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Zum Rechtfertigungsbegriff der Confessio Augustana (CA) und seiner Ausarbeitung in der Apologia Confessionis (AC)

von  Michael P. Schmude

I. CA und Apologie im Procedere des Augsburger Reichstags und in ihrem Verhältnis zueinander

Von der allgemeinen Atmosphäre her, welche das kaiserliche Ausschreiben zum Reichstag nach Augsburg vom Januar 1530 zu vermitteln suchte und in welcher es protestantischerseits – insbesondere von Melanchthon – auch aufgenommen wurde, war eine eindeutige theologische Bekenntnisschrift ebenso wenig erwartet noch beabsichtigt worden wie eine ausgearbeitete Verteidigung als Folge der um sie entstehenden Auseinandersetzungen. So diplomatisch der Kaiser die Glaubensfragen zu behandeln ankündigte1, so bereitwillig war Melanchthon, den gemeinsamen Nenner mit der etablierten Kirche herzustellen; und so war ursprünglich auch lediglich der Vortrag eines Corpus von ‚abusus gültiger Kirchenbräuche‘ vorgesehen, welches im wesentlichen auf den Torgauer Artikeln (vom März 1530) basierte, einem Gutachten der Wittenberger Theologen – maßgeblich Melanchthons – zu Fragen der Kirchenordnung, welches der sächsische Kurfürst Johann (im Sinne einer Abgrenzung von radikaleren Kräften wie dem hessischen Landgrafen Philipp) in Auftrag gegeben hatte; es stellt (neben dem Unterricht der Visitatoren) den Hintergrund von CA 22-28 dar.

Unterdessen hatten die bayerischen Herzöge den Auftrag an Joh. Eck erteilt, den „häretischen Charakter der protestantischen Lehren von ihrem ersten Entstehen bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt“ aufzuzeigen2; das Ergebnis waren hingegen seine 404 Artikel, in denen 380 häretische Sätze aus den Schriften der Reformatoren neben 24 eigenen Thesen zusammengestellt waren und welche die Ausgangssituation erheblich verschärften. Dieser Angriff auf die reformatorische Lehre, die man bisher in den Schwabacher Artikeln, dem Bekenntnis der kursächsischen Lutheraner vom Oktober 1529, hinreichend niedergelegt ansah, zwang zu einer wesentlichen Erweiterung der bis dahin auf Fragen der Kirchenbräuche beschränkten Ausführungen.

Hierfür verwandte Melanchthon, unter zunehmender Mitwirkung der evangelischen Stände und Fürsten3, neben den Schwabacher insbesondere die Marburger Artikel, in welchen Luther die Positionen im Marburger Religionsgespräch vom 1.-4. Oktober 1529 mit Zwingli protokolliert, seinerseits aber bereits einen Entwurf der Schwabacher Artikel Melanchthons aus dem Sommer d. J. benutzt hatte4. Beide liegen CA 1-21 zugrunde.

Das somit entstandene Dokument, in seiner ursprünglichen Konzeption also eine Art Apologie der kursächsischen Kirchenreform, noch sichtbar im zweiten Teil (Articuli in quibus recensentur abusus mutati), ist in seiner abschließenden Fassung, um die Articuli fidei praecipui – also den ersten Teil – erweitert, zu einem Bekenntnis in Glaubens- und Lehrfragen geworden, welches in scharfer Abgrenzung von der oberdeutschen Reformation stark irenische Tendenzen gegenüber den Altgläubigen aufweist5. Aus dieser auf Ausgleich bedachten Haltung heraus wurden denn auch wesentliche Fragen der reformatorischen Lehre wie die des Papsttums und des allgemeinen Priestertums stillschweigend ausgeklammert6.

Ganz anders die Entgegnung der katholischem Seite: die vom Kaiser einem Gremium unter Joh. Eck (mit maßgeblicher Beteiligung von Joh. Cochläus und Joh. Fabri) aufgetragene Confutatio der nunmehr (25. Juni 1530) verlesenen und übergebenen CA musste in einer ersten Fassung, die in der Hauptsache auf den Vierhundertvier Artikeln basierte (auch Catholica Responsio), gar wegen zu großen Umfangs und zu scharfer Polemik von jenem selbst und den gemäßigten katholischen Ständen abgelehnt werden; aber auch die überarbeitete Fassung (3. August 1530) suchte die Lehrdifferenzen, insbesondere die der reformatorischen Rechtfertigungslehre, eindeutig und unversöhnlich herauszustellen7.

Abermals waren die Protestanten zur Reaktion gezwungen: zur Annahme der Confutatio aufgefordert, ohne diese in der schriftlichen Fassung zur Verfügung gestellt zu erhalten, arbeitet Melanchthon anhand von Notizen bei der Verlesung eine Apologia Confessionis aus8, in welcher – bei gleichem Aufbau wie die Confessio, aber erheblich größerem Umfang im Einzelnen – die Präzisierungen und ausführlicheren Begründungen (gerade auch zur attackierten Rechtfertigungslehre) gegeben werden, die der summarisch harmonisierende Geist der Confessio noch zu erübrigen können glaubte.

Zu einer Verlesung ihrerseits kam es gleichwohl nicht; auf Anraten verweigerte der Kaiser am 22. September die Annahme. Bis zum Mai 1531 überarbeitete und verbesserte Melanchthon die Apologie (insbesondere den Abschnitt über die Rechtfertigungslehre), die uns somit gedruckt gegenüber der Augsburger Version in er­weiterter Fassung vorliegt. 1537 wurde sie in Schmalkalden neben der Confessio offizielle Bekenntnisschrift9.

II. Die Rechtfertigungsartikel innerhalb des Aufrisses von CA und Apologie

Der zentrale Rechtfertigungsartikel in der CA ist der vierte De iustificatione10; seine Stellung innerhalb der Confessio ist vor dem Hintergrund einer weitgehenden Kongruenz im Aufbau zwischen dem ersten Teil der CA und dem altkirchlichen Glaubensbekenntnis11 zu sehen.

Die trinitarische Grundlegung in CA 1 stellt sich mit dem Verweis auf das Nicaeno-Constantinopolitanum (von 381) ausdrücklich in die Tradition der altkirchlichen Gotteslehre, eine Ubereinstimmung, welche auch der zweite Artikel über die Erbsünde und der christologische dritte12 erweisen sollen. Mit dem fünften Artikel über den Heiligen Geist als Vermittler des Wortes setzt die Behandlung des geistlichen Amtes und der Kirche (bis Art. 8) im reformatorischen Sinne ein. Damit ist die Rechtfertigungslehre in die dem zweiten (Christus) und dritten (Hlg. Geist) Teil des Glaubensbekenntnisses entsprechenden Artikel eingebettet. CA 17 Von der Wiederkunft Christi zum Gericht (und damit auch der Wiederauferstehung der Toten) schließt den Aufriss, welcher im Anschluss an das Credo auch für die Lehrartikel der Confessio Augustana festzustellen ist13.

Insgesamt ist der Aufbau der Apologie der gleiche wie derjenige der CA. Doch hatten sich erhöhte Ausführlichkeit und Präzisierung der darzulegenden Lehren bereits im erheblich umfangreicheren Artikel 2 Von der Erbsünde niedergeschlagen, so stellt der vierte Artikel der Apologie Von der Rechtfertigung strenggenommen eine eigene Abhandlung für sich dar, in fünf Abschnitten und einer ausgiebigen Antwort auf die Argumente der Widersacher14, gefolgt von der Kirchenlehre und den Sakramentsartikeln. Insgesamt bietet die Apologia parallel zur Confessio eine eingehende theologische Auslegung der dort vergleichsweise knapp und summarisch dargelegten Grundzüge des protestantischen Verständnisses.

III. Der Rechtfertigungsbegriff der Confessio Augustana

„Gleichermaßen lehren sie, dass die Menschen vor Gott nicht durch eigene Kraft, Verdienste oder Werke gerechtfertigt werden können, sondern umsonst um Christi willen durch den Glauben gerechtfertigt werden, wenn sie glauben, dass sie in die Gnade aufgenommen und ihre Sünden erlassen werden um Christi willen, der durch seinen Tod für unsere Sünden Genüge geleistet hat. Diesen Glauben rechnet Gott als Gerechtigkeit vor sich selbst an“15 (Art. 4).

Die entscheidenden Begriffe des reformatorischen Rechtfertigungsverständnisses sind in einer maßvoll formulierenden, darum aber nicht weniger eindeutigen Sequenz zur Sprache gebracht: Verneinung der Wirksamkeit eigener Leistungen und Verdienste, dagegen Beharren auf den Prinzipien des gratis und des propter Christum; was diesen gegenüber auf der Seite der Gläubigen erwartet wird, ist der Glaube an die Gnade Gottes um Christi willen. Bemerkenswert und für das diplomatische Anliegen Melanchthons bezeichnend, dass der excludierende Grundsatz des sola fide noch nicht ausdrücklich auftaucht16, gleichwohl der Sache nach verfochten wird.

Der Glaube des Menschen an Rechtfertigung vor Gott ist gleichgesetzt mit dem Glauben an Christus und seinen (von den Sünden) erlösenden und damit gerecht machenden (iustificare) Opfertod; Rechtfertigungsglaube im Sinne eines Christusglaubens ist somit „seinem Wesen nach Heilszuversicht“17. Dabei zeigt das Nebeneinander von propter Christum und per Christum, dass die Rechtfertigung nicht nur (äußerlich) um Christi willen, sonden eben auch durch Christus selbst vollzogen wird. CA 20 wird dies folgendermaßen verdeutlichen: „… quod propter Christum recipiamur in gratiam, qui solus positus est mediator et propitiatorium, per quem reconcilietur pater“18; CA 21 wendet dies sinngemäß gegen einen übertriebenen Heiligenkult an19.

Der Glaube als die Haltung, in welcher man die Gnade der Rechtfertigung überhaupt erst erfahren könne, wird nun ausdrücklich aus der Heiligen Schrift hergeleitet, aus Rom. 3, insbes. 24 und 26 und Rom. 4, 5, in welchen der Gedanke des gratis, also der Ablehnung eigener Verdienste, und der des (sola) fide in entsprechender Weise miteinander verknüpft sind20. Ganz eindeutig schließt später AC 4 eine ‚Verdienstauffassung‘ aus und ersetzt sie durch die strikte Exklusivpartikel gratis. Freilich ist damit in erster Linie ausgesagt, dass die Rechtfertigung von vorangegangenen Leistungen nicht abhänge, der objektive ethische Wert (möglicherweise nachfolgender) ‚guter Werke‘ soll hingegen keineswegs aufgehoben werden21.

Zahlreiche weitere Aussagen zum Rechtfertigungsgeschehen aus reformatorischer Sicht finden sich über die einzelnen Artikel der CA verstreut22; es sollen nun im Folgenden diejenigen noch kurz überblickt werden, welche die in CA 4 bereits genannten Grundelemente der Rechtfertigung – gratis, propter Christum, per fidem – in sich aufnehmen:

  1. Von der Sündenvergebung aus Gnade, die (allein) durch den Glauben und nicht durch eigene Verdienste zu erreichen sei, sprechen sodann Artikel 6 (BKSL 60, 13-17 / § 3 Ambrosius s. o. Anm. 16), Artikel 20 (BKSL 79, 3-5 / § 22 – Klosterleben u. ä.) und Artikel 28 (BKSL 129, 6-9 / § 52 – Gottesdienste).
  2. Christus als der Stifter dieser Gnade wird uns in den Artikeln 20 (BKSL 76, 26 – 77, 30 / §§ 9-14 – Paulus, Ambrosius und Augustin – und 79, 11-13 / § 23 – ‚Historienglaube‘ – wahrer Glaube), 26 (BKSL 101, 17-21 / § 5 – gegen äußerliche Kultvorschriften – und 104, 28 – 105, 1 / § 27 – Petrus) und 27 (BKSL 116, 5-13 / § 37 – Relativität des von Menschen eingesetzten Kultus, nach Paulus23) mehrfach vor Augen geführt.

Als Ganzes betrachtet, findet eine weitere Differenzierung des Rechtfertigungsgedankens hier noch nicht statt; dies wird die ‚Abhandlung‘ AC 4 zu leisten haben. Die Confessio zeichnet das Gerüst des Rechtfertigungsgebäudes auf, ein materialreiches Ausfüllen und quasi die Feinarbeit im Einzelnen erbringt die Apologie. Zahlreiche parallele Wendungen und synonyme Begriffe zu gerechtfertigt werden / iustificari finden sich – nicht allein in den oben eigens genannten Stellen –, etwa zu Gnaden nehmen, Vergebung der Sünde verdienen oder Gnade und Vergebung der Sünden erlangen24.

Verschiedene Aspekte der Rechtfertigung sind durchaus ungeschieden nebeneinandergestellt: ihr Grundcharakter ist forensisch im Sinne einer Zurechnung der Gerechtigkeit als göttlichem Akt im Himmel (mithin ‚ausserhalb‘ des gläubigen Menschen)25; auf dieses richterliche Urteil Gottes deutet der letzte Satz von CA 4. In engem Zusammenhang damit steht der Begriff der ‚imputativen Gerechtigkeit‘, welche bereits Luther in den Doppelgedanken einer Nichtanrechnung der Sünden und einer Anrechnung der Gerechtigkeit Christi faßte26. Freilich ist unter dem Imputationsgedanken keine bloße Zurechnung zu verstehen: von einer  ‚magischen‘ Hinwegnahme aller Sünde aus dem ‚alten Menschen‘ kann keine Rede sein, doch wird der sich als solchen erkennende Sünder quasi zum ‚neuen Menschen‘ in die (durch Gott selbst) wiederhergestellte Gottesgemeinschaft hinein wiedergeboren, die verlorene Gottesnähe neu bewirkt27. Von diesem Standpunkt aus konnte auch E. Schlink28 (forensische) Gerechterklärung und (effektive) Gerechtmachung gleichsetzen. Eine Trennung dieser beiden Prinzipien ist in der CA jedenfalls noch nicht beabsichtigt; sehr stark betont wird allerdings durchweg der (paulinische) Gedanke des gratis.

IV. Die Ausarbeitung des Rechtfertigungsbegriffs in der Apologia Confessionis

Es bietet sich nun an, gerade die letztgenannten Gesichtspunkte der CA in der Apologie weiterzuverfolgen29. Vom forensischen Charakter seines Rechtfertigungsbegriffes spricht Melanchthon ausdrücklich: BKSL 209, 32-34 (lt.) „Und gerechtfertigt werden bedeutet hier nicht, aus einem Gottlosen zu einem Gerechten gemacht zu werden, sondern nach dem usus forensis zu einem Gerechten erklärt zu werden“; nicht minder deutlich BKSL 219, 43-46 (lt.) „Rechtfertigen aber heißt an dieser Stelle (Röm. 5, 1) nach dem forensischen Gebrauch den Angeklagten freisprechen und für gerecht erklären, allerdings um einer fremden, nämlich Christi Gerechtigkeit willen, welche als fremde Gerechtigkeit uns durch den Glauben vermittelt wird. Und wenn daher an dieser Stelle unsere Gerechtigkeit die Anrechnung (imputatio) einer fremden Gerechtigkeit ist, …“ [jeweils eigene Übers.]; nach der Abgrenzung von einer philosophisch begründeten Werkgerechtigkeit findet sich innerhalb weiterer Pauluszitate 2. Kor. 5, 21 folgendermaßen angewandt: „Aber weil Christi Gerechtigkeit uns durch den Glauben geschenkt wird, ist deswegen der Glaube als Gerechtigkeit in uns angerech­net, d. h. er ist das, wodurch wir zu Angenommenen bei Gott wegen der Anrechnung und Einsetzung vor Gott gemacht (efficimur) werden, wie Paulus sagt (Röm. 4, 3/5): Der Glaube wird gerechnet zur Gerechtigkeit“30. Man sieht neben dem imputativen auch das effektive Moment recht deutlich; freilich wird nun nicht eine neue ethische Qualität des (jetzt etwa gerechten) Menschen bewirkt, vielmehr eine neue Weise der Gemeinschaft Gottes mit dem (nach wie vor sündigen) Menschen, eine neue Gottesnähe des Menschen durch Gott in Christus geschaffen .

Eine weitere Stelle der AC drückt dies noch eingehender aus: In Artikel 4 heißt es im vierten Abschnitt Dass wir Vergebung der Sunde allein durch den Glauben an Christum erlangen31: „So aber denken wir nicht über den Glauben, sondern verteidigen folgendes, dass wir eigens und wirklich durch den Glauben selbst um Christi willen für gerecht erachtet werden bzw. vor Gott angenommen sind. Und weil gerechtfertigt werden bedeutet, aus Ungerechten zu Gerechten gemacht bzw. wiedergeboren zu werden, bedeutet es auch, für Gerechte erklärt bzw. gerechnet zu werden. Auf beiderlei Weise spricht nämlich die Heilige Schrift. Deswegen wollen wir zuerst dies zeigen, dass allein der Glaube aus einem Ungerechten einen Gerechten macht, d. h. die Vergebung der Sünden empfängt.“ Die Gerechtmachung besteht also in einer Neubegründung des Verhältnisses zu Gott auf dem Wege der Sündenvergebung um Christi willen.

Nach den fünf eigenen Lehrabschnitten trifft Melanchthon in der ‚Antwort auf die Argumente der Widersacher‘ allerdings eine Unterscheidung zwischen effektivem und imputativem Moment (BKSL 209, 32 ff.): „Und gerechtfertigt werden bedeutet hier (bei Jak. 2, 2432) nicht, aus einem Ungerechten zu einem Gerechten gemacht zu werden, sondern nach dem usus forensis für gerecht erklärt zu werden … folgendermaßen denken wir über die Worte des Jakobus: Gerechtfertigt wird der Mensch nicht allein aus dem Glauben, sondern auch aus den Werken, weil gewiss die Menschen für gerecht erklärt werden, die den Glauben und gute Werke besitzen. Denn gute Werke gehören – wie wir sagten – zu den Heiligungen der Gerechtigkeit und gefallen wegen des Glaubens. Denn nur die Werke preist Jakobus, welche der Glaube hervorbringt, wie er bestätigt, wenn er von Abraham sagt: der Glaube unterstützt seine Werke. In diesem Verständnis wird ausgesagt: die das Gesetz erfüllen, werden gerechtfertigt, d. h. für gerecht erklärt, die mit dem Herzen an Gott glauben und dann auch gute Früchte tragen, welche wegen des Glaubens gefallen und deswegen die Erfüllung des Gesetzes darstellen (52)“ [eigene Übers.]. Hier wird vordringlich der Folgecharakter der guten Werke aus dem Glauben im Anschluss an Jakobus unterstrichen33, denen die Rechtfertigung durch Sündenvergebung vermittels Christi vorangegangen ist34.

Und hiernach richtet sich auch die Unterscheidung zwischen den beiden Formen der Rechtfertigung: für gerecht erklärt werden hier diejenigen, an denen der Rechtfertigungsvorgang als solcher bereits vollzogen ist und die als Früchte ihres lebendigen Glaubens und ihres neuen Verhältnisses zu Gott dies jetzt auch durch gute Werke bestätigen35. So kann Melanchthon den scheinbaren Widerspruch der gesamten Passage Jak. 2, 14-26 zur paulinischen Rechtfertigungslehre etwa aus Röm. 4, 1-8 erklären, ohne sich um die lästige Stelle aus dem Jakobusbrief herum zu winden oder ihn, wie Luther, gegenüber Paulus herabzusetzen36.

Das neue Verhältnis zu Gott erklärt Melanchthon mit einer weiteren Stelle aus dem Römerbrief (5, 1): „pacem habemus erga Deum“, und zwar als „iustificati ex fide“ (BKSL 219, 42 f.); und weiter unten (ib. 52 f.): „… (der Glaube), durch den wir zu Angenommenen bei Gott gemacht werden …“37. Die Gerechtigkeit wird auch hier im Zuge eines forensischen Aktes zugesprochen, und sie kann auch nur zugesprochen werden, da sie ja, wie mehrfach auch an dieser Stelle betont, die Gerechtigkeit Christi, also eine ‚Fremdgerechtigkeit‘ ohne jede eigene Leistung ist. Die Leistung des Sünders besteht lediglich darin, dass er im Glauben an Christus ein Medium bereit hält, durch welches ihm Christus und dessen Gerechtigkeit zuteilwerden konnte.

Einige kurze Bemerkungen zur Rolle Christi und zum Gedanken des gratis seien noch angefügt: der Wert der ‚guten Werke‘ als Rechtfertigungsgrund ist hinreichend abgewiesen, und gerade CA 4 hatte auf den Begriff gratis großen Wert gelegt; an ganz anderer Stelle der Apologie, im 24. Artikel Von der Messe (was Opfer sei), wird dieser gratis-Gedanke mit der Opfertat Christi in Verbindung gebracht: dort (BKSL 354, 26-31) wird von einem Sühnopfer (sacrificium propitiatorium, i. e. satisfactorium) gesprochen, welches Gott versöhnt (reconcilians) bzw. Anderen Sündenvergebung (remissionem peccatorum) verdient. Wir erkennen zentrale Begriffe von CA 4 wieder38. Weiter: nicht wegen unserer Gerechtigkeit, sondern wegen fremder – Christi – Verdienste will Gott sich uns versöhnen lassen (ib. 355, 31-37)39.  Und schließlich im Art. 27 (Von den Klostergelübden): „… nicht, um wegen unserer eigenen Werke die Sünden zu erlassen, sondern um seine Verdienste, seine Versöhnungstat dem Zorn Gottes für uns entgegenzusetzen, damit uns umsonst / ohne Verdienst verziehen werde“40; dieser ver­zeihende Gnadenakt (in gratiam recipi aus CA 4) wurde schon im ersten Abschnitt von AC 4 als die gratuita remissio peccatorum et iustitia fidei charakterisiert41.

Wir haben somit sehen können, dass der vierte Artikel der Apologia Confessionis die knappen, aber grundlegenden Gedanken des Artikels 4 der Confessio Augustana an zahlreichen Stellen aufgreift, präzisiert und – nicht zuletzt mit mannigfachen Schrift­zeugnissen – zu belegen sucht. Auch die Tendenz, sich ganz in die Tradition der Alten Kirche, insbesondere der paulinischen Rechtfertigungslehre, zu stellen, ist durchgängig beibehalten. Lag der beherrschende Gedanke von CA 4 im Begriff des gratis, demgegenüber auf eine scharfe Trennung zwischen forensischer und effektiver Rechtfertigung verzichtet worden war, so unterscheidet die Apologie hier doch genauer: das effektive Moment des Rechtfertigungsgeschehens betrifft wesensmäßig nicht den (sündigen) Menschen in einer (neuen) ethischen Qualität, sondern seine neue Gottesnähe nach der Sündenvergebung (um Christi willen). Diese neue Gottesgemeinschaft wird quasi ‚erklärt‘ in einem forensischen Akt, mit welchem ihn Gott unter Anrechnung seines Glaubens (anstelle seiner Sünden) für gerecht erklärt und somit wieder (in Gnaden) annimmt. Dieses Nebeneinander und nicht eine gleichwie geartete rationelle Abfolge zwischen beiden Momenten42 entspricht auf das Genaueste dem lutherischen Grundgedanken des simul iustus et peccator43.

Saarbrücken, im Frühjahr 1986

[aus: Beiträge zu den Sprach- und Literaturwissenschaften, hg. v. R. G. Fischer (Frankfurt a. M. 1986), 39-54].

Anmerkungen:

1„… alle ains yeglichen gutbeduncken, opinion und maynung zwischen uns selbs in liebe und gutligkait zuhören, zuverstehen und zuerwegen …“ (Text nach K. E. FÖRSTEMANN, Urkundenbuch zu der Geschichte des Reichstages zu Augsburg im Jahre 1530, 2 Bde. (Halle 1833-35, ND Osnabrück 1966), Bd. 1, 7 f.).

2Kl. R1SCHAR, Johann Eck auf dem Reichstag zu Augsburg 1530, in: RGST 97 (1968), hier insbes. 17, vgl. auch 18-23.

3Erst hier tritt auch das Bestreben in den Vordergrund, ein protestantisches Bekenntnis auf breiterer Basis zustande zu bringen.

4Deren endgültige Form stellt somit quasi eine ‚Ratifizierung‘ auch der Marburger Artikel dar und wird sehr bald nach den Religionsgesprächen vorgelegen haben; jedenfalls wurden sie zwischen dem 3. und 7.10. 1529 in Schleiz von Kursachsen und Brandenburg-Ansbach angenommen, die sich zusammen mit Nürnberg am 16.10.1529 in Schwabach und am 2./3.12.1529 in Schmalkalden von Hessen, Ulm und Straßburg schieden. Darüber hinaus hatte Melanchthon bei der Abfassung auch Luthers Bekenntnis Vom Abendmahl Christi (1528) sowie seine Katechismen verwertet; vgl. hierzu insgesamt auch B. LOHSE, Die Confessio Augustana und die Apologie, in: C. ANDRESEN (Hg.), Handb. d. Dogmen- u. Theologiegeschichte, 3 Bde. (Göttingen 1980-84), Bd. 2, 1980, 81-94 (mit weiterer Literatur), hier insbes. 83 f.

5S. dazu Luthers Bemerkung (bei aller Zustimmung im Grundsatz) in einem Brief an Kurfürst Johann von Sachsen (15. Mai 1530): „… denn ich so sanfft und leise nicht tretten kan“ (WAB 5, Nr. 1568, 8).

6S. dazu auch Luthers erneute Kritik am ‚Leisetreten‘ in einem Brief an Justus Jonas vom 21.07.1530 (WAB 5, Nr. 1657, 6-9).

7Zur Confutatio insgesamt s. V. PFNÜR, Einig in der Rechtfertigungslehre ? Die Rechtfertigungslehre der CA (1530) und die Stellungnahme der katholischen Kontroverstheologie zwischen 1530 und 1555 (Wiesbaden 1970), 222-50.

8Notwendig geworden nicht zuletzt auch durch das endgültige Scheitern der noch bis Ende August stets parallellaufenden Ausgleichsverhandlungen unter theologischer Federführung Melanchthons und insbesondere des päpstlichen Legaten Campeggio; zu diesen Ausschüssen im Einzelnen s. PFNÜR, a. O. 251-71.

9Zum ‚Schicksal‘ der Apologie auf und nach dem Augsburger Reichstag s. auch: Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche [fortan BKSL] (Göttingen 1930, 91982), Einleitung XXII f.

10Bekenntnisschriften 56 f. mit parallelen reformatorischen Texten.

11Diese kommt in der Weise zustande, dass CA 1-17 auf den siebzehn Schwabacher Artikeln basieren, in welche wiederum Luthers Bekenntnis von 1528 (s. o. Anm. 4) Eingang gefunden hatte. Dieses Bekenntnis einerseits, wie auch Melanchthons Loci von 1533/35 (vgl. Corpus Reformatorum [Berlin 1834 ff.], XXI 349) orientieren sich ausdrücklich am Aufbau des Apostolisch/Nicänischen Glaubensbekenntnisses; gerade die genannten Loci aber zeigen die gleiche Anordnung wie die CA, so dass es sich anbietet, das Credo der Alten Kirche auch als Hintergrund dieses Teiles der Confessio anzusehen (hierzu auch PFNÜR a. O. 97-99 mit früheren Gliederungsansätzen für die CA).

12Auch am Ende dieses Artikels wiederum der Verweis auf das Symbolum Apostolorum, s. Bekenntnisschriften 54, 26 bzw. § 6.

13Zur Sakramentenlehre und ihrer Einordnung in den Artikeln 9-13 (nach Luthers Vorarbeiten insbes. zum dritten Teil des Glaubensbekenntnisses) sowie zu CA 14-16 als sekundären Zusatzartikeln s. PFNÜR a. O. 104 f.; dort spricht Pfnür auch einleuchtend vom „heilsgeschichtlichen Rahmen“ bzw. „konsequenter heilsgeschichtlicher Ordnung“, 101 von „der Verbindung von trinitarischem Aufriss und heilsgeschichtlicher Linie“ sowie „der Hinordnung der Rechtfertigungslehre sowohl auf den zweiten als auch auf den dritten Teil des Glaubensbekenntnisses“ innerhalb der Lehrartikel 1-17 der CA. Auch die Artikel 18-21 werden allgemein als Zusatzartikel zu einzelnen Fragestellungen (insbes. Vorwürfen Ecks aus den 404 Artikeln) angesehen (vgl. PFNÜR a. O. 98).

14Bekenntnisschriften 158-233.

15Bekenntnisschriften 56 §§ 1-3.

16S. aber Bekenntnisschriften 56, textkritischer Apparat zu (dt.) 3/8 „allein aus Gottes Gnaden …“ in einer Vorform des deutschen Textes. In einem Ambrosiuszitat findet sich der Gedanke dann im sechsten Artikel (Bekenntnisschriften 60, 16 / § 3).

17Vgl. B. LOHSE a. O. (s. o. Anm. 4) 87.

18Bekenntnisschriften 77 § 9; im deutschen Text findet sich allein der Begriff des ‚Mittlers‘. Den Christus propitiator wird auch die Apologie ausarbeiten, s. etwa Bekenntnisschriften 206, 17-23 (erläuternd dazu auch ib. 218, 42-46), ib. 382, 38 – 383, 11.

19Bekenntnisschriften 83 b, 14 – c, 2 (mit 1. Timoth. 2, 5 und Röm. 8, 34) / 83 b § 2; s. auch Torg. ib. 83 b, 23 f. Weitere Begriffe wären etwa der der hostia in CA 3 (54, 10-12 / § 3) oder der oblatio aus CA 24 (93, 26-28 / § 25).

20Dabei steht gratis in Verbindung mit der Rechtfertigung (dikaioúmenoi dōreán) im NT nur hier (Röm. 3, 24; PFNÜR a. O. 144). S. dazu die Annotationes zum Römerbrief ( 1530), CR 15, 451 mit ihrer klaren Unterscheidung zwischen Gesetz (/merita) und Evangelium (/gratis), Moses als Gesetzgeber und Christus als Erlöser sowie CA 20, Bekenntnisschriften 77 § 14 (Ps.-Ambros. de voce gent. I 17); auch die Apologie führt (ib. 179, 28 – 180, 13) wortreich aus Augustin (de spiritu et lit. 13, 22) und Paulus die Rechtfertigung ‚ungeschuldet‘ auf den Glauben und nicht (als Lohn) auf gute Werke zurück.

21S. Bekenntnisschriften 170, 55 f. gratuitum excludit nostra merita; ib. 174, 45 – 175, 22: (nach der Herleitung der gleichfalls Exklusivpartikel sola aus Paulus) „… excludimus … opinionem meriti … Dilectio etiam et opera sequi fidem debent. Quare non sic excluduntur, ne sequantur, sed fiducia meriti dilectionis aut operum in iustificatione excluditur …“ Zu den Kernbegriffen der re­formatorischen Rechtfertigung vgl. auch PFNÜR a. O. 144-54.

22Eine Gesamtzusammenstellung bietet PFNÜR a. O. 140-43.

23Zur Zurückdrängung des Einflusses von Kirchen- und Gottesdienstordnungen, von überkommenem Brauch und Zeremoniell s. auch Bekenntnisschriften 106, 24 – 107, 4 / §§ 40-42 (Art. 26) und 117, 15-27 / § 48 (Art. 27).

24Dieser Wendung ist im lateinischen Text von Art. 20 (BKSL 79 § 23) die iustitia ausdrücklich beigegeben, im deutschen aber schon gar nicht mehr eigens ausgedrückt. Art. 5 (BKSL 58 § 3) läßt dem Deus … iustificet im Deutschen (10) ein gnädigen Gott haben entsprechen.

25Hier setzt sich Melanchthons persönliche Lehre durch; im ‚Osiandrischen Streit‘ (1549-66) hat sie sich später gegenüber der Ansicht zu behaupten, dass die Gerechtigkeit Christi dem Glaubenden realiter einwohne.

26Vgl. SCHEEL, Rechtfertigung II (Dogmengeschichte) 7/8, in: RGG 4 (1913), Sp. 2083-86, hier insbes. 2083 f. und IHMELS, Rechtfertigung, in: RE für Protestant. Theologie und Kirche3 16 (1905), hier 502-08, insbes. 504-06 sowie HERMANN (u. Anm. 27) 202 f.

27Vgl. R. HERMANN, Ges. Studien zur Theologie Luthers und der Reformation (Göttingen 1960), 112.

28Die Theologie der Bekenntnisschriften (München 1948), 141 (zu AC 4).

29Eine ausführliche Bibliographie zum Rechtfertigungsbegriff der Apologie in der Forschung seit F. LOOFS (1884) gibt PFNÜR a. O. 155 Anm. 94/95.

30Röm. 4, 5 „Dem aber, der nicht mit Werken umgeht, glaubt aber an den, der die Gottlosen gerecht macht [effektiv], dem wird sein Glaube gerechnet zur Gerechtigkeit [imputativ]“.

31BKSL 174, hier insbes. 34-44; vgl. dazu auch PFNÜR a. O. 173 f.

32S. BKSL 207, 35-37 und PFNÜR a. O. 175 m. Anm. 255.

33Jeder Verdrehung dieser Worte ins umgekehrte Verhältnis und den sich daraus ergebenden Schlüssen auf das Verhältnis Christus – gute Werke im Rechtfertigungsgeschehen wird im Folgenden (bis 210, 8) energisch und wortreich widersprochen (s. auch ib. 207, 35-55).

34Zum Nachfolgecharakter der Werke aus dem rechtfertigenden Glauben (sowie ihrem Stellenwert ganz allgemein) s. auch BKSL 186, 48-54 und 187, 27-35 (Gesetz und Werke); 188, 1-14 (praecedere fidem, sequi dilectionem); 191, 36-55 (Christus – Werke/Gesetz); 197, 45 – 198, 39 (gute Werke als Früchte und Betätigungen des Glaubens, zugleich aber auch als Christi Werke im Großen wie im Kleinen; dazu auch HERMANN a. O. 271-74); 214, 46-52 (gute Werke als Folge und äußeres Zeichen der Aussöhnung).

35S. hierzu auch PFNÜR a. O. 175 f. – Die guten Werke werden überhaupt zu solchen, die Christus/Gott durch den Menschen verrichten lässt und damit heiligt; die Haltung des Menschen, dies an und durch sich geschehen zu lassen, kann damit durchaus im Sinne des biblischen Werkverständnisses gesegnet werden, vgl. H. ASMUSSEN, Warum noch lutherische Kirche – ein Gespräch mit dem Augsburger Bekenntnis (Stuttgart 1949), 77 und 80-82; zur Stellung der Confutatio zu CA 4, insbes. ihrem berechtigten Hinweis auf den biblisch verankerten Lohngedanken („Gott wird einen jeden nach seinen Werken richten“) einerseits, ihrem Zugeständnis aber, dass „unsere Werke aus sich selbst nichts verdienen, sondern Gottes Gnade sie würdig mache des ewigen Lebens“, andererseits s. ASMUSSEN ib. 80.

36Hierzu wie zum Verfahren Melanchthons s. F. W. KANTZENBACH Der argumentative Schriftgebrauch in der reformatorischen Theologie des Heils, in: Lebendiger Umgang mit Schrift und Bekenntnis (Theologische Beiträge zur Beziehung von Schrift und Bekenntnis und zu ihrer Bedeutung für das Leben der Kirche), hg. von J. TRACK (Stuttgart 1980), 85-125, insbes. 108 f.

37Zu dieser Passage (BKSL 219, 42-53) s. o.; vgl. auch PFNÜR a. O. 177 f.

38Mit Verweis auf den Hebräerbrief wird auch (ib. 355, 15-19) die Einzigartigkeit dieses Opfertodes herausgehoben (vgl. ib. 356, 7). HERMANN a. O. 101: „Das ‚um Christi willen, der durch seinen Tod für unsere Sünden genuggetan hat‘ ist der tragende Grund des Artikels“ (CA 4). Hätte der Mensch sein gestörtes Gottesverhältnis selbst wiederherstellen können (eben durch ‚eigene Kräfte, Verdienste, Werke‘), so hätte Gott nicht seinen Sohn zu senden brauchen (HERMANN 102).

39Vgl. ib. 206, 17-23; 218, 42 f.: Christus propitiatorChristi merita (auch CA 20 – BKSL 77, 3 ff. / § 10 – spricht vom Verdienst Christi als dem einzigen Weg zu Gott).

40BKSL 382, 38 – 383, 11. S. auch PFNÜR a. O. 146-48.

41BKSL 163, 26 – 164, 21 (der deutsche Text ist wesentlich ausführlicher); o. g. Aussage dient als Abschluss des lateinischen Textes (164, 3 f.). Vgl. auch HERMANN a. O. 263 f.

42Zum Verhältnis zwischen forensischem und effektivem Rechtfertigungsbestand in AC 4 vgl. LOHSE a. O. (o. Anm. 4) 92 f.; ganz zu Recht lehnt auch er einen ‚analytischen‘ Recht­fertigungsbegriff, welcher den Menschen schrittweise gerecht (gemacht) werden ließe, um ihn schließlich für gerecht erklären zu können, für AC 4 ab. Man mag immerhin den Begriff eines ‚synthetischen‘ (Feststellungs-)Urteils verwenden, um die Rechtfertigung als einen Akt extra hominem verständlich zu machen.

43Anregung und Einführung in den hier behandelten Gegenstand verdanke ich F. W. KANTZENBACH.

Abiturrede-2010

Abirede-20-03-10

Rhapsodia abiturientum – Gegangen, um zu bleiben …

 

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, eigentlich ist das ja ein Wortungetüm: von einer dritten Person Singular Passiv ab-itur „es wird weggegangen“ / „man geht weg“ wiederum ein Partizip zu bilden – das habt nicht einmal Ihr in all den Klassen- und Kursarbeiten hingelegt, und das dazu noch in der genderkorrekten Form, wie sie vom eigentlich zugehörigen abeuntes gar nicht, bestenfalls noch als Partizip Futur abituri abituraeque abgeleitet werden kann. Also abitur, im Sinne von: „von Euch wird abgegangen“ / „Ihr geht jetzt mal“, und sieht man sich von einer Jahrgangsstufe vor die Herausforderung der lehrerseitigen oder –lastigen Abiturrede gestellt, dann überlegt man sich spätestens bei deren Abfassung, was denn nun im Schuljahresgeläuft so prägende und charakteristische Merkmale derer gewesen sein könnten, mit denen man es seinerzeit zu tun hatte und über die bzw. vor denen man jetzt sprechen soll.

Und wenngleich ich über die Schuljahre hinweg doch mit recht Vielen Eurer Stufe im Unterricht wie außerhalb in dieser oder jener Weise zusammengewerkelt habe, so liegt es in der Natur der Sache, daß es eben nicht Alle waren – aber ich denke, daß meine Schilderungen und Eindrücke durchaus nicht fernab oder bar jeglicher Verallgemeinerungstauglichkeit sind.

Eure verbreitete filigrane Virtuosität im Umgang mit Kasusfunktionen, Satzbauteilen und Verbformen geriet mir schon seit frühen Jahren zum Stairway nicht eben to heaven, aber es reichte doch bis zur Klassenzimmerdecke, die Gewißheit eingeschlossen, daß ich nach Langem Marsch ebenda von ebendort auch wieder herunterkommen würde, um unverdrossen auf ein Neues … aber lassen wir das, tempi passati.

Mundus Novus eröffnete uns neue Sichten auf die ‚Dinge des Lebens‘, welche der antike Roman noch märchenhaft vage hatte ahnen lassen, Cäsar vermittelte eine Idee ihrer Durchsetzbarkeit, die Metamorphosen Ovids die Einsicht in ihre Wandelhaftigkeit; die Epen Homers gaben einen tiefen Einblick in die Fährnisse der condicio humana, der Aufstieg aus Platons Höhle hinauf zur Sonne, zur Freiheit wies auf den Unterschied zwischen Schein und Wesentlichem, Hellas und Rom boten sich in ihrer künstlerisch-architektonischen Wirkmacht – kurz: Freude an Sprache, Literatur und Geschichte, an Dichtung, Philosophie und Kunst jenseits eines bezahlbaren Nutzeffektes zu vermitteln, ist zu allen Zeiten eine Sisyphusarbeit spießiger Schulmeister gewesen – das beklagen bereits Erasmus von Rotterdam (1511) sowie Philipp Melanchthon in einer Wittenberger Universitätsrede „De miseriis paedagogorum“(1533)1, und ich hoffe sehr, daß ich darin bei Euch, sicher in unterschiedlichem Maße, aber doch nicht völlig erfolglos geblieben bin. In einem Kultfilm der 90er Jahre hat der Protagonist, Lehrer für englische Literatur an einer angelsächsischen Privatschule und in seinem didaktischen Reformeifer ebenso intolerant, ideologisch einseitig und begrenzt wie diejenigen, die er abschaffen zu sollen glaubte – nicht den Lateinpauker: der war einer der wenigen ihm freundschaftlich gesonnenen – einen allerdings sehr bedenkenswerten Satz gegenüber einem nutzenorientierten Technokraten zur Wirkung des Theaterspiels geäußert: Architektur, Jura und Medizin seien ja zweifellos ganz wichtig – aber welche Dinge bringen eigentlich Freude in unser Leben ? …

Da ich nun freilich – wie schon gesagt – auch nicht alle von Euch im eigenen Unterricht haben durfte, konnte, sollte, mußte, möchte ich hier nicht im Übermaß die Vergangenheit aufarbeiten, und als Künder von Wahrheiten ohne unmittelbaren Anwendungsnutzen werde ich mich ohnehin hüten, Euch Vorgaben für ein gelingendes Leben (so aus unserem Schulprogramm) zu erteilen – dafür seien aus ganz unterschiedlichen Zeiten an dieser Stelle maßgeblichere Zeugen benannt:

In einer berühmten Rede aus dem Umfeld des Florentiner Renaissance-Humanismus „De hominis dignitate – Über die Würde des Menschen“ (ursprünglich) von 1486 hat für den Philosophen Pico della Mirandola (einem kleinen Ort bei Modena in der heutigen Emilia-Romagna) der optimus opifex, der beste Bildner, den Menschen in den Mittelpunkt der Welt gestellt aufgrund seines freien Willens (arbitrium), sich den Platz, die Form, die Fertigkeiten zu geben, welche auch immer er sich wünscht, während die übrigen Lebewesen in gesetzte, vom Schöpfer vorgegebene Grenzen eingebettet seien2: „Keinen bestimmten Platz habe ich Dir zugewiesen, auch keine bestimmte äußere Erscheinung und auch nicht irgendeine besondere Gabe habe ich Dir verliehen, Adam3, damit Du den Platz, das Aussehen und alle die Gaben, die Du Dir selber wünschst, nach Deinem eigenen Willen und Entschluß erhalten und besitzen kannst. Die fest umrissene Natur der übrigen Geschöpfe entfaltet sich nur innerhalb der von mir vorgeschriebenen Gesetze. Du wirst von allen Einschränkungen frei nach Deinem eigenen freien Willen, dem ich Dich überlassen habe (pro tuo arbitrio, in cuius manu te posui), Dir selbst Deine Natur bestimmen. In die Mitte der Welt habe ich Dich gestellt, damit Du von da aus bequemer Alles ringsum betrachten kannst, was es auf der Welt gibt. Weder als einen Himmlischen noch als einen Irdischen habe ich Dich geschaffen und weder sterblich noch unsterblich Dich gemacht, damit Du wie ein Former und Bildner Deiner selbst nach eigenem Belieben und aus eigener Macht zu der Gestalt Dich ausbilden kannst, die Du bevorzugst. Du kannst nach unten hin ins Tierische entarten, Du kannst aus eigenem Willen wiedergeboren werden nach oben in das Göttliche4“.

Aber auch von der atheistischen Gegenseite her erhält der Mensch wie bei Pico, nur sehr viel später (um 1946), ein Höchstmaß an Würde in subjekthafter Eigenverantwortlichkeit durch den Existentialismus eines Jean-Paul Sartre, mit dem Selbstentwurf seiner individuellen, kommenden <Essenz>: „Der Mensch ist nichts Anderes als wozu er sich macht. Ein Wesen, das existiert, bevor es durch irgendeinen Begriff definiert werden kann […], anfangs überhaupt nichts. Er wird erst in der weiteren Folge sein, und er wird so sein, wie er sich […] will und wie er sich nach der Existenz konzipiert“. Die existentialistische Grammatik ist durchaus nicht welfaristisch geprägt, er ist vielmehr zur Freiheit in Verantwortung verurteilt: „Verurteilt, weil er sich nicht selbst erschaffen hat, anderweit aber dennoch frei, da er, einmal in die Welt geworfen, für Alles verantwortlich ist, was er tut.“ Er ist verlassen, findet „keine Entschuldigungen […], kann nie durch Bezugnahme auf eine gegebene und feststehende menschliche Natur Erklärungen geben; anders gesagt, es gibt keine Vorausbestimmung mehr, der Mensch ist frei, der Mensch ist Freiheit […], ohne irgendeine Stütze und ohne irgendeine Hilfe in jedem Augenblick verurteilt, den Menschen zu erfinden: <Der Mensch ist die Zukunft des Menschen> (Ponge).“5

Schon in Eurem bisherigen, gleichermaßen geregelten wie geschützten Raum Schule und Elternhaus werdet Ihr gespürt haben, daß „Freiheit“ sich ebenso gut anhört wie schwierig zu handhaben ist, und das jetzt für Euch kommende ‚freie Leben‘ wird dies als größte Herausforderung für Jede/n von uns und Euch jeden Tag auf ein Neues erweisen. Oder ist Freiheit nur ein anderes Wort für – „Nichts geblieben, was man verlieren könnte“ (Janis Joplin) ? „Wer im Leben gut auf Erden, wird nach dem Tod ein Engel werden“ – doch: „sie müssen sich an Sterne krallen, damit sie nicht vom Himmel fallen“ (Rammstein) … nun:  wie werden und müssen das hic et nunc nicht abschließend klären – können dafür aber dereinst vielleicht an der Stelle noch mal einsetzen, um uns über eine gründlichere Erörterung dieses komplexen Gedankenganges in das Thema noch mal einzufinden. Für heute wollen wir es uns etwas einfacher machen und beherzigen, was ein – allerdings nur einschlägig – bekannter ‚Kreativer‘ unserer Tage gemäß indirekter Überlieferung (SWR3) zu bedenken gegeben hat: „Baby, ik sak‘ nur eins – morge gibts ein ande Tak – the sun wird shin, geh‘ rraus und mak was aus dein Lebben“.

In diesem Sinne Euch Allen alles erdenklich Gute und stets eine glückliche Hand auf Eurem neuen Weg in freier Wildbahn … – abeatis.

 

Koblenz, 20. März 2010                                                    Michael P. Schmude

1Erasmus: Laus stultitiae 49/51; Melanchthon: De miseriis 1-3; 13.

2De hominis dignitate 4.

3Man denkt sogleich an die bekannte Geschichte von der Zuteilung der Eigenschaften und Fähigkeiten an Tiere und Menschen durch Epimetheus, den Nachher-Denker, und ihre Korrektur am Mängelwesen Mensch durch den Vorher-Denker Prometheus, wie sie der Sophist Protagoras und Platon im 4. Jh. v. Chr. erzählen.

4Der platonische Aufstieg im Kreislauf der Wiedergeburten ist hier unüberhörbar.

5Ist der Existentialismus ein Humanismus ?, in: J.-P.S.: Drei Essays (Zürich 1979), S. 9-12, 16 f.

Abiturrede-2011

Abirede-26-03-11

Liebe Abiturientia, liebe Eltern, Angehörige und Verbundene,

liebe Kolleginnen und Kollegen

 

„Unsere Jugend liebt den Luxus, sie hat schlechte Manieren, mißachtet Autorität und hat keinen Respekt vor dem Alter. Die heutigen Kinder sind Tyrannen, sie stehen nicht auf, wenn ein älterer Mensch das Zimmer betritt, sie widersprechen ihren Eltern, schwätzen beim Essen und tyrannisieren ihre Lehrer …“ – nein, kein Klageruf eines geplagten Studienrats im frühen 21. Jahrhundert, sondern – nach Ausweis seiner Stimme Platon [sinngemäß in Politeia, Buch VIII, 563 a4-b2 – soviel Fußnote muß sein in diesen Zeiten …]* – der eines gewissen Sokrates von Athen, und dieser wurde bekanntlich bereits im Jahre 399 vor Christus angeklagt, zum Tode verurteilt und hingerichtet – nicht von seinen Schülern, allerdings von deren Eltern …

Kaum ein anderes Miteinander oder Zusammenspiel, pädagogisch korrekt „Interaktion“, scheint sorgsamer umhegt von guten Ratschlägen und noch besserem Wissen als dasjenige von Schülern und Lehrern, was und wie der Eine zu handeln, was und wie die Anderen zu erleben haben – aber das sei der geballten Fachkompetenz der Talkshows, Expertenrunden und der theoretischen Journale anheimgestellt. Das Spannungs- und Wechselverhältnis zwischen Beiden hat nachfolgender Altmeister der Beredsamkeit zum Gegenstand einer launigen rhetorischen Fingerübung gemacht: als der Reformator Melanchthon, als Philipp Schwarzert seines Zeichens eigentlich ordentlicher Griechisch-Professor in Heidelberg, um das Jahr 1530 vor Scholaren der Universität Wittenberg De miseriis paedagogorum deklamierte, bemühte er (cap. 1) zu seiner heiter-ironischen, gewiß nicht ganz ernst gemeinten Darstellung von Leben, Arbeit und Erfolg des Standes der Schulmeister eine Fabel des lydisch-griechischen Sklaven Aesop, in welcher (196) der Esel vor Zeus tritt, um diesem sein wie seiner Genossinnen und Genossen hartes Los zu schildern, wie er unter der täglichen Arbeit in der Tretmühle zuammenzubrechen und aufgezehrt zu werden droht – aber welcher Esel habe in welcher Tretmühle jemals solche Mühsal zu ertragen gehabt wie der durchschnittliche paedagogus am Mühlstein der Lehre und Unterweisung.

Was hat das nun mit Eurer Schulzeit zu tun ? – Zunächst einmal … natürlich eher weniger bis rein gar Nichts.

Und da fährt unser praeceptor Germaniae doch tatsächlich und wörtlich fort (cap. 2): “Wenn Jemand gezwungen wird, ein Kamel das Tanzen zu lehren oder einen Esel, auf der Flöte zu spielen, wird man den nicht schon in besonderer Weise ‘arm dran‘ nennen, der sich vergeblich damit größte Mühe gibt ? Und doch ist dies erträglicher, als unsere Jungen zu lehren: denn wie Du keinen Fortschritt erzielst im Unterrichten eines Kameles oder Esels, so vergrößern Dir jene doch wenigstens nicht noch die Plage durch Ungezogenheit. Aber diese schönen Jungen da …“ – von Mädchen war noch keine Rede, und ich breche hier auch mal ab.

In der Unterwelt muß der große Lügner Sisyphus zur Strafe einen Felsen den Abhang hoch wälzen, der ihm dann kurz vor dem Gipfel wieder entgegenkommt und umso schneller zurück ins Feld hinunterrollt (cap. 3) – ein Sinnbild vergeblicher Liebesmüh vieler Sterblicher, und für unseren Lehrmeister eben auch des paedagogus und seines ganz besonderen Felsen: nur unter Zwang nehme der Schüler ein Buch zur Hand, und allein bei seinem Anblick wie beim Vortrag des Lehrers übermanne den Sorglosen der Schlaf der Gerechten, so daß eine ganz neue Kompetenz vonnöten ist – discipuli expergefaciendi – die des Aufweckens des Schülers. Die Abwesenheit jeglicher Gedächtnisleistung komme geradezu der Goldenen Regel bei Gastmahl und Gelage gleich, nach welcher am meisten verhaßt der sich erinnernde Mit-Zecher sei … Auch andeutungsweise Ähnlichkeiten mit real existierenden Elèvinnen und Elèven können hier nur der bare Zufall sein.

Mit der Räumung des Augias-Stalles, welche einem Herkules schon solche Last bereitet habe, vergleicht der Humanist und Professor für Poetik Gregor Bersmann (1537-1611) eine Generation später dann De calamitate et miseria docentium in ludis litterariis die Beschwerlichkeiten der Schullehrer, die rohen Sitten der lieben Jugend mit wacher und stetiger Sorge zu bereinigen: gut wohl die Kunst – doch im Magen der Hunger, selten der Dank – gewiß nur die Plage … Aber nicht, daß wir damit etwa Eurer Schulzeit bereits wirklich nähergekommen wären (Irrealis !):

Für Einige von Euch ist diese verbunden gewesen mit dem gleichfalls mühevollen Aufstieg in Platons Höhle zu den wahren Dingen der Erkenntnis, mit facta notabiliora wie Herodots Novelle vom Meisterdieb oder den Geschichten um Solon und Kroisos, aber auch um die Brüder Kleobis und Biton, welche wir dann auch noch vor Ort in Delphi bestaunen konnten – auf einer Griechenlandfahrt, die Anstrengendes geboten hat wie Akropolis und Nationalmuseum in Athen, Idyllisches wie die Insel Aigina und Sportliches in Olympia. Die Schrecken des modernen Athener Innenstadt-Chaos ließen Euch des Abends in einem Hotelzimmer für Alle zusammenrücken – und durch die geschlossene Zimmertür den Rauchmelder auf dem Flur in Gang qualmen. Was allerdings nicht verhindert hat, daß ich dieses Mal die 1000 Stufen der Feste Palamidi in Nauplia wieder in Begleitung besteigen konnte – wir haben das fotographisch dokumentiert und durften den traumhaften Ausblick von der Burgzinne gemeinsam genießen: es gab auch schon Griechenlandfahrten, da bin ich alleine da hoch, und unsere letzte Tour nach Rom, auf welcher wir die Urbs aeterna nach allen Regeln der Kunst epochen- und flächendeckend durchmessen haben, stand ja noch aus …

Ob man mit Platons Ideenlehre die jüngere Koblenzer Verkehrsführung oder den Bürokratismus der Bachelor- und Masterstudiengänge leichter bewältigt, das sei jetzt mal dahingestellt; das Bewußtsein um unsere europäische kulturelle Identität, die Antwort darauf, „wohin der Stier Europa trug“, ist keine Frage technokratischer Alltagsbewältigung. Aber wenn Ihr nunmehr den behüteten Bezirk ‚Schule‘ mit dem Schutzraum ‚Elternhaus‘ im Hintergrund verlaßt und in die freie Wildbahn ‚Leben‘ hinaustretet, werden Euch die homerischen Charakterbilder dort wieder begegnen, und Ihr werdet gut daran tun, wenn Ihr auf Euren beruflichen und auf Euren privaten, auf Euren ganz persönlichen Wegen die Agamemnons und die Thersites‘, die Hektors und Odysseus, die Achills und Paris wiedererkennt und angemessen einzuordnen wißt – und seien es auch nur ihre Parodien aus dem großen Krieg der Frösche gegen die Mäuse, im Ernst:

Ab sofort sagt Euch – vielleicht – keiner mehr: „mach‘ dies, mach‘ das, laß‘ es sein“, Ihr müßt von nun an alleine laufen. Euch eine Reihe von Wegen aufzuzeigen, diesen Mühlstein haben im Laufe der Jahre Viele und gerne gedreht, und am Ende habt Ihr gezeigt, daß Euch davor auch gar nicht bange zu sein braucht. Ihr habt jetzt alle Freiheit, aber Ihr wißt, daß es nichts Schwierigeres gibt als ebendiese. Neben dem kunstfertigen Daedalus, der seine Fähigkeiten zur Befreiung zu nutzen verstand, steht sein Sohn Ikarus, welcher den richtigen Pfad verpaßt hat. Gebraucht sie also angemessen.

Wie bleibt Ihr in Erinnerung, abgesehen von einem geschlossenen Studio und davon – die Erfahrung lehrt es – daß Ihr in aller Regel, Einige jedenfalls, die „üblichen Verdächtigen“, und das ist auch schön so, gelegentlich wiederkommen werdet ? Nach Allem was man hört, liest, und ich kann das aus eigener Beobachtung und Diskussionen nur bestätigen, seid Ihr eine durch und durch ‚pragmatische‘ Generation, von weltanschaulichem Ballast auf Euren Wegen erfreulich unbeschwert. Der Blick geht dabei stets nach vorn, und die magischen Epochenschwellen 20 – 50 – 80 habt Ihr alle noch vor Euch, also: macht ‘was ‘draus, abituri abituraeque und – abeatis.

 

*Der genaue Wortlaut dieses dem Sokrates zahllose Male von Schülerzeitung bis Bischofsrede in den Mund gelegten Bonmots ist bei Platon selbst freilich nirgendwo belegbar.

 

Koblenz, 26. März 2011                                                   Michael P. Schmude