellen.

„Möchte doch auch mir ein solcher Gemahl [vom Schicksal] berufen sein, der [dann] hier wohnt, und ihm gefiele es, an diesem Ort zu bleiben.

Aber gebt, Dienerinnen, dem Fremden Speise und Trank“.

Schließlich macht sich Odysseus, von Nausikaa eindringlich in angemessene Verhaltensregeln eingewiesen, auf in die Stadt ihres Vaters Alkinoos. Auch wenn die dortigen Bewohner Fremden gegenüber nicht eben freundlich gesonnen sind, findet Odysseus, indem er auf Anraten wiederum Athenes zuerst an die Königin Aréte appelliert und sich sodann am Herd des Palastes niederlässt, Aufnahme durch den Kronrat, dessen Sprecher sich gleichfalls wieder auf Zeus als den Schutzwalter der flüchtig Hilfesuchenden beruft:

„Lass‘ Wein nachmischen, damit wir auch dem am Blitze sich freuenden Zeus spenden, welcher die ehrwürdigen Schutzflehenden geleitet;

Aber die Haushälterin gebe dem Fremden eine Mahlzeit von dem, was drinnen sich befindet“.

Allen Rednern gilt Zeus – nicht nur Göttervater, sondern auch Hüter der Rechtsordnung, der Thémis – mithin als Garant der Flüchtlingsfürsorge. Und sogleich nimmt der König den Flehenden vom Herd weg in Ehren auf und stellt die erbetene Heimfahrt in Aussicht. Dabei greift schon hier Alkinoos einen Gedanken seiner Tochter wieder auf: das anschließende Schicksal, von den Moíren (den Schicksalsgöttinnen, lat. Parcae, Parzen) gesponnen, muss Odysseus zuhause dann selbst tragen …

„Den Fremden wollen wir im Hause bewirten

und den Göttern heilige Opfer bringen,

darauf aber auch über die Heimfahrt nachdenken,

damit der Fremde ohne Müh‘ und Plage

mit unserem Geleit in sein Vaterland gelange,

freudig und bald, mag es auch recht ferne gelegen sein,

und er nicht inmitten des Weges ein Übel oder Leid erfahre,

bevor er seine [heimatliche] Erde betritt“.

Die Heimfahrt wird, nicht zuletzt unter dem Eindruck der demütigen Bitte des Odysseus, von allen Anwesenden bekräftigt, und im darauffolgenden Zwiegespräch mit dem Königspaar über die Umstände seiner Ankunft im Phaiakenland sichert Alkinoos endgültig seinem Gast sicheres Geleit für den folgenden Tag zu.

 

Endlich in der Heimat gelandet, ist es der göttliche Schweinehirt Eumaios, welcher dem zunächst Unbekannten Zuflucht und Obdach gewährt (Od. XIV 45 ff.): zwar bellen die Hunde den Eindringling noch an und muss der ‚Hausherr‘ entschieden einschreiten und diese zur Ordnung rufen, doch bietet er ohne jeden Umschweif dem fremden Alten seine Hütte und Mahlzeit an, ohne noch zuvor dessen Herkunft und Vorleben zu kennen. Odysseus wie Eumaios weisen auf Zeus als Gewährsmann und Schutzherrn des Gastes:

Fremder, es ist für mich nicht Recht, auch nicht, wenn ein Geringerer als du kommen sollte,

einen Fremden zu missachten; denn Zeus gehören alle

an, [alle] Fremdlinge und Arme, und auch die kleine Gabe wird geschätzt.

und der Schweinehirt bewirtet den noch immer Unbekannten. Auch dieser ruft abschließend (158) die „xenía trápeza, den gastlichen Tisch“ an.

Erst nach diesem ersten, begrüßenden Schmaus und Trank fragt Eumaios den Fremden zu Identität und Herkunft:

Wer und woher bist du (unter den Menschen) ? Wo sind deine Stadt und deine Eltern?

Auf was für einem Schiff bist du angekommen, wie brachten dich die Seeleute nach Ithaka ? Wer gaben sie vor zu sein ?

Ich glaube nämlich nicht, das du irgendwie zu Fuß hierhergekommen bist.

Der gibt vor, als Kreter zusammen mit seinem König Idomeneus gegen Troia gezogen und seinerzeit auch wieder heimgekehrt zu sein. Auch die darauffolgenden Abenteuer in Ägypten, Libyen und Thesprotien (Landschaft in Epirus, NW-Griechenland), welche Odysseus seinem Gastgeber jetzt auftischt, münden [wenngleich in seiner Fiktion] – in gastfreundlichen Aufnahmen des notleidenden Flüchtlings an den Höfen der Könige – nicht ohne, dass wieder Zeus xeínios die Hand im Spiel hatte.

Odysseus‘ tatsächliche und endgültige Aufnahme in der Heimat hingegen erfolgt beim gemeinsamen abendlichen Mahl der Hirten 402 ff., bis hin zu Dank und der Formel, mit welcher Eumaios ihn – wie zuvor bereits Nausikaa (in Buch VI) und Alkinoos (in Buch VII) – für sein sonstiges Schicksal an den Gott verweist „… der Gott wird das Eine gewähren, das Andere versagen / was immer in seinem Geiste er will; denn Alles vermag er“ (445).

Und für seinen inzwischen (Od. XV) nach Ithaka zurückgekehrten Sohn Telemach ist es hernach selbstverständlich, dass der fremde Gast ‚da‘ ist (XVI 43 ff.). Er fragt Eumaios sogleich nach der Mahlzeit, woher dieser komme und wer dessen Mannschaft sei – das wird später in Buch XX noch einmal der Rinderhirt Philoítios tun und den Fremden freundlich begrüßen – , zögert aber, ihm seinerseits richtiggehende Obhut zu gewähren: Telemach kann Odysseus im eigenen Hause nicht hinreichend vor den Freiern schützen. Die jungen Vornehmen von Ithaka buhlen am Hof um die Hand seiner Mutter und Königin, während der Gatte und rechtmäßige König seit Langem verschollen ist. Die Freier versorgen bzw. bedienen den unerkannten Odysseus eher pflichtgemäß als Bettler, ihre Wortführer Antinoos, Eurymachos und Ktesippos misshandeln ihn aber auch – was die Übrigen zwar missbilligen, doch nicht wegen Verletzung des Gastrechts. Penelope beklagt ausdrücklich das Verhalten des Antinoos. Trotz der mahnenden Worte des jungen Amphinomos, den Gast nicht zu kränken, werden sie ihr übermütiges und hochfahrendes Spiel treiben mit dem Fremden, dem Bettler, dem sozial Schwächeren und Untergeordneten – und folglich spricht Telemach zu Eumaios:

[Telemach spricht]

Denn wie will (soll) ich den Fremden im Hause aufnehmen ?

Ich selbst bin noch jung und vertraue noch nicht

meinen Händen, einen Mann abzuwehren, wenn einer zuvor mich anfeindet […]

Dorthin möchte ich ihn wohl nicht zu den Freiern gehen lassen; denn einen allzu frevelhaften Übermut tragen sie in sich.

Dass sie ja nicht ihren Spott mit ihm treiben, mir aber schlimmer Kummer bleiben wird.

Denn es ist schwer für einen Mann, etwas auszurichten, der gegen Mehrere steht, auch wenn er mit Kraft begabt ist, denn sie sind viel stärker.“

Nur indirekt ist noch Penelope, Ehefrau und Mutter, Aufnehmende: sie sieht in dem Fremden vor Allem den potentiellen Nachrichtenträger über Odysseus. Und als sich dies bestätigt, nimmt sie ihn als dessen Gastfreund in aller Form in ihrem Hause auf (XIX 253 f.)

Nun sollst du, Fremder, wenngleich bisher mir bemitleidenswert,

in meinem Hause geschätzt und geehrt sein.

und ordnet seine Versorgung und Bewirtung an. Schließlich ‚übergibt‘ sie ihn an die alte Amme Eurykleia (die schon die des Odysseus war, und die ihn beim Fußwaschen an einer Narbe wiedererkennt), und anderntags wiederum fragt auch Telemach ausdrücklich danach.

Dem Vater Laërtes hingegen, welcher sich aus Kummer über die Vorgänge im Königspalast aufs Land draußen zurückgezogen hatte, begegnet Odysseus in Buch XXIV mit einer (weiteren) Trugrede als Gastfreund des Sohnes: er hatte inkognito verschiedentlich von seiner eigenen Gastfreundschaft gegenüber (seinem fiktiven) Odysseus gesprochen. Arglos erwidert der Alte in Trauer um den Verlorenen und begrüßt den Fremden mit der gleichen Formel wie zuvor bereits Eumaios und Telemach:

Und sage mir dies noch wahrheitsgetreu, damit ich es wohl wisse:

Wer und woher bist du (unter den Menschen) ? Wo sind deine Stadt und deine Eltern ?

Wo liegt dein schnelles Schiff, welches dich und deine göttergleichen Gefährten hierher gebracht hat ? Oder bist du als Reisender

Auf fremdem Schiffe gekommen, die aber haben dich an Land gesetzt und sind weiter gefahren ?

Der ehemals so hoffnungsfrohe Ausgang der Gastfreundschaft zwischen dem ‚Fremden‘ (also tatsächlich: Odysseus) und seinem Sohn (dem fiktiven Odysseus im Rahmen der jetzigen Trugrede des ‚Fremden‘) hat sich indes nicht erfüllt: dessen Spur bleibt verloren. Die verzweifelte Reaktion des Vaters lässt Odysseus aber spontan und sogleich seine wahre Identität enthüllen:

Jener hier bin ich doch selbst, Vater, nach welchem du fragst, bin

gekommen im zwanzigsten Jahr ins Land der Väter“.

Er ist angekommen und hat das Handeln auf Ithaka – hier: die Bestrafung der Freier – längst wieder fest in die eigene Hand genommen.

 

Sind die bisher behandelten Flüchtlingsstationen des Troia-Heimkehrers integrale Bestandteile der Odyssee-Handlung, so finden sich andere, speziellere Situationen von Ankunft und ‚Angeworfen-Sein‘, welche mehr episodenhaften Charakter tragen und eher nicht zum Ursprungsgerüst der Erzählung gehören:

Von Kalypso auf der westlich gelegenen Insel Ogygia gastlich aufgenommen, wird der ehemals gestrandete Schiffbrüchige im fünften Buch schon lange gegen seinen Willen festgehalten, bis im achten Jahr Zeus selbst durch Hermes seine Heimfahrt anordnen lässt. – Den homerischen Spannungsbogen zwischen Sehnsucht nach Heimat und Familie sowie der Aussicht auf Unsterblichkeit bei der ehemals so verführerischen Nymphe weitet Michael Köhlmeier in seinem Roman Kalypso (München 1997) zu olympischen Reflexionen über die Sterblichkeit aus.

Bei Kirke auf der ostwärts gelegenen Märcheninsel Aiaia im zehnten Buch sucht der fremde Ankömmling nach Hilfe für seine Weiterfahrt. Nachdem sie die Hälfte seiner Gefährten ohne Umschweife eingeladen, verköstigt und sodann in Schweine verwandelt hat, versucht die Hexe dies auf die gleiche Weise auch mit ihm. Durch das Kraut des Hermes geschützt, überwältigt er sie und macht sie zu seiner Vertrauten (s.u.); zudem wird er königlich bewirtet. Nach einem Jahr üppiger Gastfreundschaft drängen die Gefährten zur Heimfahrt, doch Kirke weist den Odysseus zum Haus des Hades, um in der berühmten Nékyia Od. XI, dem Unterweltsbuch, die Seele des thebanischen Sehers Teiresias über sein weiteres Schicksal zu befragen.

Beide Episoden mögen keine ‚klassischen‘ Flüchtlingsschicksale im herkömmlichen Sinne sein, aber mit ihnen überspannt der Erzählreigen letztlich das gesamte Mittelmeer – und darüber hinaus …

Denn am Ende werden – und sollen humoris causā der Abrundung dieser von Epos zu Tragödie zu Komödie mehr als schillernden Figur halber auch hier nicht vorenthalten bleiben – aus Flüchtlingen gar Abenteurer, die erleben, zu welchem Ziel unbändige ‚Wanderlust‘ nun auch führen kann: in der Divina Commedía des Florentiners Dante Alighieri (1265-1321) schildert der im Inferno für seine Listen vor Troia büßende Odysseus dem Dichter und seinem Cicerone Vergil (im Canto XXVI) ihre letzte Fahrt jenseits der Säulen, welche Herakles den Menschen als Grenze gesetzt hatte – zitiert nach der Prosa-Übersetzung von Kurt Flasch (Frankfurt 2013):

(85) […] „Nachdem ich mich getrennt hatte von Kirke, die länger als ein Jahr mich an sich zog dort bei Gaeta, bevor Aeneas der Stadt diesen Namen gab, da konnten weder die Süßigkeit meines kleinen Sohns noch die Pietät für den alten Vater, noch die Liebe, die ich, sie heiter zu machen, Penelope schuldete, die Glut besiegen, die in mir war, die Welt zu erfahren, Menschenwert und Menschenunwert. Sondern ich segelte hinaus aufs hohe offene Meer mit einem einzigen Boot und mit der kleinen Schar, die mich nie im Stich ließ. Beide Ufer sah ich, bis hin nach Spanien, bis hin nach Marokko, und die Insel der Sarden und die anderen, die dieses Meer rings umspült [d.h.: es entfallen alle Abenteuer, die in der homerischen Odyssee nach dem 10. Gesang erzählt werden, dazu die dramaturgisch vorangestellten Ogygia- und Phaiaken-Episoden].

(106) Ich und die Gefährten, wir waren alt geworden und zögernd, als wir zu dem engen Durchlass kamen, wo Herkules seine Warnung gesetzt hat, dass der Mensch nicht weitergehe [= Meerenge von Gibraltar]. Rechts ließ ich Sevilla liegen, links hatte ich Ceuta gelassen.

(112) ‚O Brüder‘, sagte ich, ‚nun seid ihr durch hunderttausend Gefahren zum Westen gelangt, verweigert doch nicht der, ach, so kurzen Nachtwache unserer Sinne, die uns noch bleibt, die Erfahrung der Rückseite der Sonne, der Welt ohne Menschen. Schaut auf euern Ursprung: Ihr seid nicht geschaffen, zu leben wie die Tiere, sondern für richtige Tat und Erkenntnis.‘

(121) Mit dieser kleinen Rede machte ich meine Gefährten so begierig auf die Fahrt, dass ich sie hätte kaum noch zurückhalten können. Wir kehrten unser Heck gen Osten, machten aus unseren Rudern Flügel zum irr-gewagten Flug und kamen zur linken Hand hin immer weiter voran. Schon sah ich des Nachts alle Sterne des anderen Pols [also des Südpols], und unsrer [der Nordpol] lag so tief, dass er sich über die Meeresfläche nicht mehr erhob.

(130) Das Mondlicht war fünfmal neu aufgegangen und erloschen, seit wir die hohe Fahrt begonnen, da erblickten wir einen Berg, in der Entfernung dunkel und so hoch, wie ich noch keinen gesehen hatte. Wir freuten uns, doch bald kam der Jammer, denn von dem neuen Land her brach ein Wirbelsturm los und traf vom Schiff den Bug. Dreimal wirbelte er es herum mit dem Strudel. Beim vierten Mal hob er das Heck und versenkte den Bug, wie Einer es wollte. Bis das Meer sich über uns schloss.“

 

Der Epische Kyklos hält weitere Versionen vom Ende des Rastlosen bereit, welche allerdings das Odyssee-Geschehen erst geschehen lassen, bevor sie dessen noch ‚offene Enden‘ zusammenführen: in der Telegonie wird Odysseus von seinem in der Ferne (tēle-) gezeugten Sohn Telégonos, den seine Mutter, die Zauberin Kirke (s.o.), auf die Suche nach seinem Vater gesandt hatte, beim Rinderraub auf Ithaka unerkannt ermordet – das fatale Aufeinandertreffen von Vater und Sohn wird zur Zeit der Völkerwanderung im Hildebrandslied (aufgezeichnet um 8oo im Kloster Fulda) wiederkehren. Am Ende stehen die Verbindung von Telégonos und Penelope sowie von Telemach und Kirke.

Waren es bei Dante Tatkraft und Entdeckungslust, so lässt auch bei Odysseus‘ modernem Landsmann Nikos Kazantzakis, welcher die Odissia (1938) forterzählt, unbändiger Freiheitsdrang dem von der vorgefundenen Enge seiner wiedergewonnenen Heimat Enttäuschten keine Ruhe. Jean Giono, Naissance de l‘Odyssée (1930) lässt Odysseus, den Lügner, ‚sein eigener Homer‘ werden, welcher die Abenteuer des schiffbrüchigen Heimkehrers selbst erfindet und auf der Rückfahrt die Mären seiner heldenhaften Irrfahrten an den Herden und Lagerfeuern unter die Leute bringt. Und bei Walter Jens, Das Testament des Odysseus (1957, an seinen Enkel Prasidas) gerät der Troia-Kämpfer, Freibeuter und Abenteurer, Wanderer bereits in seinen Jugendjahren ‚vor Helena‘ (und Penelope), schließlich zum Pazifisten: wenn er schon den Trojanischen Krieg nicht hat verhindern können, so verzichtet er doch auf eine Heimkehr und Wiedereinsetzung in seinen alten sozialen Status. Auf diese Weise meidet er die bürgerkriegsartigen Auseinandersetzungen, welche aus den heimischen Verhältnissen zwangsläufig entbrennen müssten, die unterdessen doch ihre Ordnung wiedergewonnen haben: Penelope steht (nach dem Trauerjahr) vor der Vermählung mit dem greisen Amphinomos als Nachfolger des für tot erklärten Odysseus. Diese Weitererzählungen indes heben die Geschichte des Heimkehrers auf eine sublimere Ebene – und von unserer Thematik endgültig weg …

 

All den charakterisierten Partien ist gemeinsam, dass das Recht des Gastes wie des (in aller Regel ‚angespülten‘) Flüchtlings nirgendwo grundsätzlich in Frage gestellt wird: der Aufnehmende und Gastgeber weiß, dass er in der gottgegebenen Pflicht und Ordnung (Thémis) steht. Ein Verweigern dieses Auftrages stellt ihren Auctor außerhalb jedes menschlichen wie göttlichen Kosmos‘, mithin außerhalb jeder zivilisatorischen Struktur – und das leisten sich bewusst und willentlich in der homerischen Welt (zu welcher natürlich auch die Aeneis zählt) allein die ungeheuerlichen Kyklopen, welche „der seligen Götter nicht achten“. Dabei steht gleichfalls außer Frage und geht dem pflichtgemäßen Verhalten des aufnehmenden Gastgebers durchweg voraus, dass der um Hilfe und Aufnahme Ersuchende dieses mit einem respektvollen und angemessenen Auftreten ihm und der Aufnahmegesellschaft gegenüber unterlegt.

Gewiss muss man bei Odysseus wie bei Aeneas zwischen ‚Privat-‘ und ‚Staats-‘Flüchtling unterscheiden, ist die moderne Bannbreite zwischen Wirtschaftsflüchtling und politisch Verfolgtem, zwischen Flucht aus (Natur-)Katastrophen und Flucht aus Krisen- und Kriegsgebieten zwar vorbereitet, keinesfalls aber abgedeckt. Ungeachtet dessen bleibt die condicio humana als solche und in ihren Grundvoraussetzungen über die Jahrhunderte hinweg vergleichbar, sie scheint auch hinter den ‚Alt-Fällen‘ stets hervor. Flucht, Vertreibung und Wanderung aus den behandelten wie angedeuteten Motiven und Konstellationen heraus sind ein dauerhaftes mo(vi)mentum der Menschheitsgeschichte, und ihre Behandlungen in Literatur wie Kunst zeigen verwandte, wiederkehrende‚ ,wandernde‘ Motive – unlängst im Roman Grand Hotel Europa des Niederländers I.L. Pfeijffer (2018) wird ein junger, nordafrikastämmiger Hotelportier bezichtigt, die Geschichte seiner Flucht nach Motiven aus der Aeneis erfunden zu haben.

 

 

Appendix: Wie sehr erzwungener Heimatverlust den Vertriebenen, den Flüchtling, den ‚Ausländer‘ leiden lassen kann, hat in der Antike kaum Jemand eindringlicher beschrieben als der tenerorum lusor amorum, der römische Stadtdichter Ovid in seinen Tristien. In der X. Elegie des vierten Buches beklagt er – autobiographisch und durchaus subtil, daher aber auch wenig konkret – eine angeordnete, in allen Zumutungen standhaft ertragene Flucht aus Italien und sein trauriges Exilantendasein in der provinziellen Ferne an der Westküste des Schwarzen Meeres:

„tacta mihi tandem longis erroribus acto

iunctă pharetratīs Sarmatĭs oră Getīs.

(110)

 

hic ego, finitimis quamvis circumsoner armis,

tristia, quo possum, carmine fata levo.

 

quod quamvis nemo est, cuius referatur ad aures,

 

sic tamen absumo decipioque diem.

ergo quod vivo durisque laboribus obsto,

(115)

nec me sollicitae taediă lucis habent,

 

gratia, Musa, tibi: nam tu solāciă praebes,

tu curae requiēs, tu medicina venīs.

tu dux et comes es, tu nos abducis ab Histro,

in medioque mihi das Helicone locum.

(120)

 

tu mihi, quod rarum est, vivo sublime dedisti

nomen, ab exequiis quod dare famă solet.

 

nec, qui detrectat praesentiă, Livor iniquō

ullum de nostris dente momordit opus.

nam tulerint magnos cum saecula nostra poetas,

(125)

non fuit ingenio fama maligna meo,

cumque ego praeponam multos mihi, non minor illis

dicor et in toto plurimus orbe legor.

 

si quid habent igitur vatum praesagia veri,

prōtinus ut moriar, non ero, terră, tuus“.

(130)

„Erreicht worden sind mir, nachdem ich in langen

Irrfahrten getrieben, die Küsten schließlich Sarmatiens,

die verbunden mit den köchertragenden Geten.

Hier erleichtere ich, obwohl ich ringsum von nahen

Waffen umklirrt werde, mein trauriges Geschick,

soweit ich kann, mit dem Lied.

Wenngleich es Niemanden gibt, zu dessen Ohren

dieses vorgetragen werden könnte

verbrauche ich dennoch und täusche ich so den Tag.

Dass ich also lebe und den harten Mühen widerstehe

und mich [noch] nicht der Überdruss am aufgeregten

Tag[esgeschäft] im Griff hat,

[dafür sei] Dank dir, Muse: denn du gewährst Trost,

du bist die Ruhe von der Sorge, du das Heilmittel für

die Adern. Du bist Führer und Begleiter, du führst uns

weg von der Donau und gibst mir mitten auf dem

Helicon [meinen] Platz.

Du hast mir, was selten ist, [noch] zu Lebzeiten den

erhabenen Namen geschenkt, welchen der Ruhm [erst]

vom Leichenzug an zu geben pflegt.

Auch der Neid, welcher Gegenwärtiges schmälert,

hat kein Werk von den unseren mit gehässigem Zahn

[weg]gebissen. Denn wenn auch unsere Zeitalter

große Dichter hervorgebracht haben,

so war [doch] die Kunde meinem Talent nicht

übelwollend, und wenn ich auch Viele mir voranstelle,

so werde ich nicht geringer als Jene genannt,

und auf dem ganzen Erdkreis am Meisten gelesen.

Wenn also die Vorhersagen der Seher etwas Wahres in

sich tragen, [dann] werde ich, selbst wenn ich alsbald

sterben sollte, Erde, nicht der Deine sein“.

 

Auch wenn hier kein Köcherträger seiner Dichtung ein Ohr leiht, er reell am Unterlauf der Donau (Hister), in Tomi (dem heutigen Constantza in Rumänien) und nicht wie Hesiod am Musenberge Helikon im griechischen Böotien weilt, so trösten ihn doch zu Lebzeiten (!) und unter Gleichrangigen das Ausbleiben von Neid, der Weltenruhm und die Ewigkeit, erfährt er Halt durch die Tochter Iuppiters, behauptet er sich an ihrem heiligen Hügel gegenüber dem Palatin (Wohnsitz des Kaiserhauses) in Rom. Gleichwohl verweigert der prominente Relegat auf Erden nicht die Integration in der Fremde – er unterzieht sich dichterischen Übungen auch in der Sprache der einheimischen Geten, aber das lässt ihn nicht wirklich zum Landeskind werden …

 

 

Der Umgang mit Fremdheit und Ferne, das Ringen um die neue Kultur (und Sprache), verbunden mit der Frage: wechselweise Verfremdung oder bereichernde Ergänzung ? Politisch-gesellschaftlicher Mehrwert versus Eigeninteresse vor Ort ? Die Vertrautheit der gewohnten, weil gewachsenen Lebensumwelt und die Erfahrung ihres Verlustes, die Bemühungen ‚anzukommen‘ wie das Streben nach einem Neuanfang und die (Selbst-) Behauptung darin; das Finden eines neuen, persönlichen Lebensmittelpunktes; die Erkenntnis oder wenigstens doch der Blick auf die condicio humana in der empathischen Begegnung mit dem Schicksal des Flüchtlings (Vergils Aeneas) und dem Dasein als Exilant (Ovid) – diese Alle sind Leitaspekte einer Flüchtlings- wie Exilliteratur jeder Zeit, und sie finden in den Umwälzungen unserer Tage rund um das nach wie vor mare nostrum bedrückende Parallelen, welche einmal mehr den Blick auf historische Konstanten menschlicher Katastrophen seit ihren mythischen Anfängen in der Antike lenken.

Sperlonga-eine-Ikonologie

Sperlonga-eine-Ikonologie

Eine ‚Odyssee in Marmor‘: Praetorium Speluncae – Das Bildprogramm der Skulpturengruppe in der Tiberius-Grotte von Sperlonga

 von:  M. P.  Schmude

[Die vollständige Fassung des hier nur angerissenen Artikels findet sich unter obenstehendem (grünen) Link → auf der ‚Innenseite‘ …]

Auf halbem Weg zwischen Rom und Neapel gräbt sich in einen Ausläufer der Fundanischen Berge (heute Monte Ciannito) wie eine überdimensionale Apsis unweit von Terracina und gegenüber dem campanischen Fischerort Sperlonga (im Tal von Fondi, dem ager Fundanus, woher nach Suet. Tib. 5; Cal. 23 die Familie [gens Alfidia] Livias, der Mutter des Tiberius, stammte) eine Meeresgrotte, welche dem Ort wie der vorgelegenen kaiserlichen Villa den Namen gab. Hier entging nach Sueton im Jahre 26 n. Chr. der Kaiser Tiberius einem verheerenden Steinschlag nur knapp und aufgrund des beherzten Einsatzes seines Prätorianerpräfekten Sejan (Tib. 39; Tac. Ann. 4, 59, 1f.), und hier wurde ein Skulpturenprogramm entworfen, dessen Auftraggeber bisher nicht sicher bekannt war. Bis zum Jahre 1957 lag es zudem – in Einzelfragmente zur Unkenntlichkeit zerschlagen – im angeschwemmten Sand der Grotte, wie noch 1879 der Inspektor der Altertümerverwaltung Di Tucci berichtet. Jedenfalls aber entsprach es in seiner Verbindung von natürlich verbliebener Umgebung und darin umso lebendiger wirkender Statuen denen der  hellenistischen Figurenparks auf Rhodos (heute im Park von Rhodini), wohin der Kaiser sich vormals – genauer: vor seiner Ernennung zum Thronfolger 4. n. Chr. – für acht Jahre zurückgezogen hatte. Nach dem o.g. Einsturz der Höhlendecke, bei welchem einige seiner Diener vor seinen Augen erschlagen wurden, zog er sich dann 26/27 n. Chr. endgültig nach Capri zurück. Im kreisrunden Becken eingangs der Villengrotte von Sperlonga ist der Sockel der monumentalsten Figuren-, der Skyllagruppe, erhalten geblieben, ihr vorgelagert ein von einem rechteckigen Meerwasserbassin gesäumtes ‚Freilicht‘-Triclinium auf einer Insel, deren Substruktionen und Einfassungen noch heute begehbar sind.

Wortschatz und Textarbeit

Wortschatz und Textarbeit

Wortschatz und Textarbeit –

Überlegungen zu einem gegenwartsbezogenen Lektürekanon

 

Michael P. Schmude

 

ABSTRACT

 

Der Aufsatz folgt einem Dreischritt: 1. Grundlage und Ausgangspunkt einer jeden gelingenden Arbeit an einem fremdsprachigen Text und condicio sine qua non für jegliches Textverständnis ist ein möglichst sicherer Umgang mit dem dort verwendeten Wortschatz: Beherrschung des Vokabulars ist nicht Alles, aber ohne Vokabelkenntnis ist Alles Nichts. Nun ist heutige Wortschatzarbeit in die europäische Breite angelegt und vernetzt Vokabular und Idiomatik der modernen Tochter-Sprachen mit ihren Alten Mutter-Sprachen Griechisch und Latein; Erfassen und Strukturieren in Wortfamilien wie Sachfeldern befördern das eigenständige Erarbeiten und stützen die Gedächtnisleistung. 2. Der Weg zu einem tiefergehenden Verständnis auch anspruchsvoller Texte führt über durchaus unterschiedliche Erschließungsmethoden sowohl am einzelnen Satz wie auch ganzheitlich an der umfangreicheren Passage. Hier sind gleichberechtigt unterschiedliche Textarten wie Lerntypen zu berücksichtigen und stets von Neuem in ein gedeihliches Verhältnis zueinander zu bringen, denn das Ziel bleibt, losgelöst von der Methode: Texte der Literatur zur Lebenswelt ihrer Rezipierenden in Bezug zu setzen, mithin das Weltwissen der antiken Texte zu Lebenswissen bei den jungen Menschen zu verdichten. 3. Daraus ergibt sich von selbst die Erfordernis durchgängiger Überprüfung und Reflexion des Angebots an Lektüren, mit welchen die Lebenswirklichkeit der Lesenden angesprochen werden kann kann – hierzu seien vier Ergänzungs-/Alternativvorschläge entwickelt: Migration I (Mundus Novus), die Lebenswelt des Mittelalters (Carmina Burana), Staats- und Gesellschaftstheorie (nach Polybios und Cicero) sowie Migration II (Vergils Aeneis und Ovids Tristien).

 

Der Gemeinsame Europäische Referenzrahmen für Sprachen (GER), im Auftrag des Europarats in Straßburg erstellt und herausgegeben, formuliert fünf Ziele eines Unterrichts in modernen Fremdsprachen „verstehen – sprechen – lesen – schreiben – übersetzen[1]“. Von solch aktiv kommunikativen (Parlieren) wie auditiven (Hörverstehen) Erfordernissen eher freigestellt, führt der Altsprachliche Unterricht über die an sich unstrittige Trias ‚Verstehen – Übersetzen – Interpretieren‘ zu einem Dialog mit dem „nächsten Fremden“ (U. Hölscher 1994) einer kulturellen Vergangenheit, deren kontrastives Verständnis einen geschärften Blick für die eigene Gegenwart ermöglichen soll. Medium dieses Austauschs ist nicht das gesprochene Wort, es ist der geschriebene Text, welcher zum Sprechen gebracht, dessen zunächst – nach Form wie Inhalt – verborgene Gestalt den Fragen des Lesenden zugänglich gemacht, geöffnet werden muss. Es liegt auf der Hand, dass ein solchermaßen abweichendes sachliches Anliegen auch eine anders geartete Näherungsweise an die alte fremde Sprache erfordert.

 

  1. WORTSCHATZARBEIT

 

Grundlage und Ausgangspunkt einer jeden gelingenden Arbeit an einem fremdsprachigen Text und condicio sine qua non für jegliches Sprach-wie Textverständnis ist ein möglichst sicherer Umgang mit dem dort verwendeten Wortschatz – Beherrschung des Vokabulars ist nicht Alles, aber ohne Vokabelkenntnis ist Alles Nichts. Nun erschöpft sich heutige Wortschatzarbeit in den Alten Sprachen schon lange (und zum Glück) nicht mehr in einer wie auch immer von statten gehenden Aneignung und Wiederholung gegebener Reihen neuer (und nicht mehr ganz so neuer) Wörter, sondern ist in die europäische Breite angelegt und vernetzt Vokabular und Idiomatik der modernen ‚Tochter‘-Sprachen mit ihren Alten ‚Mutter‘-Sprachen Griechisch und Latein; Erfassen und Strukturieren in Wortfamilien wie Sachfeldern befördern das eigenständige Erarbeiten und stützen die Gedächtnisleistung[2].

Ob Vokabellernen über das ‚klassische‘ Vokabelheft (selbst schreibend angelegt oder als Beilage des Lehrwerks – und damit durchweg kapitelbezogen), mittels Karteikarten (mit den verschiedenen Fächern für: neues Wort gelernt, aber noch zu wiederholenbekannt) oder interaktiv im Rahmen eines digitalen Lernprogramms (Vokabeltrainer, mittlerweile Standardzubehör jedes Unterrichtswerks) erfolgt, wird weiterhin dem individuellen Lerntypus der Schüler zu überlassen sein – am Ende will es gekonnnt werden; der Wege sind mehrere, und sei es der unmittelbare ‚bloß‘ aus dem Buch. Allen gemein ist freilich die unabdingbare Notwenigkeit regelmäßiger Wiederholung und Übung – repetitio est mater studiorum; nicht von ungefähr gehen bis zu sechzig Prozent der Fehler in Übersetzungen auf mangelnde Beherrschung des Vokabulars zurück (Fink/Maier 1996, 167). Und damit sind wir beim Hauptproblem jeder Bemühungen um einen möglichst breiten Wortschatz: wie lange behalte ich das einmal – mehr oder weniger – fleißig gelernte Vokabular ? Und dies betrifft den Lehrbuchwortschatz ebenso wie den in der Lektürephase auf die jeweilige Gattung oder den jeweiligen Autor bezogenen Lernwortschatz. Schwer zu steuernde Faktoren sind bekannt und hinlänglich beklagt: zum Einen Lernalter, Belastung durch die übrigen Fächer sowie Ablenkung durch angesagtere Formen der Kommunikation, zum Anderen große Lernpensen, geringe Lernkontinuität sowie auf Punkt (= auf Abfrage und Klassenarbeit) Pauken führen dazu, dass nach einer Woche etwa zwei Drittel der (einmalig) gelernten Vokabeln wieder ‚weg‘ sind. Abhilfen werden zu suchen sein in Gestalt ausreichender Zeit- und Ruheeinheiten, überschaubarer Vokabelmengen, regelmäßigen, auch spielerischen Einübens und Wiederholens – sei es computergestützt, sei es traditionell mittels Lernspielen (etwa Vokabelmemory‚ ‚Lernstraßen‘, Scrabble) im Klassenraum – , Anbindungen an die Lebenswelt der Lernenden, Bezügen zu bereits bekannten Texten – es ergibt sich das „Magische Dreieck“ (R. Frölich 2007) aus Aneignung, Anwendung und Erhalt des Gelernten.

Mnemotechniken sind gefragt – zwei bekannte, nützliche wie sinnvolle Arbeitsformen sind die Einbettung von Vokabeln in Wortfamilien sowie die Herstellung von Sachfeldern [vgl. zuletzt das Lehrwerk ADEAMUS, München (Oldenbourg) 2016, 237]; beide verbleiben zunächst einmal innerhalb der Ausgangssprache, hier: Latein und Griechisch.

 

Eine Wortfamilie bilden Wörter, die sich vom selben Stamm ableiten:

cánĕre – cantáre – cántor – cantus, -ūs – cantio – canticum

amáre – ámor – amícus – amica – amicítia

feýgein – fyg – fygás, -ádos – fygadeýein / fugĕre – fúga – fúgax, -ácis – fugáre.

 

Ein Sachfeld bilden Wörter, die auf ein gemeinsames Thema hinauslaufen:

Schule                        ludus – docre – discĕre – scribĕre – tabula – stilus – (ne)scíre – scholé

sehen             vidre – spectáre – óculus – écce

sagen, sprechen       légein – fánai – rhtōr – gnōmē / dícĕre – fári – orátor – senténtia.

 

Verwandt hiermit das Bilden von Gegensatzpaaren:

gaudium – dolor; aggrédi – deféndĕre; quaerĕre – inveníre; próprius – aliénus.

 

Parallel lassen sich Beispiele aus Wortfamilien wie Sachfeldern einem den Lernenden mehr oder weniger bekannten Alltags- (Lehnwörter) bzw. Fremdwortschatz zuweisen:

scribĕre – schreiben; tabula – Tafel, scholé – Schule; spectáre – spicken, gaudium – Gaudi; vidre – Video-; aggrédi – deféndĕre – aggressiv – defensiv; aliénus – Alien.

 

Gedächtnistraining und Wortschatzerweiterung zugleich ist die Fortführung in noch zu erlernende oder Herleitung aus bereits vertrauten modernen Tochtersprachen; das Netzwerk überschreitet mithin die ‚alten‘ Ausgangssprache(n):

(h)ōra – hóra – hour – heure – ora / respondre – to respond – répondre – rispondere.

cantus – [canto –] chanson – canzone / amor – [amorist, amorous –] amour – amore

fúgax, fugitívus – fugacious, fugitive – fugace, fugitif – fugacità, fuggitivo; fuggire, fugare.

 

Es liegt auf der Hand, dass in der Praxis der Sprachlehre die Einteilung in Wort- wie Sachgruppen mit der Übertragung in das ‚regionale‘ (Lehnworte) wie ‚überregionale‘ (Fremdsprachen) Netz stetig zu verknüpfen ist und im besten Falle zu einem gesicherten europäischen Grundwortschatz sollte führen können.

Gleichberechtigt neben dieser eher intellektuellen Ordnung des Wortschatzes nach bedeutungs- oder stammverwandtschaftlichen Gesichtspunkten samt flächendeckendem modernen Weiterleben stehen freilich auch kreative Zugänge – so das Verfassen einer kleineren Geschichte unter Einbau der neuen Wörter, bildliche Darstellungen, lautes (ggfs. szenisches) Vorsprechen und Vorsingen, nicht zuletzt als besondere eigenständige Leistung die pantomimische Aufführung hierfür geeigneter Begriffe und Wendungen – jüngst hat in der Pegasus-Onlinezeitschrift St. Ziemer mit der „Schlüsselwortmethode“ (früher: Merkvers und ‚Eselsbrücke‘) die schülerseitige Assoziationskraft ins Spiel gebracht [15/2 (2015), 157-162].

 

  1. SATZ- UND TEXTERSCHLIESSUNG

 

Der Weg zu einem tiefergehenden Verständnis auch anspruchsvoller Texte führt über durchaus unterschiedliche Erschließungsmethoden sowohl am einzelnen Satz wie auch ganzheitlich an der umfangreicheren Passage[3], zumal entlastbar durch vorerschließende Herangehensweisen. Hier sind gleichberechtigt unterschiedliche Arten von Texten, unterschiedliche Typen von Lernenden sowie unterschiedliche Herangehensweisen von Lehrenden zu berücksichtigen und stets von Neuem in ein gedeihliches Verhältnis zueinander zu bringen. Auch das Verhältnis von Verstehen und Übersetzen[4] ist nur in einer Sphäre der Künstlichkeit voneinander zu trennen: ohne ein hinreichendes (Vor-)Verständnis auf semantischer, grammatikalischer und pragmatischer (also: interkultureller) Ebene wird man zu einer zielsprachengerechten Übersetzung, welche ja doch die eigentlich kreative Leistung (und das Alleinstellungsmerkmal des Altsprachlichen Unterrichts gegenüber demjenigen in modernen Schulfremdsprachen) darstellt, kaum gelangen; zugleich werden Vorformen einer Übertragung bereits mit der Erfassung erster kolometrischer Einheiten[5] ansetzen: auch dies auf den Einzelsatz wie auf einen Textabschnitt bezogen, und auch dies in Wechselbezug zu Lerntyp und Sprachstand. Am Ende bleibt das Ziel, unabhängig von der Methode, inhaltlich auf allen Ebenen ein gemeinsames: Texte der Literatur zu einer sich im Flusse befindlichen Lebenswelt ihrer Rezipierenden in Bezug zu stellen (quid ad me ?), mithin das <Weltwissen> der antiken Texte zu <Lebenswissen> bei den jungen Menschen zu verdichten.

 

Die im Folgenden vorgestellten und knapp umrissenen Satz- und Texterschließungsverfahren sind in der angeführten Literatur eingehend behandelt; als ‚Fallbeispiel‘ sei ihnen Ciceros Passage über die Mischverfassung rep. I 69 beigegeben, an welcher sie sich mehrheitlich – kaum freilich ganz lehrbuchgerecht – durchführen lassen. Exemplarisch sind dafür geeignete Sätze dieses (in sich geschlossenen) Kapitels gleichwohl auch hier zur Veranschaulichung der benannten Methode jeweils herangezogen, ohne dass – aus Raumgründen – die Verfahren en detail nochmals verifiziert werden sollen: sie verstehen sich als ‚Einladung‘ …

 

2.1. Grundsätzlich sind zwei Wege hin zur Erschließung des einzelnen Satzes zu unterscheiden:

 

2.1.1. Das vorwiegend analytische Verfahren

 

Dieses geht von einer Art Hierarchie der Satzteile/-glieder aus, unabhängig von der Abfolge ihres Vorkommens. Ein besonderes Gewicht kommt hierbei den Verbformen zu, namentlich den finiten, also den Prädikaten, als deren Ergänzungen die übrigen Satzglieder aufgefasst werden, an oberster Stelle dem Prädikat des Hauptsatzes. Bei der sogenannten Konstruktionsmethode wird aus dem Satzgefüge eben dieser Hauptsatz herausgenommen und von seinem Prädikat her als erste syntaktische Einheit der Satzkern ermittelt, bestehend aus Subjekt und Prädikatsgruppe. Von dieser ausgehend werden die übrigen Satzglieder, ggfs. in Wortblöcken, abgefragt. Gliedsätze, im Grunde nichts anderes als erweiterte Satzglieder des Hauptsatzes, werden nach Klärung des unterordnenden Wortes (in der Regel einer Subjunktion oder Pro-Form) entsprechend behandelt.

 

Quod ita cum sit, ex tribus primis generibus longe praestat mea sententia regium, regio autem ipsi praestabit id, quod erit aequatum et temperatum ex tribus primis rerum publicarum modis.

 

Eine allmählich sich aufbauende, inhaltliche Vorstellung von der Gesamtaussage in linearer Folge ihrer Bauteile kommt hierbei nicht zustande. Die Analysemethode, oft mit dem konstruierenden Verfahren kombiniert, greift den Satzsinn Wort(gruppe) für Wort(gruppe) mit einem Ensemble von W-Fragen ab, geht also gerade nicht vom Textangebot oder einer inneren Struktur der Satzinformationen aus. Außer Acht bleibt dabei aber, dass Letztere von der Verbvalenz regiert werden, von welcher allein her die Satzglieder erst sinnvoll abzufragen sind.

Das Lineare Dekodieren[6] folgt allen Verbalformen gemäß ihrem Vorkommen in Satz, Teilsatz oder satzwertiger Konstruktion und bringt sie in ein syntaktisches Verhältnis (Bei-/Unterordnung, Einbettung) zueinander. Die Sicht auf das Prädikat als oberstes Satzglied stellt eine Verbindung zur Dependenzgrammatik her, die Unterscheidung einer Oberflächen- von einer (eingebetteten) Tiefenstruktur zur generativen Transformationsgrammatik[7]. Der Einbezug aller Verbformen als Vorstufen und Voraussetzungen der Hauptverbalinformation führt, zusammen mit der Erfassung etwa der Konnektoren, zu einem leichteren Verständnis des Satzverlaufs; der Blick auf die Verbvalenzen ermöglicht ein frühes Klären und Zuordnen weiterer Satzglieder.

Einen eher visuellen Zugang eröffnen graphisch ausgedrückte Formen der Analyse: bei der Kästchenmethode werden Haupt- und Gliedsätze getrennt und nach dem Grad ihrer Unterordnung kästchenweise (mit dem Hauptsatz in der obersten Zeile) unter- und nebeneinander gereiht. Bei der Einrückmethode steht der Hauptsatz (meist oben) ganz links, während die Gliedsätze (darunter) nach rechts und dem Grad ihrer Unterordnung folgend ihrerseits wieder untereinander und weiter nach rechts eingerückt werden. Gliedsätze gleichen Unterordnungsgrades sowie Teile unterbrochener Haupt- oder Gliedsätze besetzen – untereinander geschrieben – die ihnen (ursprünglich) zukommende, gleiche Einrückstelle.

 

2.1.2. Das sukzessive Vorgehen

 

Dieses orientiert sich möglichst eng am natürlichen Lesevorgang, welcher auf ein Verstehen des Satzes in der Reihenfolge seiner Bauteile abzielt. Hier führt der Weg also nicht vom syntaktisch dominanten Prädikat am Satzende zu den von ihm dominierten Satzgliedern, sondern diese determinieren umgekehrt in linearem Ablauf ihrer Funktionen das zunehmend vorherseh- und erwartbare Schlüsselwort der Aussage (Lohmann 1968):

 

hoc in hac iuncta moderateque permixta constitutione rei publicae non ferme sine magnis principum vitiis evenit. Non est enim causa conversionis, ubi in suo quisque est gradu firmiter collocatus et non subest, quo praecipitet ac decidat.

 

Auch das Aufgliedern und Übersetzen in Wortgruppen bzw. kolometrischer Anordnung (vgl. o. Analyse), beispielsweise Nomina und ihre Attribute, adverbiale Bestimmungen samt Erweiterung, Partizipial- oder nd-Gruppen, steht einer sukzessiven Aufnahme des Funktionszusammenhanges im Satz nicht grundsätzlich im Wege:

 

haec constitutio primum habet aequabilitatem quandam magnam, qua carere diutius vix possunt liberi, deinde firmitudinem, quod et illa prima facile in contraria vitia convertuntur, ut exsistat ex rege dominus …

 

Die Dreischritt- oder Pendelmethode verbindet lineares Vorgehen mit einem analytischen Ansatz: auf die Bestimmung des ersten (ggfs. mehrteiligen) Satzgliedes folgt das Hinüberpendeln zum Prädikat, welches auch im Hauptsatz der deutschen Übersetzung die zweite Stelle einnimmt. Darauf wird zum Beginn des Satzes zurück gependelt, und es folgen die übrigen Satzglieder in der im Deutschen richtigen Reihenfolge:

 

hoc in hac iuncta moderateque permixta constitutione rei publicae non ferme sine magnis principum vitiis evenit.

 

Denkbar wäre hier auch ein Ansteuern der weiteren Bauteile des Satzes, wie sie notwendig von der Valenz des Prädikates gefordert werden.

 

2.2. Die Arbeit an einer Textpassage als Ganzer

 

Diese sollte durch vorerschließende Schritte[8] entlastet werden, welche sowohl Informationen aus der Textumgebung sammeln, etwa Überschrift(en) und Abbildung(en), Realienkundliches (s.u. Textpragmatik), als auch solche aus dem Text selbst zu gewinnen suchen, also handelnde (oder sprechende – angesprochene) Personen, aussagekräftige Orte, Schlüsselwörter (samt möglichen Sachfeldern), Gliederung und sachlogische Abfolge durch verbindende / ordnende Wörter (Konnektorenanalyse) oder wechselnde Tempora. Textsorten (Bericht, Rede und Dialog, Beschreibung, Brief) bauen unterschiedliche Erwartungshaltungen an ihren Inhalt auf.

Das Lineare Dekodieren kann am einzelnen Satzgefüge (s.o.) wie auch an einer Reihe von mehreren Sätzen vorgenommen werden, verbindet also satz- und textbezogene Erschließungsverfahren. Dabei erfasst die Grobdekodierung alle Verbalinformationen als solche, über- wie untergeordnete (Konnektoren) oder eingebettete (von anderen abhängige) Verbformen – und damit die Satzstruktur – sowie erste nominale, mit Konnektoren oder Verbformen unmittelbar zusammenhängende Satzglieder. Die Feindekodierung bestimmt – in fließendem Übergang – und weist die weiteren Satzglieder von den Verbvalenzen her zu.

 

Quod ita cum sit, ex tribus primis generibus longe praestat mea sententia regium, regio autem ipsi praestabit id, quod erit aequatum et temperatum ex tribus primis rerum publicarum modis. placet enim esse quiddam in re publica praestans et regale, esse aliud auctoritati principum impartitum ac tributum, esse quasdam res servatas iudicio voluntatique multitudinis.

 

Maßgeblich unterstützt und begleitet wird dieses Verfahren durch ergänzende Beobachtungen: ein Tempusrelief gliedert die Erzählung in Hinter- und Vordergrundhandlung (Situation – Reaktion – Ergebnis). Die Thema-Rhema-Gliederung bezieht sich auf das informelle Verhältnis zweier oder mehrerer Sätze zueinander, benennt, was aus dem vorangehenden Satz übernommen, woran angeknüpft wird (Ausgangspunkt – Thema), und was als Neues hinzukommt (Fortschritt – Rhema), gibt mithin Aufschluss über die inhaltliche Struktur und den gedanklichen Ablauf eines Textes[9]. Stilmittel, auffällige Wortwahl und ungewöhnliche Wortstellung deuten vorab auf bestimmte Aussageabsichten von Autor oder Sprecher, stellen besondere Bezüge her oder zielen auf eine allgemeine Steigerung der Aussagewirkung. Weitergehende Überlegungen zur Pragmatik (soziale, politische, literarische Umstände, s.o. Realien) der Textproduktion münden von selbst in eine Kontrastierung zur Lebenswelt der Rezipierenden. Schließlich ist auch die Interpretation[10] auf der Grundlage einer angemessenen muttersprachlichen Übersetzung (Rekodierung) durchweg eine ganzheitliche Behandlung einer Textpartie.

 

  1. ÜBERLEGUNGEN ZUM LEKTÜREKANON

 

Mit diesen methodischen Erwägungen einher geht die inhaltliche Erfordernis durchgängiger Überprüfung und Reflexion des Angebots an Lektüre(n), mit welchem die Lebenswirklichkeit der Schüler angesprochen werden kann. Vier Vorschläge sollen als Ergänzung und / oder Alternative zu herkömmlichen Lektüregängen unterbreitet werden, ohne allerdings damit nun gleich in konkrete Lehrpläne einzelner Bundesländer eingreifen zu wollen: vorstellbar wäre jedenfalls eine Einordnung, welche das Thema Migration I (Mundus Novus) noch der späteren Mittelstufe überlässt und mit der Lebenswelt des Mittelalters (Carmina Burana) in die Oberstufe ‚einsteigt‘. Staats- und Gesellschaftstheorie ist und bleibt ein klassisches Thema in der Hochphase, während man Migration II (Vergils Aeneis und Ovids Tristien) wohl eher zum Ende der Oberstufe hin ansiedeln dürfte.

 

3.1. Migration (I): Neue Herren in fremden Ländern – lateinische Texte zur Eroberung der Neuen Welt

 

Mundus Novus – die Entdeckung neuer Welt(en): nachdem der Genuese Christoph Kolumbus für Königin Isabella von Spanien seit 1492 die Karibischen Inseln sowie die Küsten Mittel- und des nördlichen Südamerika angesteuert hatte, kehrt 1499 Vasco da Gama aus dem vorderindischen Calicut nach Portugal zurück, hat Südafrika und das Kap der Guten Hoffnung umrundet und damit tatsächlich den Seeweg nach Indien entdeckt[11]. Bereits 1497 hatte der Italiener in Diensten Heinrichs VII. von England Giovanni Caboto im Norden die Ostküste Kanadas (Neufundland) wiederentdeckt – um 1000 war erstmals der Norweger Leif Eriksson, Sohn Eriks des Roten, von Grönland nach Labrador und Nova Scotia abgedriftet.

1500 segelt Pedro Alvares Cabral entlang der Westküste Afrikas zunächst in südlicher Richtung, weicht indes den Windverhältnissen im Golf von Guinea nach Südwesten aus und sichert Portugal die Ostküste Brasiliens – auch er nicht ohne prominenten Vorläufer: Hanno von Karthago hatte um 500 v. Chr. an dieser Stelle vor dem Gabun/Kamerun seine Entdeckungsreise über die Straße von Gibraltar hinaus abbrechen und in der Bucht ‚Horn des Südwindes‘ umkehren müssen, weil man zur damaligen Zeit noch nicht gegen den Wind segeln konnte.

Der gebürtige Florentiner Amerigo Vespucci, im spanischen Sevilla Leiter der von Lorenzo de Medici gegründeten Handelsniederlassung, nahm zwischen 1497 und 1504 an vier Entdeckungsreisen nach Mittel- und Südamerika teil, die beiden letzten im Auftrag des portugiesischen Königs Emanuel I.; auf seiner dritten und wichtigsten betritt er 1502 die brasilianische Küste und berichtet in einem (italienisch abgefassten) Brief an den Herrn seines Bankhauses über das neuentdeckte Land.

Eine lateinische Fassung dieses Briefes taucht im Jahre 1503 zur gleichen Zeit in verschiedenen europäischen Städten unter dem Titel Mundus Novus auf[12]: am 14. Mai 1501 sticht Vespucci von Lissabon aus mit drei Schiffen nach Süden in See. Vorbei an den Kanaren und der nordafrikanischen Küste legen sie bei Cap Verde im Westen des Senegal und Gambias an der Küste Schwarzafrikas an, um von dort aus in südwestlicher Richtung den Atlantik zu überqueren und nach zwei Monaten an der Nordküste Brasiliens südlich der Amazonasmündung zu landen. Man fährt zunächst östlich, sodann um das heutige Recife herum weiter nach Süden und beschließt, die Landstriche zu erkunden: überall kommt es zu gastlichem Empfang und freundschaftlichem Umgang mit den Einheimischen, und diese schwanken in der Schilderung Vespuccis zwischen – zunächst durchaus positiv gesehenen – Naturkindern, sodann freilich monstra und bestiis similes

 

[Mundus Novus – Z. 90-177 quoad gentes …]

 

(123) Non habent pannos neque laneos neque lineos neque bombicinos, quia nec eis indigent; nec habent bona propria, sed omnia communia sunt; vivunt simul sine rege, sine imperio. Et unusquisque sibi ipsi dominus est. Tot uxores ducunt, quot volunt. Et filius coit cum matre et frater cum sorore; et primus cum prima; et obvius cum sibi obvia. Quotiens volunt, matrimonia dirimunt; et in his nullum servant ordinem. Praeterea nullum habent templum et nullam tenent legem, neque sunt idolatrae. Quid ultra dicam? Vivunt secundum naturam et Epicurei potius dici possunt quam Stoici. (129)

Non sunt inter eos mercatores neque commercia rerum. Populi inter se bella gerunt sine arte, sine ordine. […] Eorum arma sunt arcus et sagittae; et quando properant ad bella, nullam sui tutandi gratia corporis partem operiunt: adeo sunt et in hoc bestiis similes. (142)

 

Die Berichte über die Ankunft der Abgesandten aus der Alten in der neu entdeckten Welt, über die dort angetroffenen Kulturen und Gesellschaften führen seit der ersten Begegnung der Spanier mit den Eingeborenen auf Haiti im Oktober 1492 (® Petrus Martyr 1516) alsbald zu einem regen Streit um Behandlung und Wertschätzung der indigenen Völker und über Fragen wie: „Dürfen Indianer mit Gewalt bekehrt werden oder sollten Christen als Vorbild dienen ?“ (Franciscus de Victoria 1539), über die Sklavennatur der Azteken und ihre Kultur (J.G. de Sepúlveda 1545) sowie die Gegenthese, dass man von den Eingeborenen durchaus lernen könne (B. de Las Casas 1550)[13]. In diesen eingebettet ist die entschiedene und auf die oben skizzierte Betrachtungsweise der Indios zurückgehende Disputation vor Kaiser Karl V. zwischen dem spanischen Hofchronisten Juan Ginés de Sepúlveda und dem Dominikanermönch (und späteren Bischof von Guatemala) Bartolomé de Las Casas im Jahre 1550 über den Umgang mit den „barbarischen“ (?) Indianervölkern[14].

Auf der Grundlage von Vespuccis Beschreibung stehen vier Thesen von Sepúlvedas Apologia pro libro de iusti belli causis: deren erster, dass eine Unterwerfung der Barbaren auch mit Gewalt in Folge der kulturellen und zivilisatorischen Überlegenheit der Christen vom Naturrecht als bellum iustum abgedeckt sei, entgegnet de las Casas:

 

[Apologia – Z. 22-69 Indorum gens non est tali barbarie barbara]

 

Indorum gens non est tali barbarie barbara. Non enim stupidi, immanes vel efferi sunt, sed res publicas – etiam longe antequam Hispanicum nomen audissent – recte institutas habebant, nimirum optimis legibus, religione et institutis sobrie compositas. Amicitiam colebant et in societatem vitae coniuncti longe maximas incolebant civitates, ubi tam pacis quam belli negotia prudenter ex bono et aequo administrabant, nimirum gubernati legibus, quae plurimis in rebus nostras superant et Athenarum sapientibus admirationi esse possent. (35) […]

Artium liberalium, in quibus eruditi hactenus fuere, veluti grammaticae et logicae, insigniter periti sunt; omni genere musices admirabili dulcedine audientium aures deleniunt. Scribunt scite et politissime adeo, ut plerumque dubitetur, an manu descripti an vero typis excusi characteres sint. (49) […]

 

Abgerundet werden sollte dieser Lektürekreis aber durch einen Blick in die ganz entgegengesetzte geographische Richtung – statt in die Neue Welt nach Westen in das uns noch enger verbundene Morgenland. Dort hatten die osmanischen Türken 1453 das christliche Konstantinopel erobert; 1529 fallen Buda und Pest, Sultan Süleyman besetzt einen Großteil Ungarns und steht vor den Toren Wiens. Auch wenn dieses nicht eingenommen werden kann, sieht sich der Habsburger Ferdinand, Bruder Karls V., den Türken eher hilflos gegenüber. Auf diplomatischem Wege soll zumindest Zeit gewonnen werden … Dies ist die Mission des jungen Ogier Ghislain de Busbecq aus dem flandrischen Lille seit Anfang 1555 bis 1562 an der Hohen Pforte zu Istanbul[15]: seine ethnographischen „Briefe aus der Türkei“ (fiktiv und nach der Rückkehr 1581 abgefasst) sind Ausdruck einer vorurteilsfreien, von Toleranz geprägten Sicht auf das Fremde, das Andere, auf Menschen und Völker (auch der umgebenden: Georgier, Tataren, von der Krim und dem Balkan), ihre Kultur, auf Fauna und Flora – und dies vor dem Hintergrund voreingenommener und verfälschender, erfahrungsgesteuerter, aber mitunter auch bloß hasserfüllter Türkeiberichte früherer Zeitgenossen (Pilger, Kaufleute, Soldaten). 1529 hatte Luther seine „Heerpredigt wider den Türcken“ geschrieben. Busbecqs humanistische Interessen lassen ihn allen Spuren in der an griechischen und römischen Antica reichen Region nachgehen, und so entdeckt er auf der Durchreise an einer Hauswand in Ankara den (zweisprachigen) Tatenbericht des Augustus, das danach benannte Monumentum Ancyranum, und lässt eine Abschrift erstellen.

Die Begegnung zunächst fremder Kulturen, der Blick auf Herrscher und Würdenträger, die Stellung der Frau in der osmanischen Gesellschaft, Kleiderordnung auf beiden Seiten, der Umgang mit Andersgläubigen und die Rolle der Vorsehung, Infrastruktur und Militärwesen, Botanik und Tierhaltung – all dies Stichworte auch der gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskussion um Miteinander oder Nebeneinander, Integration oder Parallelwelten, Toleranz oder Abgrenzung gegenüber der größten anders geprägten Bevölkerungsgruppe in Deutschland. Und nicht zuletzt vor einem immer weiteren Horizont von Zuwanderung in die Gemeinwesen der Alten Welt zeigt die in diesen Texten der frühen Neuzeit – durchaus nach antiken Vorbildern – angestoßene Debatte eine besondere Aktualität und bettet sich eindringlich in das reale Leben der Schülerinnen und Schüler unserer Tage.

Beispielhaft für diese wechselseitige Akzeptanz ist Busbecqs Schilderung, wie der Pascha von Konstantinopel (Rüstem = Rustanus) versucht, seinen Gast zur Übernahme des islamischen Glaubens zu bewegen, und mit welcher geradezu Weltoffenheit er reagiert, als dieser freundlich, aber bestimmt ablehnt:

 

[S. 20 in der Textausgabe von Behrens (1998)]

 

Rustanus, cum de communibus negotiis mecum egisset, coepit familiarius se mihi dare atque eo postremo evasit, ut me interrogaret, cur non religioni eorum initiarer et veri Dei cultūs particeps fierem. Si faciam, mihi magnos honores et magna praemia a Suleimanno paratum iri (≈ parari [promisit]).

Respondeo, mihi certum esse manere in ea religione, in qua natus essem et quam dominus (= der Kaiser) meus profiteretur. „Pulchre“, inquit Rustanus, „sed tamen quid fiet de anima tua ?“

„Et de anima“, inquam, „bene spero.“

Tum ille, cum paulum cogitavisset: „Ita est profecto“, inquit. „Neque ego ab hac sententia absum illos aeternae beatitudinis participes fore, qui sancte innocenterque hanc vitam egerint, quamcumque religionem secuti sint.“

 

3.2. Die Lebenswelt des Mittelalters: – Auswahl aus den Carmina Burana

 

Unter dem Titel Carmina Burana versammeln sich die Vagantenlieder (mittel)lateinischer (und einige auch mittelhochdeutscher) Sprache einer 1803 im bayrischen Kloster Benediktbeuren gefundenen Handschrift aus dem 13. Jh. Wenngleich weltliche Lyrik, dürfte der Auftraggeber ein geistlicher Fürst aus dem gebildeten höfischen Klerus gewesen sein. Eine Auswahl wurde 1937 von Carl Orff als Carmina burana – cantiones profanae vertont und in Szene gesetzt.

Sie teilen sich thematisch in drei Bereiche[16]: die erste Gruppe moralisch-satirische Dichtungen, Liebeslyrik die andere in der Nachfolge eines Ovid (und abweichend von den Formen mittelalterlicher Minne), Trink- und Spielerlieder (sowie geistliche Dramen) die dritte. Das Selbstverständnis der Sänger als vagabundi und scholares schien ‚dem ersten Blick‘ auf deren eher niedrigen sozialen Status hinzuweisen, doch gingen sie aus dem bildungsbeflissenen Wanderstudententum des Hochmittelalters Richtung Frankreich und Italien hervor und bekleideten im späteren realen Leben an Hof wie Kirche offenkundig durchaus prominente Stellungen.

So entstammte auch der nicht weiter greifbare Archipoeta[17] einer deutschen (?) Ritterfamilie Mitte des 12. Jh. Student der Theologie und Philosophie, war er sodann als vates und poeta Schützling des Erzbischofs von Köln und (1157-67) Kanzlers Kaiser Friedrichs I. Barbarossa (1152-90), Reinald von Dassel, den er in seinen (außerhalb der CB überlieferten) Gedichten immer wieder um seinen Lebensunterhalt angeht (Archicancellarie, vir discrete mentiscarm. IV et passim). Die unter seinem Künstlernamen geführten (864) Verse zeigen Vertrautheit mit antiker und mittelalterlicher Literatur, seine Vagantenbeichte (CB 191) preist das diesseitige Leben mit seinen Lastern im Dienste der Venus (Str. 4-9), beim Würfelspiel (10) und in der Taverne (11/12), bis der Engel Chor um ewige Ruhe und Gnade für ihn singen wird. Des Weines Becher läßt ihn zu lichter Höhe steigen (13, 16/17) und, anders als seine nüchternen und lichtscheuen (14/15) Kollegen, des Wirtes Faß den von Apoll beseelten selbst Ovid im Sängerstreit besiegen (16-19). In je vier Vagantenzeilen gefasste (25) Strophen bilden die planvolle Gesamtkomposition dieser ‚Beichten-Parodie‘, welche unser Erzpoet wohl in Pavia (8,2; 9,1) vor seinem Gönner ‚ablegt‘:

 

[Vagantenbeichte (CB 191), Strophen 1-5 sowie 12 (= Orff, In Extremo)]

Estuans intrinsecus                 ira vehementi

in amaritudine loquar              mee menti:

factus de materia                      levis elementi 

folio sum similis                       de quo ludunt venti.

 

Cum sit enim proprium                       viro sapienti

supra petram ponere                sedem fundamenti,

stultus ego comparor               fluvio labenti 

sub eodem aere             numquam permanenti.

 

Feror ego veluti                        sine nauta navis,

ut per vias aeris                        vaga fertur avis.

non me tenent vincula,                        non me tenet clavis, 

quero mei similes                      et adiungor pravis.

 

Mihi cordis gravitas                 res videtur gravis,

iocus est amabilis                     dulciorque favis;

quicquid Venus imperat,                     labor est suavis; 

que numquam in cordibus                   habitat ignavis.

 

Via lata gradior                        more iuventutis,

implico me vitiis                       immemor virtutis,

voluptatis avidus                     magis quam salutis, 

mortuus in anima                    curam gero cutis.

 

Meum est propositum             in taberna mori,

ut sint vina proxima                morientis ori.

tunc cantabunt letius              angelorum chori:

„Sit deus propitius                   huic potatori.“

 

Dieses Carmen hat auch Carl Orff unter seine Vertonungen aufgenommen: es leitet dort mit seiner ersten Halbzeile Estuans interius und den Strophen 1-5 die vierteilige Folge In taberna ein. Eine zeitgenössische, textlich freie Adaptation der Strophen 1, 3 und 12 legt 2001 die Mittelalter-Rock-Gruppe ‚In Extremo‘ vor: Schäume nur, mein wildes Herz (– zeigt der Sinn …, auf dem Album Sünder ohne Zügel)[18].

Das Bittgedicht (CB 220, in vier Vagantenstrophen) an die viri litterati, die Musenfreunde (v. 2), wird das Bild unseres unverschuldet (v. 8) armen, aber aufrichtigen scolaris in der Nachfolge Vergils (v. 12) abrunden, welcher doch bloß seine Dichterexistenz leben möchte, da er zum Landmann so wenig tauge wie zum Soldaten – und (v. 15 f.) zum Betrüger oder gar Dieb nicht werden (müssen) will …:

 

[Bittgedicht (CB 220) Saepe de miseria …]

 

S(a)epe de miseria                   me(a)e paupertatis

conqueror in carmine             viris litteratis;

laïci non capiunt                    ea, qu(a)e sunt vatis,

et nil mi(c)hi tribuunt,                       quod est notum satis.

 

Poeta pauperior                      omnibus poetis

ni(c)hil prorsus habeo             nisi quod videtis,

unde s(a)epe lugeo,                 quando vos ridetis;

nec me meo vitio                     pauperem putetis.

 

Fodere non debeo,                   quia sum scolaris

ortus ex militibus                   pr(o)eliandi gnaris;

sed quia me terruit                 labor militaris,

malui Virgilium                     sequi quam te, Paris.

 

Mendicare pudor est,             mendicare nolo;

fures multa possident,                        sed non absque dolo.

Quid ergo iam faciam,                        qui nec agros colo

nec mendicus fieri                  nec fur esse volo ?

 

Als nicht ganz ernst gemeinte Zusatzlektüre zum Abschluß zeigt sich denudata veritate der vergnügliche Disput zwischen Wein und Wasser (CB 193 succinctaque brevitate [!], in 29 sechszeiligen Stabat-mater-Strophen) eines gewissen Petrus über den soziokulturellen Beitrag des Einen wie des Anderen zu einem gepflegten Menschsein … kurz: das Wasser wird zum Schweigen gebracht und trollt sich unter Tränen, der große terminator droht dem mit Fluch, welcher Beide mischt (miscens execretur). Das tut vielmehr Hugo Primas von Orléans (12. Jh.) in den Distichen des darauffolgenden Epigramms[19], um es aber sogleich und mit der Autorität des Herrn an der Hochzeit zu Kana (Joh. 2, 1-11) wieder zu verwerfen.

 

3.3. Staats- und Gesellschaftstheorie: – Polybios und Cicero über den Kreislauf der Verfassungen und die Mischverfassung als die beste Staatsform

 

Ein Grundlagentext jeder politischen Debatte ist zweifellos Ciceros De re publica, und hier vor Allem das erste Buch, mit welchem die staatstheoretische Diskussion des Hellenismus, namentlich im Peripatos, zusammengefasst wird. Das Werk[20] stellt sich mit seinem Titel in die Nachfolge von Platons Politeia (ebenso wie seine gleichsam praktische Nachfolgeschrift de legibus zu dessen Nomoi); eine Antwort aus christlicher Sicht gibt der Kirchenvater Augustinus in seiner Civitas Dei. Schon der Apologet Laktanz setzt sich in B. 5 und 6 seiner Divinae institutiones (304 ff.) mit Ciceros Schrift auseinander. Weitergeführt werden die staatstheoretischen Entwürfe durch Thomas Morus‘ Utopia (1516), Thomas Hobbbes‘ Leviathan (1651) oder John Lockes (zweiten der) Two treatises of government (1690), aber auch in Charles de Montesquieus Prinzip der Gewaltenteilung De l’esprit des lois (1748), J.J. Rousseaus Contrat social (1762) sowie den Rechtsphilosophien Immanuel Kants (1785 ff.) und G.F.W. Hegels von 1820.

Kerngedanken des ersten Buchs sind der Kreislauf der wechselnden Verfassungen und die Mischverfassung als die beste Staatsform, verwirklicht im besten empirisch existenten Gemeinwesen – Rom: dies jedenfalls die Überzeugung des griechischen Historikers Polybios (um 200 bis nach 120 v. Chr.), kriegsgefangener Offizier aus dem Achäischen Bund und in Rom sodann Mitglied des legendären ‚Scipionenkreises‘[21] um den jüngeren Africanus (185-129); dessen Gespräch an den Feriae Latinae des Jahres 129 mit Freunden (Laelius, L. Furius Philus, Manilius u.a.) will den Brüdern Cicerones durch den letzten noch lebenden Teilnehmer P. Rutilius Rufus 78 v. Chr. im kleinasiatischen Smyrna übermittelt worden sein (rep. I 13). Tatsächlich ist der Dialog zwischen 54 und 51 entstanden.

Der Gedanke der Mischverfassung, welche Elemente der drei ‚klassischen‘ Staatswesen Monarchie, Aristokratie und Demokratie (Aristoteles, Politiká 1279 a 22 ff.) in sich vereint[22], um ihre (gleichfalls drei) Entartungsformen zu vermeiden, wird auf Dikaiarchos, Aristoteles-Schüler und praktischer Politiker seiner Heimatstadt Messene (* vor 340 v. Chr.), zurückgeführt. Polybios entwickelt ihn zusammen mit der Auffassung von der Anakýklōsis[23], dem Kreislauf der Verfassungen (Arist. Pol. 1286 b 10-22), ausführlich in Buch VI seiner Historien (c. 3-9) und liefert somit die Grundlage für die entsprechenden Partien in Scipios bzw. Ciceros Verfassungsentwurf (rep. I 42-53: die Grundformen und ihre Entartungen; 65-68: der Kreislauf; 69: die gemischte Form): Verfassungen kommen und gehen, sind vorbildlich, geraten aus den Fugen und außer Kontrolle, und vor Entartung und Zerfall schützt alleine die vernunftgesteuerte Mischung aus Allen, indem sie die Vorzüge einer Jeden nutzt und ihren Schwächen keinen Raum gibt.

Wie es hingegen in einer Bürgerschaft schon bald zugehen kann, wenn etwa das Volk den ungerechten König, den Tyrannen stürzt, die Macht übernimmt, doch dann nicht über sich selbst zu herrschen vermag, beschreibt Scipio mit den drastischen Worten Platons[24] – und diese sprechen für sich …:

 

(66) „Cum inexplebiles populi fauces exaruerunt libertatis siti, malisque usus ille ministris non modice temperatam sed nimis meracam libertatem sitiens hausit, tum magistratus et principes, nisi valde lenes et remissi sint et large sibi libertatem ministrent, insequitur insimulat arguit, praepotentes reges tyrannos vocat. […] (67) eos, qui pareant principibus, agitari ab eo populo et servos voluntarios appellari; eos autem, qui in magistratu privatorum similes esse velint, eosque privatos, qui efficiant, ne quid inter privatum et magistratum differat, efferunt laudibus et mactant honoribus, ut necesse sit in eius modi re publica plena libertatis esse omnia“.

 

Der Durst nach Freiheit macht empfänglich für einen allzu reinen, nicht maßvoll gemischten Trunk, von schlechten Mundschenken gereicht, und lässt das Volk jede Art von staatlicher Autorität (principes) sogleich wieder als Tyrannis, Gehorsam indes und Trennung von Amt und Person als freiwillige Knechtschaft beklagen, Laissez-faire zum Maß aller Dinge erklären. Und der Beschreibung dieser neuen Gesellschaft muss eine – soziologisch korrekt bereinigte – Wertung nicht eigens angefügt werden:

 

„ … ut et privata domus omnis vacet dominatione et hoc malum usque ad bestias perveniat, denique ut pater filium metuat, filius patrem neclegat, absit omnis pudor, ut plane liberi sint, nihil intersit civis an peregrinus, magister ut discipulos metuat et iis blandiatur, spernantque discipuli magistros, adulescentes ut senum sibi pondus adsumant, senes autem ad ludum adulescentium descendant, ne sint iis odiosi et graves; ex quo fit ut etiam servi se liberius gerant, uxores eodem iure sint quo viri, inque tanta libertate canes etiam et equi, aselli denique libere sic incurrant, ut iis de via decedendum sit. ergo ex hac infinita licentia haec summa cogitur, ut ita fastidiosae mollesque mentes evadant civium, ut si minima vis adhibeatur imperii, irascantur et perferre nequeant; ex quo leges quoque incipiunt neclegere, ut plane sine ullo domino sint [– recht frei nach Politeía 562 c 8 – 563 e 1).

 

Am Ende steht die Einebnung aller vernunftgegebenen Unterschiede, Anbiederung und Verhöhnung jeglichen Ansehens, Unfähigkeit zu Loyalität gegenüber einer Staatsgewalt (imperium) und ihren Gesetzen, ist aus der radikalen Freiheit (nimis meraca libertas) eine ins Lächerliche übersteigerte Schrankenlosigkeit (infinita licentia) geworden, welcher jede gesellschaftliche Struktur abhanden gekommen ist.

 

3.4. Migration (II): Flüchtlinge aus Kleinasien im Abendland

 

Die Konstellation der Geschichte mutet sonderbar vertraut an: eine blühende Metropole wird – aus einer politisch gewollten Kombination vorgeschobener und wahrer Gründe – zerstört, geplündert, niedergebrannt, ihre männlichen Einwohner massakriert, die weiblichen einer ihrer nicht gemäßen Bestimmung zugeführt; einer kleinen Schar begünstigter Überlebender gelingt auf abenteuerliche Weise die Flucht auf eine ‚Reise‘ ins Ungewisse … soweit aus dem Epischen Kyklos wohlbekannt; die Irrfahrten erstrecken sich über ein Meer, welches seinerzeit die Oikūménē Gḗ miteinander verband und auch in heutiger Zeit wieder zu einem Schicksalsmeer zwischen drei Kontinenten geworden ist, das mare nostrum im eigentlichen Wortsinne …

Wir reden von Aeneas und seinen troianischen Schicksalsgenossinnen und -genossen; in einem odysseischen Kontext treten sie nach ihrer Flucht aus dem brennenden Ilion in unseren Gesichtskreis, vor der Küste des heutigen Tunesien. Dort finden die schiffbrüchigen Flüchtlinge zum ersten Mal eine gast- und freundschaftliche Aufnahme – Dido, Königin des gerade erstehenden Karthago, mit eigenständigem Migrationshintergrund, nimmt den (durchaus nicht unbekannten) Ankömmlingen gleich zu Beginn die Furcht vor den – notwendigen – Grenzsicherungsmaßnahmen (Vergil, Aeneis I):

 

„Solvite corde metum, Teucri, secludite curas.

Res dura et regni novitas me talia cogunt

moliri, et late finis custode tueri.

Quis genus Aeneadum, quis Troiae nesciat urbem, (565)

virtutesque virosque, aut tanti incendia belli ?

Non obtusa adeo gestamus pectora Poeni,

nec tam aversus equos Tyria Sol iungit ab urbe.

Seu vos Hesperiam magnam Saturniaque arva,

sive Erycis finis regemque optatis Acesten, (570)

auxilio tutos dimittam, opibusque iuvabo.

Voltis et his mecum pariter considere regnis;

urbem quam statuo vestra est, subducite navis;

Tros Tyriusque mihi nullo discrimine agetur.

 

Erkennbare Motive der Aufnehmenden sind die Prominenz der Flüchtlinge (565 f.), Mitgefühl (567), nicht zuletzt die Aussicht auf Bündniszuwachs (572-74). Um das gemeinsame Flüchtlingsschicksal weiß Aeneas von seiner Mutter (340-68), Dido lässt es anklingen (628-30). Die Liebe der infelix (749) zum rex ipse kommt – tragisch und gesteuert allerdings von außen – in der Folge hinzu … Doch die Aufgenommenen ziehen weiter – nicht, weil sie in Karthago nicht bleiben wollten, es ihnen dort (gefühlt oder tatsächlich) nicht gut genug erginge, sondern weil sie ihrem Anführer an einen anderen Ort folgen müssen – die fata

Nach einem dramatischen Abschied aus Karthago (Aen. IV), welcher Grundlage für eine kommende Erbfeindschaft sein wird, segeln die Migranten von ihrem sicheren Erstaufnahmeland in Nordafrika aus Richtung Italien, welches sie über einen Zwischenstopp in Sizilien (V) – auch dort vom heimischen, troiastämmigen (61) Regenten willkommen geheißen – ungefährdet erreichen. Am Strand von Cumae gelandet, muss ihr Anführer wie weiland Odysseus[25] zunächst der Unterwelt (VI) einen Orientierungsbesuch abstatten, bevor (VII) zeichengestützt (116-29) Latium als Ort dauerhafter Ansiedlung feststeht. Und auch dort wendet sich der ortsansässige König Latinus gastfreundlich und verständnisvoll (199 f.) den hilfesuchenden und vom Hörensagen angekündigten (195 f.) Neuankömmlingen aus einem fernen Land (198) zu – einer der Gründerväter Troias war von eben hier (206 f.) zu seiner Wanderung ins kleinasiatische Phrygien aufgebrochen:

 

„dicite, Dardanidae (neque enim nescimus et urbem (195)

et genus, auditique advertitis aequore cursum),

quid petitis? quae causa rates aut cuius egentis

litus ad Ausonium tot per vada caerula vexit ?

sive errore viae seu tempestatibus acti,

qualia multa mari nautae patiuntur in alto, (200)

fluminis intrastis ripas portuque sedetis,

ne fugite hospitium, neve ignorate Latinos

Saturni gentem haud vinclo nec legibus aequam,

sponte sua veterisque dei se more tenentem.

atque equidem memini (fama est obscurior annis) (205)

Auruncos ita ferre senes, his ortus ut agris

Dardanus Idaeas Phrygiae penetrarit ad urbes

Threiciamque Samum, quae nunc Samothracia fertur.“

 

Und es ist eigener Antrieb, welcher die Latiner die Fremdlinge aufnehmen lässt, noch nicht einmal gesetzlich geregeltes Gastrecht, sondern alter Götterbrauch (203 f.) – auf welchen auch Odysseus sich beruft, und welchen der Kyklop Polyphem lauthals missachtet (Homer, Od. IX 266-78). Überhaupt ist dieser homerische Irrfahrer (zusammen mit seinen Gefährten) eine Dauerexistenz als Fremdling und Flüchtling: bei den Phaiaken gestrandet, wird er (Od. VI) von der Königstochter Nausikaa selbstverständlich (191-93) und mit Verweis auf Zeus (206-10) erstversorgt – und nach gestalterischem Eingriff Athenes gar als Ehemann erwünscht (244 f.) –, sodann von Kronrat (VII 159-66) und Königspaar (179 ff.) willkommen geheißen. Endlich in der Heimat gelandet, ist es der göttliche Schweinehirt Eumaios, welcher dem zunächst Unbekannten Zuflucht und Obdach gewährt (Od. XIV 45 ff.), auch er nicht ohne Zeus als Gewährsmann (56-58). Die Stationen bei Kirke auf der ostwärts gelegenen Märcheninsel Aiaia im zehnten (308 ff.) und bei Kalypso auf der westlichen Ogygia im fünften Buch (dazu VII 244-66) der Odyssee sind von anderer, speziellerer Situation, überspannen freilich das gesamte Mittelmeer – und darüber hinaus … am Ende werden – und sollen humoris causā der Abrundung dieser von Epos zu Tragödie zu Komödie mehr als schillernden Figur halber auch hier nicht vorenthalten werden – aus Flüchtlingen gar Abenteurer: in der Divina Commedía des Florentiners Dante Alighieri (1265-1321) schildert der im Inferno für seine Listen vor Troia büßende Odysseus dem Dichter und seinem Cicerone Vergil (XXVI 91-142) ihre letzte Fahrt jenseits der Säulen, welche Herakles den Menschen als Grenze gesetzt hatte (109 f.)[26]:

 

(85) […] „Nachdem ich mich getrennt hatte von Kirke, die länger als ein Jahr mich an sich zog dort bei Gaeta, bevor Aeneas der Stadt diesen Namen gab, da konnten weder die Süßigkeit meines kleinen Sohns noch die Pietät für den alten Vater, noch die Liebe, die ich, sie heiter zu machen, Penelope schuldete, die Glut besiegen, die in mir war, die Welt zu erfahren, Menschenwert und Menschenunwert. Sondern ich segelte hinaus aufs hohe offene Meer mit einem einzigen Boot und mit der kleinen Schar, die mich nie im Stich ließ. Beide Ufer sah ich, bis hin nach Spanien, bis hin nach Marokko, und die Insel der Sarden und die anderen, die dieses Meer rings umspült. [d.h.: es entfallen alle Abenteuer, die in der homerischen Odyssee nach dem 10. Gesang erzählt werden, dazu die dramaturgisch vorangestellten Ogygia- und Phaiaken-Episoden].

(106) Ich und die Gefährten, wir waren alt geworden und zögernd, als wir zu dem engen Durchlass kamen, wo Herkules seine Warnung gesetzt hat, dass der Mensch nicht weitergehe [= Meerenge von Gibraltar]. Rechts ließ ich Sevilla liegen, links hatte ich Ceuta gelassen.

(112) ‚O Brüder‘, sagte ich, ‚nun seid ihr durch hunderttausend Gefahren zum Westen gelangt, verweigert doch nicht der, ach, so kurzen Nachtwache unserer Sinne, die uns noch bleibt, die Erfahrung der Rückseite der Sonne, der Welt ohne Menschen. Schaut auf euern Ursprung: Ihr seid nicht geschaffen, zu leben wie die Tiere, sondern für richtige Tat und Erkenntnis.‘

(121) Mit dieser kleinen Rede machte ich meine Gefährten so begierig auf die Fahrt, dass ich sie hätte kaum noch zurückhalten können. Wir kehrten unser Heck gen Osten, machten aus unseren Rudern Flügel zum irr-gewagten Flug und kamen zur linken Hand hin immer weiter voran. Schon sah ich des Nachts alle Sterne des anderen Pols [also des Südpols], und unsrer lag so tief, dass er sich über die Meeresfläche nicht mehr erhob.

(130) Das Mondlicht war fünfmal neu aufgegangen und erloschen, seit wir die hohe Fahrt begonnen, da erblickten wir einen Berg, in der Entfernung dunkel und so hoch, wie ich noch keinen gesehen hatte. Wir freuten uns, doch bald kam der Jammer, denn von dem neuen Land her brach ein Wirbelsturm los und traf vom Schiff den Bug. Dreimal wirbelte er es herum mit dem Strudel. Beim vierten Mal hob er das Heck und versenkte den Bug, wie Einer es wollte. Bis das Meer sich über uns schloß.“

 

Der Epische Kyklos hält zwei weitere Versionen vom Ende des Rastlosen bereit, welche allerdings das Odyssee-Geschehen erst geschehen lassen, bevor sie dessen noch ‚offene Enden‘ (Kirke, Telégonos und Telemach) zusammenführen (die Thesprotis behält eher regionalen Charakter). Waren es bei Dante Tatkraft und Entdeckungslust, so lässt auch bei seinem Landsmann Nikos Kazantzakis, welcher die Odissia (1938) forterzählt, unbändiger Freiheitsdrang dem von der vorgefundenen Enge seiner wiedergewonnenen Heimat Enttäuschten keine Ruhe. Jean Giono, Naissance de l‘Odyssée (1930) und Walter Jens, Das Testament des Odysseus (1957) heben die Geschichte des Heimkehrers auf eine sublimere Ebene – und von unserer Thematik endgültig weg …

 

Wie sehr erzwungener Heimatverlust[27] den Vertriebenen, den Flüchtling, den ‚Ausländer‘ leiden lassen kann, hat in der Antike kaum Jemand eindringlicher beschrieben als der tenerorum lusor amorum, der römische Stadtdichter Ovid in seinen Tristien. In der X. Elegie des vierten Buches beklagt er – autobiographisch und durchaus subtil, daher aber auch wenig konkret – eine angeordnete (90), in allen Zumutungen (102 ff.) standhaft ertragene Flucht aus Italien und sein trauriges Exilantendasein in der provinziellen Ferne der westlichen Schwarzmeerküste:

 

tacta mihi tandem longis erroribus acto

iuncta pharetratis Sarmatis ora Getis. (110)

hic ego, finitimis quamvis circumsoner armis,

tristia, quo possum, carmine fata levo.

quod quamvis nemo est, cuius referatur ad aures,

sic tamen absumo decipioque diem.

ergo quod vivo durisque laboribus obsto, (115)

nec me sollicitae taedia lucis habent,

gratia, Musa, tibi: nam tu solacia praebes,

tu curae requies, tu medicina venis.

tu dux et comes es, tu nos abducis ab Histro,

in medioque mihi das Helicone locum. (120)

tu mihi, quod rarum est, vivo sublime dedisti

nomen, ab exequiis quod dare fama solet.

nec, qui detrectat praesentia, Livor iniquo

ullum de nostris dente momordit opus.

nam tulerint magnos cum saecula nostra poetas, (125)

non fuit ingenio fama maligna meo,

cumque ego praeponam multos mihi, non minor illis

dicor et in toto plurimus orbe legor.

si quid habent igitur vatum praesagia veri,

protinus ut moriar, non ero, terra, tuus. (130)

 

Auch wenn hier kein Köcherträger (pharetratus) seiner Dichtung ein Ohr leiht (110-13), er reell am Unterlauf der Donau (Hister), in Tomi (97, dem heutigen Constantza in Rumänien) und nicht wie Hesiod (theog. 1-35) am Musenberge Helikon weilt (119 f.), so trösten ihn doch zu Lebzeiten (!) und unter Gleichrangigen das Ausbleiben von Neid, der Weltenruhm und die Ewigkeit (121-30), erfährt er Halt durch die Tochter Iuppiters, behauptet er sich an ihrem heiligen Hügel gegenüber dem palatinischen in Rom (115-20). Gleichwohl verweigert der prominente Relegat auf Erden nicht die Integration in der Fremde – er unterzieht sich dichterischen Übungen auch in der Sprache der einheimischen Geten, aber das lässt ihn nicht wirklich zum Landeskind werden …

 

Lebensgefühl und gesellschaftspolitische Debatte, der Umgang mit Fremdheit und Ferne, das Ringen um die neue Kultur (und Sprache) – Verfremdung oder bereichernde Ergänzung ? – , die Vertrautheit der gewohnten, weil gewachsenen Lebensumwelt und die Erfahrung ihres Verlustes, die Bemühungen ‚anzukommen‘ wie das Streben nach einem Neuanfang, ferner Einrichtung, Gestaltung, Entwicklung des sozialen Umfelds und die (Selbst-)Behauptung darin, das Finden des eigenen Lebensstandpunktes: auf der Grundlage von Kompetenzen in den Bereichen Sprache (Wortschatz und Grammatik), Text (Erschließen – Übersetzen – Interpretieren) und Kultur werden damit angesprochen im Rahmen gegenwärtiger (Allgemein-)Bildungsdebatte(n) interkulturelle Kompetenz (nach außen in der Begegnung mit dem Fremden – Mundus Novus) wie personale in Verbindung mit sozialer Kompetenz (nach innen in der Begegnung mit den Grundstrukturen des eigenen Gemeinwesens – Politeía / De re publica), das Bewusstsein um die persönliche historische Dimension in der Begegnung mit der Lebenswelt des Hochmittelalters (Carmina Burana) wie die Erkenntnis oder wenigstens doch der Blick auf die Condicio humana in der empathischen Begegnung mit dem Schicksal des Flüchtlings (Vergils Aeneas) und dem Dasein als Exilant (Ovid). Diese erweitern sich und repräsentieren in der Folge allesamt existentielle Fragestellungen antiker wie heutiger Schülerwelten – diese in unterschiedlichen literarischen Ausdrucksformen beispielhaft nachvollziehbar zu machen, ist das gemeinsame und zugleich übergeordnete Anliegen der hier vorgeschlagenen Ergänzungen des ‚klassischen‘ schulischen Lektüreangebots.

 

Universität Koblenz / PTHV Vallendar

m.p.schmude@gmx.de  

[1] Gemeinsamer Europäischer Referenzrahmen für Sprachen: lernen, lehren, beurteilen (Berlin 2001), insbes. zur „Sprachmittlung“ (Übersetzen, Dolmetschen) S. 89 f. – Vgl. auch G. Hille-Coates: Der GER und mündliche Leistungsmessung im Lateinunterricht, in: DAU 47/6 (2004), S. 16-26.

[2] H. Meusel: Wortschatzarbeit, in: W. Höhn, N. Zink: Hb. für den Lateinunterricht, Sek I (Frankfurt a.M. 1987), S. 139-60; I. Singer-Neumaier: Wortschatzarbeit im Anfangsunterricht Latein, in: MDAV-Niedersachsen 56/1 (2006), S. 24-31; Th. Wirth, Chr. Seidl, Chr. Utzinger: Sprache und Allgemeinbildung. Neue und alte Wege für den alt- und modernsprachlichen Unterricht am Gymnasium, Zürich 2006, S. 108-12, 153-62, 201-22. Einige Hefte des Altsprachlichen Unterrichts (DAU) haben die Wortschatzarbeit als Schwerpunktthema – zuletzt zuletzt DAU 42/4 (1999), 48/6 (2005). Themenhefte Englisch und Latein DAU 45/1 (2002), Latein und Romanische Sprachen DAU 48/4 (2005). S. Doff, St. Kipf: „When in Rome, do as the Romans do …“ – Plädoyer und Vorschläge für eine Kooperation der Schulfremdsprachen Englisch und Latein, in: Pegasus 7/2 (2007), S. 1-14 sowie Forum Classicum 50 (2007), S. 256-66; dies.: English meets Latin: Unterricht entwickeln – Schulfremdsprachen vernetzen (Bamberg 2013); G. Hille-Coates: Crossover Englisch – Latein (Göttingen 2013); D. Schmitz: Latein und Griechisch als Basisfächer für das Erlernen der spanischen Sprache, in: Forum Classicum 47 (2004), S. 189-95; Th. Brückner: Von Romulus zu Berlusconi – Latein und seine Tochtersprachen, in: Forum Classicum 47 (2004), S. 271-73; C. Wurm: Latein und romanische Sprachen – Dantes De vulgari eloquentia und der Diálogo de la lengua des Juan de Valdés, in: Forum Classicum 58 (2015), S. 111-17. M. Mader: Lateinische Wortkunde für Alt- und Neusprachler. Der lateinische Grundwortschatz im Italienischen, Spanischen, Französischen und Englischen (Stuttgart 32005); D. Stratenwerth: Lateinische Vokabeln in heutiger Gestalt, in: Pegasus 6/2+3 (2006), S. 13-27; K. Siebel: Lateinischer Wortschatz als Brücke zur Mehrsprachigkeit. Eine Durchsicht des Aufgabenspektrums aktueller Lateinlehrwerke, in: Pegasus 11/1 (2011), S. 102-32. St. Natzel-Glei: „Hier werden Sie geholfen !“ Latein und muttersprachliche Kompetenz, in: Pegasus 5/1 (2005), S. 46-58; P. Kuhlmann: Der lateinische Einfluss auf Lexik, Morphologie und Syntax des Deutschen – ein Überblick, in: Forum Classicum 53 (2010), S. 218-26; C. Helm: Das Lateinische als gebende und nehmende Kontaktsprache, in: Forum Classicum 54 (2011), S. 123-30. Zum Verhältnis zwischen der Mutter- bzw. Herkunftssprache Türkisch und Latein in der Schule H.-J. Schulz-Koppe, in: Forum Classicum 57 (2014), S. 46-50 und M. Pait: Türkisch – eine Herkunftssprache im Vergleich, in: St. Kipf, (2014), S. 43-58. St. Kipf: Integration durch Bildung – Schülerinnen und Schüler nichtdeutscher Herkunftssprache lernen Latein, in: Forum Classicum 53 (2010), S. 181-97; ders. (Hg.): Integration durch Sprache. Schüler nichtdeutscher Herkunftssprache lernen Latein, Bamberg 2014.

[3] Zu den verschiedenen Satz- und Texterschließungsverfahren (in Auswahl): D. Lohmann: Die Schulung des natürlichen Verstehens im Lateinunterricht, in: DAU 11/3 (1968), S. 5-40; H.-J. Glücklich: DAU 30/1 (1987), S. 5-36; W. Heilmann und D. Lohmann: Texterschließung – ein Ratespiel oder mehr?, in: DAU 33/3 (1990), S. 6-23; W. Meincke: DAU 36/4+5 (1993), S. 69-84; H.-J. Glücklich: Lateinunterricht. Didaktik und Methodik (Göttingen 31996, ND), S. 57-83; P. Kuhlmann: Fachdidaktik Latein kompakt (Göttingen 2009), S. 94-119; M. Keip, Th. Doepner: Übersetzung und Texterschließung, in: M. K., Th. D.: Interaktive Fachdidaktik Latein (Göttingen 2010), S. 81-112; M. Gucanin: Über die Herkunft des Konstruierens. Eine Betrachtung aus fachdidaktischer Perspektive, in: Pegasus 13/1+2 (2013), S. 16-32. Themenheft Texterschließung DAU 56/6 (2013). Nützliche Übersicht von R. Frölich, in: K. Sundermann (Hg.): Die Weiterbildungslehrgänge Latein (Mainz 2013 [Impulse 15]), S. 178.

[4] E. Hermes: Verstehen und Übersetzen, in: DAU 9/2 (1966), S. 5-14; M. Fuhrmann: Die gute Übersetzung. Was zeichnet sie aus, und gehört sie zum Pensum des altsprachlichen Unterrichts ?, in: DAU 35/1 (1992), S. 4-20; H. E. Herkendell: Überlegungen zu Textverstehen und Übersetzen, in: DAU 38/1 (1995), S. 19-32; ders.: Textverständnis und Übersetzung, in: DAU 46/3 (2003), S. 4-13; J. Bertram: Zu Paraphrase und Übersetzung von Texten, in: ebda. (Themenheft Übersetzung), S. 34-39; M. Krell: Kein Leseverstehen ohne Sprechen und Schreiben !, in: Forum Classicum 49 (2006), S. 109-21; D. Lohmann: Auf Neues habe ich Lust – über die Bedeutung der Reihenfolge für das Verstehen und Übersetzen, in: Forum Classicum 50 (2007), S. 164-75; L. Florian: Übersetzen und Verstehen im Lateinunterricht. Eine empirische Untersuchung, in: Pegasus 13/1+2 (2013), S. 1-15; P. Kußmaul: Verstehen und Übersetzen (Tübingen 32014); P. Kuhlmann: Lernpsychologische Voraussetzungen für das Verstehen von Texten und Übersetzungs- sowie Erschließungsverfahren, in: Scrinium 59/1, 2014, S. 3-24. Themenheft Textübersetzung DAU 58/5 (2015). Zur Entwicklungsgeschichte St. Kipf: Historia magistra scholae. Historische Bildungsforschung als Aufgabe altsprachlicher Didaktik, in: Pegasus 9/1 (2009), S. 1-19.

[5] W. Kempkes: „Lepus ein Has sedebat er saß in via auf der Straße…“. Kolometrisch-synoptisches Lesen, in: DAU 47/1 (2004), S. 64-67.

[6] H.-J. Glücklich: Lineares Dekodieren, Textlinguistik und typisch lateinische Satzelemente, in: DAU 19/5 (1976), S. 5-36.

[7] Zur Dependenzgrammatik H. Happ: DG und Latein-Unterricht, Göttingen 1977; zur generativen Transformationsgrammatik im altsprachlichen Unterricht J. Klowski: DAU 14/2 (1971), S. 5-19; W. Heilmann ebda. 16/5 (1973), S. 46-64; H. Steinthal: Zur Praxis einer transformationell-generativen Grammatik im Lateinunterricht, in: Gymnasium 80 (1973), S. 101-28. Die valenzgrammatische Übersetzungsmethode und ein linguistisch fundiertes Analyseinstrumentarium zur Durchdringung der syntaktischen Struktur lateinischer Sätze stellt (mit weiterer Literatur seit den 70er Jahren) K. Tummuseit vor: Zur Förderung der Übersetzungskompetenz – Valenzgrammatische Satzbaupläne im Lateinunterricht der Sekundarstufe II, in: Pegasus 10/1 (2010), S. 114-35.

[8] H.-E. Pester: Kritischer Blick auf die „ganzheitliche Vorerschließung“, in: DAU 38/1 (1995), S. 37-47.

[9] Verfahren also der Textgrammatik, hierzu K. Elsner: Vordergrund und Hintergrund im Lateinischen, in: DAU 16/2 (1973), S. 56-61; H.-J. Glücklich, R. Nickel, P. Petersen: Interpretatio. Neue lateinische Textgrammatik, Freiburg 1980; H. Vester: Zum Umgang mit den Erzähltempora, in: DAU 30/1 (1987), S. 50-63; K. Weddigen: Thema und Rhema. Überlegungen zu einer Methode der Texterfahrung, in: DAU 31/6 (1988), S. 7-28; Glücklich: Lateinunterricht (31996), S. 99 f.; G. Fink, F. Maier: Konkrete Fachdidaktik Latein (München 1996, ND), S. 122 f., 127 f.

[10] Zur Interpretation Glücklich, Schindler und Siebenborn: DAU 30/6 (1987) sowie Barié, Heilmann und Nickel: DAU 36/4+5 (1993).

[11] Gekürzte Fassung meiner Einleitung zu: Der Blick von außen auf das Andere: Entdecker und Eroberer über fremde Menschen und ihre Kulturen, in: Pegasus 12/1 (2012), S. 33-49, hier 36 f. Auf den Nachbarkontinent und sein Bild in der Reiseliteratur des 18./19. Jh. richtet sich der Blick von A. Fischer-Kattner: Spuren der Begegnung. Europäische Reiseberichte über Afrika 1760-1860 (Göttingen 2015); auch hier mündet die Sicht auf die „eingeborenen Wilden“ nach differenzierendem, durchaus auch wissenschaftlich begründetem Beginn letztlich in den Kolonialismus des frühen 20. Jh.

[12] J. Klowski: Mundus Novus. Einleitung, Text und Kommentar zu Amerigo Vespuccis Schreiben, in: DAU 30/2 (1987), S. 47-68 (Themenheft); Mundus Novus – Lateinische Texte zur Eroberung Amerikas, ausgew. u. erl. von J. Klowski, E. Schäfer (Stuttgart 1991), S. 5-13; Mundus Novus, lat.-dt., übers. von R. Wallisch (Wien 2002 [WSt Beiheft 27]). E.-M. Kioscha: Mundus Novus als Übergangslektüre, in: DAU 43/4+5 (2000), S. 57-61; J. Klowski: Wie gelangte Amerigo Vespucci zur Annahme der Existenz des Mundus Novus ?, in: Forum Classicum 52 (2009), S. 131-38. Unterrichtsreihe zur Darstellung fremder Völker bei Caesar, Kolumbus und Vespucci von G. Laser in den RAAbits Latein II C.1 Autoren 3 (Stuttgart 2010), S. 1-42.

[13] E. Schäfer: Die Indianer und der Humanismus. Die spanische Conquista in lateinischer Literatur, in: DAU 27/6 (1984), S. 49-70; Petrus Martyr / Juan Ginés de Sepúlveda / Bartolomé de Las Casas: Über die Indianer, ebda. S. 82-91; E. Schäfer: Lateinische Literatur – Amerika und die Indianer, in: Gymnasium 100 (1993), S. 323-41.

[14] Text in Klowski/Schäfer: Mundus Novus (1991), S. 17-23; Schmude (2012), S. 47-49. U. Blank-Sangmeister: Wir und die anderen (Göttingen 2009)[Clara 27], insbes.: Kolumbus über die Eingeborenen der Neuen Welt sowie Isidor v. Sevilla (6. Jh.), Cicero, der Kirchenvater Augustinus und der Stoiker Seneca zum bellum iustum – F. Maier, in: Anregung 43 (1997), S. 320-23 [vgl. Themenheft DAU 58/2+3 (2015)]. Christoph Kolumbus: Der erste Brief aus der Neuen Welt, lat.-dt., übers. von R. Wallisch (Stuttgart 2006).

[15]Briefe aus der Türkei“: der Gesandte Ogier de Busbecq im Reich Sultan Süleymans des Prächtigen (Antwerpen 1581), hg. von J. Behrens (Bamberg 1998, ND) [Studio 7]. Schmude (2012), S. 45; H. Wiegand: Imago Turcae. Das Türkenbild der frühen Neuzeit im Lateinunterricht der Oberstufe, in: DAU 36/6 (1993), S. 12-36. Mit seinen Briefen ist Busbecq ein ‚Vorläufer im Geiste‘ des Kulturvermittlers und ‚letzten Osmanisten‘ zwischen deutschem Kaiserreich und Jungtürken, Friedrich Schrader (1865-1922): Konstantinopel in Vergangenheit und Gegenwart (Tübingen 1917).

[16] Kritische Ausgabe (in 3 Textbdn.) von A. Hilka, O. Schumann u. B. Bischoff (Heidelberg 1930-71); zweisprachige Textsammlungen von C. Fischer, H. Kuhn, G. Bernt (Zürich/München 1974, ND 1979) und von B.K. Vollmann (Frankfurt a.M. 1987 [Bibl. des MA 1]). Nützlicher Vergleich der Textausgaben von J. Bumke, in: FAZ v. 14.04.87.

[17] Vgl. P. Klopsch, in: DAU 12/4 (1969), S. 31-47; K. Langosch, Mittellatein und Europa – Führung in die Hauptliteratur des MA (Darmstadt 1990), S. 264-66; D. Schaller, in: LexMA I (1999), Sp. 899 f.; Die Gedichte des Archipoeta, bearb. u. hg. von H. Watenphul, H. Krefeld (Heidelberg 1958, dazu D. Schaller, in: Gnomon 32 [1960], S. 656-60), zur Vagantenbeichte S. 140 ff.; Der Archipoeta, lat.-dt., übers. von H. Krefeld (Berlin 1992); Bischoff I 3 (1970), S. 6-21; Bernt (1974), S. 950 f.; Vollmann (1987), S. 604-14. Die Strophen 14-19 des CB 191 entstammen einem älteren, 11/12 u. 16 einem jüngeren Trinklied, Bischoff S. 11, 19 f. u. 77 f. (zu CB 220, das seinerseits Teil des carm. IV an den Archicancellarius ist).

[18] Ein weiterer reizvoller Vergleich musikalischer Rezeption läßt sich für das CB 136 (aus dem Zyklus der Liebeslieder) Omnia sol temperat anstellen – auch dieses von C. Orff als zweites Stück der Sequenz Primo vere sowie (gleichfalls lateinisch) von In Extremo (Sünder ohne Zügel) bearbeitet – dazu eine Unterrichtsreihe von K.-Th. Sonderfeld in den RAAbits Latein II B.7 Fortwirken der Antike 1 (Stuttgart 2006), S. 1-22.

[19] CB 194 – Bischoff I 3 (1970), S. 28-31; zu Hugo (50) D. Schaller, in: LexMA V (1999), Sp. 174 f. Ganz ähnlich in der Intention CB 202 (Str. 4-7).

[20] Textausgaben von K. Ziegler (Leipzig 71969 [Bibl. Teubn.] und lat.-dt. Berlin 1974, ND 1979 [SQAW 31]); Kommentare von H. Schwamborn (Paderborn 1958, ND) und von K. Büchner (Heidelberg 1984) – dazu E. Heck, in: Gnomon 60 (1988), S. 684-91.

[21] Als geschlossener (literarischer) Salon geht er auf Ciceros Beschreibung in rep und im Laelius zurück, wird unterdessen aber seit H. Strasburger: Der Scipionenkeis, in: Hermes 94 (1966), S. 60-72 in Frage gestellt – J.E.G. Zetzel: Cicero and the Scipionic Circle, in: Harvard Studies in Classical Philology 76 (1972), S. 173-79; S.M. Goldberg: Understanding Terence (Princeton 1986), S. 13; E.S. Gruen: Culture and National Identity in Republican Rome (Ithaca N.Y. 1992), S. 20291; R. Hanulak: Der Scipionenkreis – Untersuchungen zum Freundeskreis des Scipio Aemilianus (München 2007).

[22] Kritisch zu ihr bereits Tacitus, Ann. IV 33, 1; W. Nippel: Mischverfassungstheorie und Verfassungsrealität in Antike und früher Neuzeit (Stuttgart 1980); K. Bringmann: Cicero (Darmstadt 2010), hier S. 165; zum Unterschied zwischen Verfassungstheorie und politischer Praxis Chr. Meier: Res publica amissa (Berlin 21980 ), insbes. S. 165-67, 302-06, 318-20.

[23] Darstellung der einzelnen Verfassungsformen bekanntlich schon bei Herodot, Hist. III 80-82 und Platon, Politeía 544 c – 569 c (= Buch 8). Aristoteles skizziert die Politeíai und ihre Metabolaí in EN 1160 a 31 – 1161 a 9 und Rhet. 1365 b 28 – 1366 a 22; grundlegend Politiká 1284 b 34 ff. und Polybios VI 5, 4 – 9, 10. W. Blösel: Die Anakyklosis-Theorie und die Verfassung Roms im Spiegel des 6. Buches des Polybios und Ciceros De re publica, in: Hermes 126 (1998), S. 31-57. Unterrichtsreihe zu De re publica mit Schwerpunkt auf Verfassungstypen, Kreislauf und Mischverfassung von G. Laser in den RAAbits Latein III B.1 Philosophie 4 (Stuttgart 2012), S. 1-44.

[24] Plat. Pol. 555 e 1 – 558 c 5 / 562 a 3 – 563 e 1; Polyb. VI 9, 1-9.

[25] G.N. Knauer: Die Aeneis und Homer – Studien zur poetischen Technik Vergils, mit Listen der Homerzitate in der Aeneis (Göttingen 21979 [Hypomnemata 7]); Übersicht bei M.P. Schmude: Homerische Motive in Vergils Aeneis, in: DAU 49/2+3 (2006), S. 104-07.

[26] Originalausgabe La Comedia (Mantua 1472); Dante Alighieri: die Göttliche Komödie, übers. von W.G. Hertz, Anm. von P. Amelung (München 1978), S. 117-19, 499; Commedia, in deutscher Prosa von Kurt Flasch (Frankfurt 2013), S. 119 f., 502 f.

[27] Eine exilphänomenologische Untersuchung des Jahrhundertthemas Flucht und Vertreibung im Kontrast zwischen antiker (neben Ovid Cicero, bei Vergil und in mythischen Figuren wie Medea und Polyneikes) und der deutschen Exilliteratur (namentlich der Jahre 1933-45) unternimmt interdisziplinär E. Doblhofer: Exil und Emigration – zum Erlebnis der Heimatferne in der römischen Literatur (Darmstadt 1987 [Impulse der Forschung 51]); Forschungsbericht S. 1-20; zu Tristien IV 10: S. 203, 259, 261, 263, 276.

Homerische-Motive-in-Vergils-Aeneis

Homerische-Motive-in-Vergils-Aeneis  [überarbeitete und fortlaufend ergänzte Fassung aus: Der Altsprachliche Unterricht 49, 2+3 (2006), 104-107; → auch Scrinium 55, 3 (2010), 23]

Homerische Motive und Entsprechungen in Vergils Aeneis

von   Michael P. Schmude,   Boppard

 [Die vollständige Fassung des hier nur angerissenen Artikels findet sich unter obenstehendem (grünen) Link → auf der ‚Innenseite‘ …]

Vergil sucht durchgängig in der Odyssee- wie Iliashälfte seiner <Aeneis> zugleich Berührung mit seinem Vorbild Homer wie Kontrast: Stationen der <Odyssee>, auch wo die eigene Route dies nicht unbedingt verlangt (Insel der Kyklopen), Bauteile der <Ilias>, auch welche die Handlungsführung der <Aeneis> nicht zwingend fordert (Nisus/Euryalus-Episode – Homers ‚Dolonie‘), Personen- und Handlungskonstellationen mit (mehr oder minder) unmittelbarem homerischen Hintergrund, um sie dann aber eben gerade anders als das offenkundige Vorbild, ganz auf seine eigene Weise zu gestalten.

Eine Sammlung solcher Textpassagen, in denen Vergil Homer bzw. den <Epischen Kyklos> zitiert und seinen Darstellungsabsichten verfügbar macht, möchte die folgende Übersicht bieten, als Grundlage und für eine mögliche Auswahl eines Lektüreganges unter dem Gesichtspunkt „Vergil und Homer – Vorbild und Neugestaltung“. Eine Unterrichtsreihe in diesem Sinne ist grundsätzlich in jedem altsprachlichen Oberstufenkurs denkbar, vor Allem aber wohl auf Leistungsniveau, und ideal, wenn dieser Latein-Leistungskurs mit möglichst vielen auch Griechisch-SchülerInnen besetzt ist. Der Überblick kann aber ebenso den KollegInnen einen bequemen Zugriff auf Einzelsequenzen an die Hand geben, um mittels der Lektüre ausgewählter, begrenzter Beispiele (ggfs. auch in Übersetzung) Vergils Vorgehensweise im Ganzen zu erarbeiten.

Von Eris zu Fama zu Gloria   [aus: Scrinium 55, 3 (2010), 23]

Die rastlos suchende Zwietracht, des männermordenden Ares leibliche Schwester und Gefährtin, die zuerst noch klein sich erhebt, darauf aber das Haupt an den Himmel drängt und auf der Erde wandelt – die warf ihnen auch jetzt den Streit ohne Unterschied mitten unter, das Schlachtgetümmel abschreitend, das Stöhnen der Männer nährend“ – so beschreibt Homer (Il. 4, 440-45) das Aufsteigen der Dämonin Eris aus kleinen Anfängen zum wahllos verderbenden Monstrum (die in den Kyprien mittelbar schon den Anlaß zum trojanischen Krieg liefert). Ebendieses homerische Motiv überträgt und wandelt Vergil in der für ihn ganz typischen Weise1 ab, um das schneeballmäßig-geschwinde Anschwellen der Gerüchteküche um Dido und den fremden Ankömmling und potentiellen Geliebten Aeneas im neuerstehenden Karthago (Aen. 4, 174-77) für seinen eigenen Zweck zu veranschaulichen: „Fama […] mobilitate viget virisque adquirit eundo; parva metu primo, mox sese attollit in auras ingrediturque solo et caput inter nubila condit“ – entsprechend die lithographische Darstellung der Gigantin „Das Gerücht“ von A. Paul Weber (1943/53)2, und auch in Ovids Metamorphosen wächst sie wie die Eris Homers aus kleinstem Beginn durch ihr Werk – eine Mélange von Lügen – an (9, 137-39; auch 12, 54 und Aen. 4, 190), „quae veris addere falsa gaudet et e minimo sua per mendacia crescit3.

Ihr zwiespältiges Wesen noch bei Isidor von Sevilla (Etym. 5, 27, 26 f.: fama felicitatismalarum famanomen certilocum non habet, adiciens multa vel demutans de veritate)4 ‚spezialisiert‘ sich in der Folgezeit gleichwohl in eine Allegorie des Ruhms und mündet insbes. im 18. Jh. synkretistisch in die Verwandtschaft einer Curiosità oder Gloria. Mit dem Aufkommen des Mediums Presse kehrt das sensationslüsterne Moment zurück, und der Bogen spannt sich im 19. und 20. Jh. wieder hin zur dämonischen Seite in der Sensationsnachricht von Zeitung und Internet – wie unlängst die Literaturwissenschaftlerin Uta Kornmeier in einem Vortrag im Berliner Museum für Kommunikation nachgezeichnet hat5.

 1Vgl. AU 49, 2+3 / 2006, S. 104-107.

2In der Aeneis-Ausgabe von E. Bury (Stuttgart/Klett 1987 ff. [Rote Reihe]), S. 45.

3Val. Flacc. Arg. 2, 116-20; Stat. Theb. 3, 426/30; Lucr. Rer. nat. 6, 341.

4Weiter Etym. 2, 30, 2; Diff. 1, 218 gloria … virtutum est, fama vitiorum.

5Vgl. FAZ vom 08.12.2010, S. N3.