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Vergils-Aeneis-und-der-Epische-Kyklos

Vergils-Aeneis-und-der-Epische-Kyklos

Vergils Aeneis – zwischen Weltdeutung des Epischen Kyklos und Römischem Nationalepos

von: Michael P. Schmude

 

Auf den ersten Blick verlaufen in Vergils Aeneis zwei – voneinander getrennte – epische Erzählstränge:

  • In der ersten Hälfte zeigt sich der Hauptheld als Umherirrender, als Heimat Suchender – Aeneas als Odysseus ? → Homers Odyssee
  • In der zweiten Hälfte zeigt sich der Hauptheld als Neuansässiger, als Eroberer – Aeneas als Achilleus ? → Homers Ilias
  • Im Ganzen ist die Aeneis die Geschichte des Troianers Aeneas und seiner Gefährten, die nach der Zerstörung ihrer Heimatstadt (im NW Kleinasiens) durch die versammelten Griechen über die Ägäis, das Ionische und das Tyrrhenische Meer auf der Suche nach der Heimat ihrer Vorfahren schließlich in Latium (an der Tibermündung) anlanden, um dort von Neuem ihre Stadt zu erbauen. Aus dieser soll (über die ‚Zwischenstation‘ Alba Longa) einmal Rom, das künftige caput mundi, hervorgehen.

 

Zur eigentlichen Präsentation im Ganzen → Innenseite

 

Anmerkungen zu den Folien der Präsentation

Die Aeneis und ihr Autor (a)

Enteignungen durch Octavian für seine Veteranen nach der Schlacht (Sept./Okt. 42 v. Chr.) bei Philippi (im Osten Makedoniens) gegen die Caesarmörder (Brutus, Cassius).

Vergilius Maro, geboren in dem Ort Andes bei Mantua, Eltern einfache, aber vermögend gewordene Landleute (Vater Töpfer). Umfassende Ausbildung in Rhetorik und Philosophie (Cremona, Mailand, Rom), insbesondere bei dem Epikureer Siron in Neapel.

Der Maecenas-Kreis ist eine Art literarischer Zirkel / Salon, ein Kreis von Dichtern: am bekanntesten Vergil und Horaz (den Vergil dort einführt [sat. 1, 6, 54 f.] und dem Maecenas ein Landgut schenkt).

[C. Cilnius Maecenas, 70-8 v. Chr., aus der etruskischen Stadt Arretium, Diplomat und Vertrauter des Augustus sowie bei Abwesenheit dessen Stellvertreter in Rom].

Augustus bittet den Dichter um ein Nationalepos für die Römer, und Vergil kommt diesem Anliegen – nicht ohne Zögern, aber durchaus auch aus eigener Überzeugung –  schließlich nach. Dies bring ihm bis heute von mancher Seite den Vorwurf ein, ein augusteischer Hofdichter zu sein. Vergil soll testamentarisch die Verbrennung der – noch nicht vollendeten – Aeneis verfügt haben, was Augustus aber verhindert haben soll (Plin. NH 7, 14).

Hermann Broch: Der Tod des Vergil (New York 1945).

 

Die Aeneis und ihr Autor (b)

Die Bucolica, 10 kurze Gedichte (= Eclogae) mit im Ganzen 829 vv., fußen auf der Hirtendichtung des Theokrit (3. Jh. v. Chr., aus Syrakus) und spielen mit Themen einer idealisierten Hirtenwelt in einer idealen Landschaft aus dem Sizilien des hellenistischen Dichters, aus der ‚geistigen‘ Dichterregion Arkadien und dem Oberitalien Vergils.

Die Georgica behandeln in vier Büchern B. 1: Ackerbau und Wetterkunde, B. 2 die Baumzucht (Olivenbaum und Weinstock), B. 3 die Haustierzucht und B. 4 die Welt der Bienen (bewusst übergangen hier [4, 116-48] der Gartenbau → [Lucius Iunius Moderatus] Columella [1. Jh. n. Chr.], 12 Bücher De re rustica [nach 64] B. 10).

 

Die Aeneis und ihr Narrativ (a)

Buch 1: Kurz nach ihrer Abfahrt von Sizilien gerät die Flotte des Aeneas in einen verheerenden, von Iuno bei dem Windgott Aiolos erwirkten Seesturm, welcher sie an die Küste Nordafrikas  zerstreut und verschlägt. Aeneas rettet sich in eine Bucht an der Küste Libyens.

Wechsel der Erzählebene: auf dem Olymp Zwiegespräch zwischen Venus und Iuppiter: dieser verspricht die Gründung einer Stadt in der Nachfolge Hektors – und Rom die künftige Weltherrschaft.

Ankunft des Aeneas (von seiner Mutter in einer Wolke verhüllt) in Karthago; im gerade erstehenden Tempel der Iuno sieht er sich mit Darstellungen der Geschehnisse vor Troia (u.a. Tod Hektors; Penthesileia → Aithiopis) konfrontiert (→ Odysseus durch den Sänger Demodokos bei den Phaiaken).

Zusammentreffen mit Dido, welche die Troianer willkommen heißt und ihre Fürsten zum Gastmahl in ihren Palast lädt. Dort beginnt Aeneas seine Erzählungen (und Dido, sich – unter Mitwirkung der Venus – in den Anführer der Troianer zu verlieben …).

Buch 4: Iuno und Venus sorgen jetzt gemeinsam dafür, dass sich die Königin endgültig in Aeneas verliebt, und es kommt zu einem eheähnlichen Miteinander samt gemeinsamem Weiterbau von Karthago. Es bedarf eines ‚Machtwortes‘ Iuppiters über seinen Boten Hermes, um Aeneas an dessen eigentlichen Auftrag, seine fata zu erinnern … Dieser setzt, obwohl von Dido zur Rede gestellt, die Flotte wieder Richtung Sizilien und Italien in Bewegung. Dido verwünscht ihn und stürzt sie sich ob des – für sie – Treuebruchs in Schwert und Scheiterhaufen.

 

Die Aeneis und ihr Narrativ (b)

Buch 6: Eingegliedert in die Unterwelt sind der Tartaros (→ Hölle) für die exemplarischen Verbrecher) wie das Elysium (→ Paradies) für die vorbildhaften Menschen wie Aeneas‘ Vater Anchises.

Aeneas trifft in der Unterwelt wieder auf Dido wie Odysseus in der Nekyia auf seinen alten Widersacher Aias (Streit um die Waffen Achills und Selbstmord des Aias nach seiner Niederlage gegen Odysseus ← Aithiopis) . Beide Begegnungen verlaufen unversöhnlich.

Anchises führt und erläutert – im Zusammenspiel mit der stoischen Lehre von der Seelenwanderung – seinem Sohn die ‚Heldenschau‘, die ‚Parade‘ prominenter Figuren der Römischen Geschichte – gipfelnd in den Vertretern der gens Iulia, dem Geschlecht von Caesar und Augustus.

Buch 7: Landung in der Tibermündung – das Tisch-Prodigium bestätigt Latium als das vorherbestimmte Land der Heimkehr (116-29).  Eine Gesandtschaft der Troianer an den ortsansässigen König Latinus führt sogleich zu gastfreundlichem Empfang und Bündnisangebot (gemeinsamer Ahnherr Dardanus / Latinus bietet – seinen fata entsprechend – Aeneas seine Tochter zur Ehe an).

Gegenaktion der Iuno:  mittels der Furie Allecto  treibt sie die Königinmutter Amata  und den Rutulerfürsten Turnus zur Feindschaft gegen die Troianer. Aufmarsch der latinischen ‚Völker‘  (641 ff.) zum Bündnis gegen die Ankömmlinge (← Schiffskatalog in Buch 2, 484 ff. der Ilias).

Buch 8: Anfangs der Fahrt tiberaufwärts zu Euander markiert das Sau-Prodigium (42-48; 81-85) den Ort für die Neugründung der Stadt (Alba Longa). Aeneas erhält durch seine Mutter eine neue Waffenrüstung von Vulcanus – die Schildbeschreibung zeigt ein Panorama römischer Geschichte ← so in der Ilias die neuen Waffen für Achill durch seine Mutter Thetis von Hephaistos, nachdem Patroklos (in der Rüstung Achills) von Hektor erschlagen worden war (Buch 18, 468 ff./19, 3 -18).

 

Die Aeneis und ihr Narrativ (c)

Buch 9: der Ausbruchsversuch des Nisus und Euryalus aus dem – während der Abwesenheit  des Aeneas – von Turnus bedrängten Lager der  Troianer endet in einem Blutbad unter den Rutulern und mit dem Tod der beiden Jungen ← in B. 10 der Ilias führt die Dolonie des Odysseus und Diomedes zu einem Blutbad unter dem Gefolge des thrakischen Königs Rhesos.

Buch 10: der junge Pallas, Sohn des Arkaderkönigs Euander, fällt im Kampf gegen Turnus, der ihm sein Wehrgehenk raubt (495-502) – dies wird der Anlass zum Todesstoß des Aeneas im finalen Zweikampf 12, 939 ff. ← Rache des Achill an Hektor (Ilias B. 22) für die Tötung und Spoliierung seines jungen Freundes und Cousins Patroklos  (Ende B. 16 / Anfang B. 17).  Aeneas tötet den vertriebenen Etruskerkönig Mezentius und dessen Sohn Lausus (762 ff.)

Buch 11: Camilla, die kriegerische Königin der Volsker, wird als Anführerin der latinischen Reiterei von dem Etrusker Arruns mit einem Pfeilschuss  getötet ← in der Aithiopis die Amazonenkönigin Penthesileia (auf Seiten der Troianer), von Achill getötet, der sich beim Anblick ihres Leichnams in sie verliebt  und von dem hässlichen Zänker Thersites dafür verspottet wird (er tötet diesen auf der Stelle).

Buch 12: auch wenn Iuno Friedensvereinbarungen hintertreibt [die Abmachung zum Zweikampf Turnus – Aeneas wird durch den Lanzenwurf des rutulischen Auguren Tolumnius gebrochen (258 ff.) ←  Il. 4, 85 ff. Bruch der Eide durch den Pfeilschuss des Troers Pandaros] und die Quellnymphe Iuturna, Schwester des Turnus, diesen wiederholt (in Gestalt seines Wagenlenkers) der Entscheidung entzieht, kommt es – nach einem letzten Gespräch zwi-schen Iuppiter und Iuno auf der Götterebene, welches Iuno zur Schutzgottheit des neuen, vereinten Ausonischen Geschlechtes macht (791-841) – zum Zweikampf, nach welchem Aeneas – unter dem Eindruck des geraubten Wehrgehenks des Pallas (947-49) – Turnus tötet.

 

Die Aeneis und Homer (a)

Buch 3: Verschiedene Orakel und Vorzeichen – in Thrakien (Leichnam des vom Thrakerkönig Polymestor ermordeten Priamossohnes Polydoros). Auf Delos (das Orakel weist sie ins Land ihrer Ahnen: Anchises deutet es fehl als Kreta, woher Teukros, Schwiegervater des Dardanus, stamme; eine Seuche vertreibt sie). Die Penaten erscheinen Aeneas im Schlaf und weisen auf Hesperien (woher Dardanus, der Vater des Ilus, Gründers von Troia, stamme). Bei den Strophaden (Inselgruppe im Ionischen Meer, wo die Harpyien hausen) weist die Harpyie Celaeno auf das Tisch-Prodigium (7, 116-29) voraus. In Actium begründen sie troianische Sportwettkämpfe. In Buthrotum (Epirus) bestätigt Helenos (Sohn des Priamos und unterdessen mit Andromache, Hektors Witwe, verbunden) Italien als Ziel und weist auf das Sau-Prodigium (Ara Pacis – 8, 81-85) als Ort der Stadtgründung voraus, warnt vor den Griechen an Italiens Ostküste [→ Diomedes: 11, 252-93, insbes. 285-87] sowie vor Skylla und Charybdis in der Meerenge von Messina [← Odysseus Od. 12, 222—59]: deswegen solle er westlich um Sizilien herum an die Westküste Italiens nach Cumae (südlich von Neapel) fahren.

Auf Sizilien, im Schatten des Ätna, nehmen sie einen Gefährten des Odysseus (Achaemenides) auf, den dieser auf seiner Flucht vor dem Kyklopen Polyphem zurückgelassen hat

 

Die Aeneis und Homer (b)

[Aufsatz] Homerische Motive in Vergils Aeneis,

in: Der Altsprachliche Unterricht  49, 2+3 (2006), S. 104–107.

Vergil sucht auf Schritt und Tritt die Anbindung an Homer – um es dann sogleich ‚anders‘ zu machen, zwei markante und aussagekräftige Beispiele:

  • Die Skylla-und-Charybdis-Episode aus B. 11 der Odyssee kommt auch bei Vergil vor: doch Aeneas fährt (B. 3), von seinem Schwager Helenos gewarnt, eben nicht durch die Meerenge von Messina – eigentlich der kürzere Weg ins verheißene Westitalien – , sondern entgeht ihnen (sieht sie auf der Fahrt von ferne) durch den Umweg um Sizilien herum.
  • Auch zum Kyklopen-Abenteuer des Odysseus (B. 9 der Odyssee) – für die Aeneis-Handlung völlig irrelevant – knüpft Vergil einen Seitenstrang: auf Sizilien (B. 3) nehmen sie einen Gefährten des Odysseus, der bei der überstürzten Fluch von der Insel Polyphems dort zurückgeblieben war, dauerhaft bei sich auf.

[Versuch einer Einigung durch den Zweikampf der Hauptbetroffenen statt durch den Krieg der Heere:

  • Das vereinbarte (Il. 3, 245-325) Aufeinandertreffen  Menelaos – Paris wird von Aphrodite ‚beendet‘ (380-82); Il. 4, 85 ff. dann Bruch der Eide durch den Pfeilschuss (124-26) des Troers Pandaros (Athene). Für die Ilias bleibt dies Episode. Das Duell zwischen Achill und Hektor folgt persönlichen Motiven (Patroklos) und beendet Nichts; der Krieg um Troia findet seinen Abschluss erst  mittels der List des Odysseus.
  • Die Vereinbarung zum Zweikampf Turnus – Aeneas  (Aen. 12, 75-80 /116 ff.) wird durch den Lanzenwurf des rutulischen Auguren Tolumnius (266-68) gebrochen, das finale Aufeinandertreffen der beiden aber nurmehr (durch Iuno-Iuturna) verzögert. Die Aeneis  kommt mit dem Duell der beiden Fürsten zu ihrem Abschluss.]

 

Die Aeneis im Rahmen des Epischen Kyklos

  • Der fatalen Heimkehr des Agamemnon (← Iphigenie in Aulis) und der troischen Seherin Kassandra hat der Tragiker Aischylos eine Trilogie (AgamemnonChoephorenEumeniden) gewidmet, die Orestie.
  • Diomedes kehrte zwar unversehrt in seine Heimat Argos zurück, wurde aber nach längeren Thronwirren von dort verbannt und wanderte mit seinen Gefolgsleuten in das südöstliche Italien aus und gründete in Apulien die Stadt Argyrippa (Arpi). Dem Turnus verweigert er auf Anfrage seine Unterstützung gegen Aeneas (11, 285-93 „… wenn es außerdem zwei solche gegeben hätte …“).
  • Die Odyssee des Odysseus ist der Nostos schlechthin … an Umfang wie märchenhaft-tragischem Gehalt.
  • Aeneas – auch die Aeneis ist ein Nostos → Dardanus …

 

Die Aeneis als Römisches Epos

  • Götterszene: Werdegang der Aeneas – Ascanius – Romulus – Augustus, mündend in ein grenzenloses Friedensreich.
  • Unterweltsbuch: Heldenschau von den Königen Alba Longas bis zu Augustus und dessen früh gestorbenem Wunschnachfolger Marcellus.
  • Schildbeschreibung: das kommende Schicksal des römischen Volkes – Szenen von Romulus und Remus mit der Wölfin bis zum Triumph des Augustus nach der Seeschlacht von Actium (← Schild des Achill Il. 18, 482-608) – auf den Schultern des Aeneas.

 

Aeneas und ‚seine‘ Troianer als erste Flüchtlinge und Migranten (a)

[Vortrag] Fremdheit und Migration in Homers Odyssee und Vergils Aeneis.

Die Königin des gerade erstehenden Karthago (Neu-stadt, wie das griechische Néa-pólis, heute Neapel), Dido, mit eigenständigem Migrationshintergrund, nimmt den (durchaus nicht unbekannten) Ankömmlingen gleich zu Beginn die Furcht vor den – notwendigen – Grenzsicherungsmaßnahmen.

Erkennbare Motive der Aufnehmenden sind die Prominenz der Flüchtlinge, Mitgefühl, nicht zuletzt die Aussicht auf Bündniszuwachs. Um das gemeinsame Flüchtlingsschicksal weiß Aeneas von seiner Mutter, Dido lässt es anklingen.

[Die Liebe der infelix, der unglücklichen Dido, zum Troianerfürsten wird – tragisch und gesteuert allerdings von außen – in der Folge hinzukommen …].

 

Aeneas und ‚seine‘ Troianer als erste Flüchtlinge und Migranten (b)

Auch in Latium wendet sich – gegenüber einer ordnungsgemäß diplomatischen Delegation der Aeneaden – der ortsansässige König Latinus gastfreundlich und verständnisvoll den hilfesuchenden und vom Hörensagen angekündigten Neuankömmlingen aus einem fernen Land zu. Einer der Gründerväter Troias, Dardanus, war von eben hier zu seiner Wanderung ins kleinasiatische Phrygien aufgebrochen.

Und es ist eigener Antrieb (sponte suā), welcher die Latiner die Fremdlinge aufnehmen lässt, noch nicht einmal gesetzlich geregeltes Gastrecht, sondern alter Götterbrauch (Saturnus [griech. Kronos] ist der Gottkönig des Goldenen Zeitalters in Italien), an welchen das uralte Geschlecht sich gebunden fühlt.

Den Ausschlag für den König gibt freilich die Rückbesinnung auf ein vormaliges Orakel seines Vaters Faunus, welcher ihm einen Schwiegersohn aus fernem Lande angekündigt hatte und aus der Verbindung seiner Tochter Lavinia mit diesem eine mächtige, weltbeherrschende Nachkommenschaft: es sind also in der Aeneis Vergils stets bereits auch politische – im heutigen Wortsinne – Motive mit ihm Spiel …

 

 

Zu-S-Merten-Felisa-et-secreta-Romae

Zu-S-Merten-Felisa-et-secreta-Romae

Sabine Merten: Felisa et secreta Romae – Felisa und die Geheimnisse Roms. München (Circon) 2023 [Schüler Lernkrimi Latein]. 96 S., € 13 (ISBN 978-3-8174-4360-4).

aus: FORUM CLASSICUM 66 (2023), S. 278-279.

Soviel vorab – eine vergnügliche und spannende Kriminalgeschichte, in deren Mittelpunkt eine zunächst kleine, sodann an ihren Abenteuern wachsende Straßenkatze steht, welche sich vom Ort ihrer behüteten Jugend unter einer Brücke etwas außerhalb Roms auf den Weg macht ins bunte Leben und laute Treiben der großen Stadt am Tiber. Und sie wird begleitet von Vokabelangaben, Erläuterungen zum antiken Schauplatz (→ Res Romanae) sowie einführenden Bemerkungen zur Grammatik überhaupt, der lateinischen im Besonderen, welche sich aus den originalsprachlichen Einsprengseln in den zunächst einmal deutschen Text ergeben und in zusammenfassenden Übungen gesichert werden. Didaktische Konzeption ist diejenige der Compact Lernkrimis des Münchner Circon-Verlages, angebunden der Vokabeltrainer phase6. Die kontinuierliche Steigerung der Anforderungen mündet in ein Prüfungs-Quiz zum Abschluss der story und rundet diese lehrwerksunabhängige Einstiegslektüre parallel zum Spracherwerb motivierend ab. Ein alphabetisch geordnetes Glossar der verwendeten Vokabeln am Ende des in Layout wie visueller Gesamtausstattung ansprechenden Büchleins macht die Erlebnisse der catta parva zur Individuallektüre ebenso geeignet wie gut handhabbar für den Klassenverbund.

Der Jugendkrimi um die junge Katze Felisa (der Name – ein sprechender [feles und Lisa] und im Spanischen eigenständiger Vorname – erinnert zugleich an den Katzenthriller [für Erwachsene] Felidae von M. Schaack [1994]) ist in Diktion wie Anlage altersgerecht (Unterstufe) gestaltet. Er wird mit Fotos (6 Tiber, 10 Via Appia, 32 Hundemosaik) und veranschaulichenden Rekonstruktionszeichnungen (18 auf dem Emporium am Tiber und 53 auf dem Forum Romanum, 26 Villa, 44 Circus Maximus, 58 Triclinium) reich bebildert und ist in kurzen Abständen von den bereits genannten Übungen (vierzig exercitia zu Wortarten und Morphologie, Lexik und Satzbau, Übersetzung und Textverständnis) kunterbunt aufgelockert (zu diesen 82-86 ein Lösungsteil). Die fortlaufende Erzählung (ihre historischen Bezüge sind nicht allzu eng gefasst, was in den Sachhinweisen allerdings hätte eingeordnet werden können, dazu → u.) steigert sich in Umfang wie Anspruch der organisch-übergangslos eingelegten lateinischen Passagen, welche überall passend mit Vokabellisten sowie sprachlichen und sachlichen Hilfen unterfüttert werden; realienkundliche Kleintexte sind schülernah und gut verständlich – und auf alle wird aus der narratio heraus direkt verwiesen. Das Bändchen gibt sich als Lernbegleiter für das erste Latein-Jahr, und demzufolge stehen am Beginn die ‚Klassiker‘ des Anfangsunterrichts: a-/o-Deklination in Substantiv und Adjektiv; esse als Prädikatsnomen; die vokalische Konjugation des Verbs (als didaktische Reduktion wird der Stammauslaut der Personalendung zugerechnet); Satzeinleitungen, Kasusfunktionen und wichtigere Präpositionen, Frage-, Relativ- und Kondizionalsätze, Zahlen und Steigerung, AcI usf., ohne dass sich dahinter bereits ein bestimmter Unterrichtsband mit eigenen Vorgaben aufzeigt.

Die Geschichte als solche führt Felisa nach ihrer Ankunft in der Metropole gleich in die erste Bewährungsprobe unter Ihresgleichen am Emporium, der großen Markthalle Roms, samt Flucht, Verfolgungsjagd und Rettung im Hause des freundlichen, aber ‚anstrengenden‘ cattus doctus Cicero. Dem Idyll der Villa entzieht sie sich ins gefährliche Getümmel der Innenstadt und auf einen siegreichen Rennwagen in der Arena, gerät anderntags auf dem Palatin (die Abbildung zeigt indes das Forum, welches hier [53 f.] auf die Höhen des anliegenden Hügels verlegt ist) in eine Begegnung mit der kaiserlichen Sänfte – auf Katzenebene und darüber zu einem Gastmahl im Palast des Augustus (unter diesem Namen regierte Octavian seit 27 v. Chr.). Am folgenden Morgen fällt sie in die Unterwelt des Forum Romanum und (→ Titel) ins geheime Spionagenetz der Katzen Kleopatras (die [67] derzeit „in Rom weilt“ – tatsächlich in den Jahren 46-44. Nach der Niederlage in der Seeschlacht von Actium 31 v. Chr. und dem Fall von Alexandria 30 v. Chr. begeht Kleopatra – zusammen mit M. Antonius – Selbstmord). Dort trifft sie auf den inhaftierten und als Geisel gefolterten cattus litteratus Naso: es geht um das secretum Liviae (= L. Drusilla, seit 38 v. Chr. mit Octavian verheiratet; aus erster Ehe ist sie Mutter des späteren Kaisers Tiberius und Großmutter des vierten Kaisers Claudius), welches eine fatale Präferenz der ägyptischen Herrin für römische Katzen zeitigt. Dieses aber – so daraufhin Felisas List – soll im Tempel der Vesta verborgen sein, dessen Gesetzmäßigkeiten den neuen Freunden einen Ausweg öffnen.

Überprüft werden abschließend die auf den Pfaden der (über)lebenstüchtigen Katze gewonnenen Erkenntnisse durch sieben weitere exercitia eines Quiz zu allen beschriebenen Lernbereichen (samt Auflösung 87). Die eigentliche criminal story aber endet … ohne wirkliches Ende, vielmehr mit der Ankündigung einer noch ausstehenden, weiteren Aufgabe für die Beiden und damit zugleich mit dem Ausblick auf einen erwünschten Begleiter ähnlicher Art und Struktur für das kommende zweite Lernjahr Latein.

Michael P. Schmude,  Lahnstein

 

Zu-KWWeeber-Couchsurfing-im-Alten-Rom

Zu-KWWeeber-Couchsurfing-im-Alten-Rom

Weeber, K.-W.: Couchsurfing im Alten Rom – Zu Besuch bei Wagenlenkern, Philosophen, Tänzerinnen u.v.a. Darmstadt (WBG Theiss 2022). 232 S., € 22 (ISBN 978-3-8062-4418-2).

aus: FORUM CLASSICUM 65 (2022), S. 281-283.

Ein Gesprächsband – analog in Zeiten der Pandemie, Begegnungen mit fiktiven, literarischen und historischen Gestalten aus dem Alltagsleben des Alten Rom (Halbwelt inclusive), quellengestützt, gelehrt und gleichwohl unterhaltsam – wie man es bei diesem Autor (W.) auch nicht anders erwartet, der zuletzt aus den Graffiti des antiken Pompeji einen Spiegel des ‚normalen‘ Lebens einer antiken Mittelstadt geformt hatte (→ FC 63 [2020], S. 180 f.).

Die Rahmenhandlung besteht in der originellen Idee, anhand einer – lose miteinander verknüpften (u.a. S. 92, 106, 165) – Serie von Gesprächen vor Ort, eingebettet in die Ich-Erzählung einer Reise aus der fernen Barbarik ins Zentrum der damaligen Oikuménē, Einblicke in unterschiedliche Facetten der römischen Gesellschaft zu vermitteln: Stimmungsbilder aus der Welt der ‚kleinen‘ und nicht (mehr) ganz so kleinen Leute, von (auf den ersten Blick) mitunter auch ‚schrägen‘, skurrilen Vertretern (samt Außenseitern) einiger für jede Metropole markanter Berufsgruppen – ihre Sorgen und Träume, Umstände und Bedürfnisse, Leitlinien und Ziele derer, die es ‚geschafft‘ haben, wie derer, die im wiederkehrenden Überlebenskampf mit den Zumutungen eines Molochs stehen – welcher Rom damals schon war. Nicht zuletzt zeigen sich die Damen dort auf ihren gesellschaftlichen Ebenen und auf ihre je eigene, bemerkenswerte Weise als ausgesprochen selbstbewusst, ebenbürtig und lebensbewältigend.

Die jeweils unter ein Motto gestellten Geschichten und Dialoge im Einzelnen gliedern und entwickeln sich aus drei Blickwinkeln: als ‚Germane in Rom‘ zur Zeit des Kaisers Nero läuft unser Autor zunächst beim garum-König von Pompeji auf dem Aventin ein; die – erweiterte – Gastronomie ist durch eine Fast-Food-Wirtin sowie die Mutter einer als locus amoenus ein- und priapeisch ausgerichteten Taverne vertreten, und auch ein Wagenlenker repräsentiert die Unterhaltungsbranche. Der bürgerlichen Welt entstammen ein Lagerverwalter und der Ururenkel von Horazens legendärem Schulmeister. Im zweiten Teil aus dem Umland und als Pendant zur Großstadt – das römische Ämtersystem klingt von ferne an – gesellen sich zum Lager- die Gutsverwalterin, zum garum-Fabrikanten ein Kleinbauer, zum Wagenlenker der Gladiator (samt weiblichem Fan), zur copa tabernalis Trimalchio, König der Freigelassenen (und Selbstdarsteller wie „viele“ im damaligen Germanien ?? – zeitgenössische mallorquinische Parallelen böten sich eher). Naturgemäß fällt in dieser auch deutlich kürzeren Mittelpartie der Spannungsbogen, dem ‚kleinerformatigen‘ Personal entsprechend, etwas ab, aber die Kurve steigt mit der Rückkehr nach Rom wieder an: teils gegensätzliche Bereiche von Körperpflege und Wellness (das Allheilmittel von Neros kretischem Leibarzt und die Klagen einer rechtlosen Kosmetikerin; der soziale Kosmos in der Latrine) oder im erweiterten Rahmen des Showbusiness (Bestattungsmanager und Tänzerinnen-WG in der Subura, Comedian als Sozialaufsteiger oder Edel-Escort in Säulenhallen) ergänzen und runden den ersten Durchgang ab und gipfeln im Gespräch mit dem obersten Staatslehrer der Zeit, dem Stoiker Seneca.

Realienkundliches mischt sich in reichem Maße mit glaubhaft entwickeltem Atmosphärischen und fein beobachtetem Lokalkolorit; kommentierende Beschreibungen zudem von Stimmung, Personal und Ambiente (etwa die Beschreibung eines Parks an einer villa rustica S. 117), aber auch zunächst überraschende Tranfers in modern life (so u.a. opinion leaders S. 15, systemrelevante Berufe, Ultras und Hatespeech S. 31 f. / 219, Speisen to go S. 50, Take-away-Snacks S. 54, Smogglocke S. 80, Stoiker-Softie S. 89, Typberaterin S. 149) werden durchweg getragen von einem heiter bis ironischen und verständnisvoll-empathischen Begleitton. Überhaupt sind in den fein gezeichneten Situationsbildern Gegenwartsbezüge durchweg gesucht, hallen Nachklänge unüberhörbar in die Jetzt-Zeit herüber – vom touristischen Umgang mit lokalem Geschirr bis hin zur Genderfrage (samt generischer Antwort S. 51) und einem Kneipengespräch (S. 53-55), welches inhaltlich wie habituell in jede Moderne passte, der Sorge um Verschwörungstheoretiker (– am Hofe S. 57) oder aber der Umgehung des Tagesfahrverbotes in der City sowie zu Pflasterstand und Spurrillen auf der Via Flaminia (S. 81).

So erhält der/die (noch) Uneingeweihte ebenso absichtsvoll wie beiläufig Auskunft über Entstehungsprozesse (jenseits wenig schmeichelhafter Vorurteile) und Herkunftsregionen der omnipräsenten Würze eines angemessenen convivium, wird Zeuge, dass auch ein veritabler Provinz-Fürst und Werbeprofi in den gehobenen Kreisen der Hauptstadt wieder als homo novus anfängt. Er erhält Einblicke in den ‚Bauch der Stadt‘ (S. 20), das Emporium am aventin-seitigen Tiberufer, in Abläufe, Hafenlogistik und Speicherhallen, von wo aus für Millionen Einwohner der alltägliche Lebensbedarf jeglicher Art gestillt wird – über Nahrungsmittel und Gebrauchsgegenstände bis zu Baumaterialien. Er erlebt die Welt des gnadenlosen Fairplay im Circus Maximus, bestimmt von Fluchtafeln, Talentscouts und Rangordnungen auch innerhalb der Rennställe, lernt die Tarifverhandlungen zwischen den ausrichtenden (indes aus eigener Tasche bezahlenden) Beamten und den domini der Blauen, Weißen, Roten und Grünen factio kennen und übernimmt den Blickwinkel des Nachwuchsfahrers – jetzt noch Sklave, bei entsprechenden Erfolgen später Freigelassener – auf der allen gemeinsamen Stallungs- und Trainingsanlage (stabula und trigarium) im Südwesten des Marsfeldes. Nebst einem Schnellimbiss (Spezialität: Kirchererbsenbrei mit Würstchen, samt Rezept S. 54), flexibel ausgerichtet je nach Anspruchs- und Einkommensniveau der Laufkundschaft, mit Filialen und ambulantem Vertrieb, vernimmt er, nicht unvorbereitet aufgrund einschlägiger Graffiti bereits in Pompeji (s.o.), die fürsorglichen Angebote horizontaler Gastronomie einer salax taberna, erzähltechnisch geschickt verklammert und in ‚der Sache‘ vermittelt durch die copa des zuvor besuchten cenaculum. Naturgetreue Szenen (illegalen) Glückspiels fehlen ebensowenig wie Beobachtungen zur sozialen Schichtung in derartigen loci inhonesti und kontrastieren wirkungsvoll zur Lebenswelt einer traditionsreichen Familie von magistri und grammatici → Hor. ep. II 1, 71: Unterrichtsbesuch (privatim und in der Portikus) samt pädagogischem Diskurs gehören zum Pflichtprogramm, und auch hier bleibt die soziale Frage nicht ausgeklammert (S. 70 f.). Wir erleben eine plastische Beschreibung der Doppelmoral im Umfeld der Vestalinnen-Schwesternschaft (S. 156 f.), einen Graffiti-Künstler bei der Arbeit (S. 198 f.) und einen durchaus ironisch-selbstkritischen (S. 218 ff.) Starphilosophen (und Lehrer Neros), der mit seinen Betrachtungen zu Wutbürgern und ‚Umweltverbrauch‘ im Zuge der ‚Globalisierung‘ der römischen Welt einen weitgespannten Reigen in unsere Tagesaktualität hinein abschließt.

Bei allem Bemühen um lebensnahe und nicht zuletzt auch unterhaltsame Situationen, in Gesprächen mit Stimmungsmesser/innen aus ganz verschiedenen Kreisen der ‚normalen‘ Bevölkerung eines antiken Schmelztiegels, mit stetigen Anknüpfungen an moderne Entsprechungen, die er gleichsam ins Heute übersetzt, bietet unser kommunikationsfreudiger ‚Alltags-Kulturtourist‘ ein Füllhorn ‚so nebenbei‘ vermittelten Sachwissens, auf der Couch oder vor Ort – der Begriff bleibt großzügig gefasst. Jedenfalls stellt W. am Ende konsequent mit einem Verzeichnis, welches en detail alle inschriftlichen wie literarischen Quellen und Zeugnisse zu dramatis personae, zu Gegebenheiten wie Hintergründen enthält, sein fabulierendes ‚Histotainment‘ auf eine verlässliche Basis und gibt solchermaßen ein breitgefächertes wie gehaltvolles Panoptikum aus dem bunten Treiben des antiken caput mundi.

Michael P. Schmude,  Lahnstein