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Horaz-Oden

Hor-Od-I-15   [aus: Anregung 40 (1994), 179-185]

Horaz, Oden I 15 („pastor cum traheret …„) und Antonius und Kleopatra in der augusteischen Dichtung: ein Überblick.

 von   Michael P. Schmude

Horazens lyrische Version des Krieges vor Troja, eingelegt in das Bild von der Wegführung der Helena aus ihrer spartanischen Heimat und von ihrem Mann Menelaos durch den phrygischen Hirten und dardanischen Prinzen Paris, im Aufeinandertreffen mit dem wahrsagenden Meeresgott Nereus (od. I 15), steht nicht unbedingt im Vordergrund prominenter Behandlungen des Dichters – als jüngere Beispiele seien hier das Horazbuch von E. Lefèvre (München: Beck 1993) sowie die neu aufgelegte „Horazische Lyrik“ von V. Pöschl (Heidelberg: Winter 1991) genannt; sie kann für die schulische Lektüre gleichwohl in verschiedener Richtung von Interesse sein:

Im formalen Bereich ist es der kunstvolle Gesamtaufbau der neun asklepiadeischen Strophen, ihre Anordnung und Gliederung; im Inhaltlichen wird es für Schüler nicht ohne Reiz sein, neben den bekannten, berühmten Über-Figuren des Trojageschehens einmal Helden der ‚zweiten Reihe‘, auch sie im Aufeinandertreffen mit dem Verursacher der zehnjährigen Kämpfe, zu erleben; hinzukommen Berührungen mit früher griechischer Lyrik, insbes. Bakchylides. Und schließlich wirft das Gedicht als Ganzes die Frage auf, ob es sich hierbei um die Entwicklung eines ‚bloß‘ mythischen Motives handelt, welches der Augusteer dem Bereich des Epischen Kyklos entnommen und auch in diesem Sinne belassen hat, oder ob noch eine zweite, allegorische Ebene der Interpretation zu gewinnen ist, welches dem Anliegen in den übrigen mythologischen Oden des Horaz entspräche.

 Als der Hirte durch die Fluten fortschleppte auf Schiffen

vom Holz des Ida(gebirges) Helena, der Treulose die Gemahlin

des Gastfreundes, da hemmte in unerwünschter Ruhe die schnellen

Winde Nereus, um grausige Geschicke zu künden:

 

„Unter schlimmem Vorzeichen fährst Du die nach Hause,             5          

welche Griechenland mit starker Streitmacht zurückfordern wird,

verschworen, Deinen Liebesbund zu brechen

und das altehrwürdige Reich des Priamus.

 

Wehe, wieviel Schweiß steht den Rossen, wieviel den Reitern

bevor, wieviele Begräbnisse bewirkst Du dem dardanischen     10   

Geschlecht ! Schon nimmt Pallas Helm und Aigisschild zur Hand,

bereitet die Wagen (zur Ausfahrt) und Zornesmut (zum Kampf).

 

Vergebens auf den Schutz der Venus trotzig vertrauend

wirst Du Deine Lockenpracht kämmen und Weibern angenehme

Lieder auf weichlicher Harfe spielend verteilen,                              15   

vergebens wirst Du im Frauengemach schweren

 

Lanzen und den Spitzen kretischen Pfeiles (=aus Knossos)

ausweichen, dem Schlachtenlärm und dem in der Verfolgung schnel-

len Aias: Du wirst dennoch, wehe, zu spät die buhlerischen

Haare im Staub beschmutzen.                                                                 2o

 

Siehst Du nicht den Sohn des Laertes, Verderben für Dein

Geschlecht, nicht Nestor aus Pylos ?

Unerschrocken drängen Dich Teukros von Salamis

Dich Sthenelos, der kundig

 

der Schlacht, sei es, daß es nötig, Rossen zu gebieten,                   25

oder als Wagenlenker unverdrossen. Auch den Meriones

wirst Du kennenlernen. Sieh erst, da rast, Dich zu finden,

unbändig der Sohn des Tydeus, stärker noch als der Vater:

 

den wirst Du fliehen wie der Hirsch den Wolf, welchen er auf der

anderen Seite des Tales erblickt hat, vergessend der Weide,      30

weichlich, mit keuchend in den Nacken geworfenem Haupt:

das ist es nicht, was Du der Deinen versprochen hast.

 

Grollend wird aufschieben den Tag (des Unterganges) Ilion

und den Phrygerfrauen die Mannschaft um Achill:

die Winter sind schon gezählt, nach denen Achaierbrand           35

ilische Häuser in Asche legen wird.“(1)

Die erste Strophe (v. 1-4) führt in die äußere Situation des Gedichtes ein: das Schiff des Paris, welcher Helena als Bruch seines Gastrechtes bei Menelaos von Sparta wegfährt, wird durch den Meeresgott Nereus unvermittelt angehalten, indem dieser die ihm untergebenen Winde verstummen läßt, um dem trojanischen Räuber die schicksalsbestimmte Strafe für ihn wie für sein gesamtes Haus vorherzusagen: das Verhängnis über das Priamusreich wird im Ergebnis bereits im Folgenden (v. 5-8) vorweggenommen und taucht – ringförmig abschließend – erst in den Schlußversen 35/36 wieder auf. Die Einzellinien dorthin werden, in stetigem Wechsel zwischen Prophezeiung (Verben im Futur) und visionärem Bild (Verben im Präsens – Numberger 72), in zweimal drei Strophen verfolgt, an deren Ende jeweils (v. 19/2o und v. 31/32) ein jämmerliches Bild des schmählich untergehenden Hauptübeltäters steht.

 Inhaltlich reizvoll ist hierbei die Auswahl der Gegenspieler, welche Paris solchermaßen zusetzen: Nicht Achill, der große Aias, Agamemnon oder auch Menelaos (wie im 3. Buch der Ilias) sind die Rache Nehmenden, sondern – nach dem Auftakt auf der Ebene der Göttinnen – der kretische Bogenschütze Meriones (Gefährte des Idomeneus, Il. 13, 246 ff.; 23, 859-83 u.a.); der kleine, lokrische Aias (Il. 2, 527-35; 14, 52o-22); Teukros aus Salamis, der Halbbruder des großen Aias (Il. 13, 17o ff.; 15, 436 ff.; vgl. Soph. Aias); Sthenelos, Wagenlenker des Diomedes (Il. 5, 1o7-12; 241 ff.; 835-4o). Zuvor (v. 21/22) mit Odysseus und Nestor Männer, die sich in der Ilias stärker noch als durch kriegerische Taten durch Schlauheit bzw. Weisheit auszeichnen. Eine Steigerung, die dann aber auch zum abschließenden Höhepunkt führt, erfolgt freilich mit Diomedes, vor dessen Anblick Paris bereits von ferne wie der Hirsch vor dem Wolf (am anderen Ende des Tales !) die Flucht ergreift.

In v. 33/34 retardiert das Grundthema der homerischen Ilias noch einmal den Vollzug, mit welchem die Prophezeiung des Nereus – nicht das Gesamtbild der Ode ! – schließlich (v. 35/36) abgerundet und erfüllt ist: (2)

[Der Aufriß des Gedichtes wird hier nicht richtig angezeigt; eine untergliederte Ansicht haben Sie in der Download-Version]

A:  v. 1- 4  äußere Einleitung : Anhalten der Seefahrt durch Nereus.

B:  v. 5-36  Hauptteil : die von Nereus vorausgesagten Fata des

Dardanidengeschlechtes.

v. 5- 8:   (Binnen-)Einleitung zu den Fata: Gesamtschau.

v. 9-32: (Binnen-)Hauptteil: Einzellinien der Fata:

I. v.  9-2o:  v. 9/1o    einleitendes Bild des Schlachtfeldes.

v. 11-18  Gegenparteien:

A 11/12  Athene

B 13        Venus

b 14-16  Paris

a 17/18  achäische Helden

v. 19/2o  1. Höhepunkt:  Tod des Paris im Staub.

II. v. 21-32: v. 21-26 achäische Helden; gewisse

v. 27/28 Steigerung bei Diomedes.

v. 29-31 2. Höhepunkt:  Vergleich Paris – fliehender Hirsch

v. 32    Völlige Entehrung des Paris vor der Geliebten.

v. 33-36: (Binnen-)Schluß: Erfüllung der Fata:

v. 33/34 : Verzögerung der Fata ( – kurzes „Aufbäumen“ der

Handlung).

v. 35/36 : endgültige und totale Erfüllung der Fata

(- Zusammenfallen der Höhepunkte).

C :             äußerer Schluß:    fehlt !

Auffällig bleibt das Fehlen eines äußeren Schlusses, welcher zusammen mit den Einleitungsversen 1-4 das Bild von der Meeresfahrt nach Troja rundete und die Vorhersage des Nereus als Episode darin einbettete; im Rahmen der Konvention könnte dieser eine Reaktion des Paris, seiner Mannschaft und/oder Helenas sowie die Weiterfahrt unter geänderten Vorzeichen und Stimmungen bieten. Bei gleichem Umfang wäre mit einem solchen Rahmenschluß darüber hinaus eine Symmetrie im Aufbau der Ode hergestellt, welche formal bis zu den einzelnen Strophen hinab, inhaltlich bis in die Gliederung des Binnenhauptteils in zwei Unterabschnitte reichte: zeigt dieses Gedicht sich uns mithin als Fragment ? (3) Wir kennen weitere Oden, in welchen Horaz Themen des Mythos in lyrischer Form behandelt, und die nach einer Prophezeiung scheinbar abrupt enden (I 7, III 3; III 11 und 27); allerdings sind es dort die persönlichen Einleitungen, die am Ende nicht wieder aufgegriffen werden (4) – und in I 15 fehlt ein unmittelbarer Bezug auf Person oder Lebenswelt des Dichters. Vielmehr ist in diesem frühen (Fraenkel 226–28) Stück die Einleitung bereits ein mythologisches Bild, ist die Vorhersage am Ende schon ausgeführt, nach oben hin gewissermaßen abgeschlossen, bleibt ihre Einbettung hingegen unvollständig.

Auf weitere Parallelen zu dieser Form des Odenschlusses weist eine Notiz des Horazkommentators Pomponius Porphyrio (wahrscheinlich aus dem 3. Jh. n. Chr.): „hac ode Bacchylidem imitatur; nam ut ille Cassandram facit vaticinari futura belli Troiani, ita hic Proteum„(5). Dieser von Porphyrio als Anregung und Vorlage für Horaz angenommene Dithyrambos – Chorlieder, in welchen oftmals Episoden aus größerem epischem Zusammenhang thematisiert wurden und Rede und Dialog eine wichtige Rolle spielten, „in mancher Hinsicht … unseren Balladen nicht unähnlich“ (so Fraenkel 224/25) – ist verloren; freilich zeigt der (erhaltene) Dithyrambos ‚Die Antenoriden oder: Die Rückforderung der Helena'(6) Gemeinsamkeiten mit der Horazode I 15:

Er handelt von einer Gesandtschaft des Menelaos und Odysseus nach Troja, um dort die Auslieferung Helenas zu verlangen, als, noch vor dem eigentlichen Beginn des trojanischen Krieges, nach der Landung der Griechen von ihrem Heerlager auf der Insel Tenedos aus auf dem troischen Festland bereits zwei kleinere Gefechte stattgefunden hatten (7). Sie werden gastlich aufgenommen von Antenor, dessen Frau Theano Priesterin der Schutzgottheit der Sadt Pallas Athene ist, und der sie auch vor den Feindseligkeiten einiger Trojaner schützt.

Von Bakchylides wird dies freilich vorausgesetzt; sein Gedicht beginnt ohne Einleitung damit, daß Theano ihren Gästen auf der Akropolis von Troja den Athena-Tempel zum Gebet öffnet, und einer (verlorenen) Partie zwischen Odysseus und Theano. Kernstück und zugleich Höhepunkt bildet eine Rede des Menelaos vor der Volksversammlung auf dem Marktplatz; mit deren Aufruf zu Recht und Gesetzmäßigkeit sowie Warnung vor Hybris und Verschlagenheit (Giganten) schließt das Lied ebenso unvermittelt, wie es eingesetzt hatte, ohne Rückkehr zur Rahmenerzählung: keine ausgeführte mythische Episode, sondern ein situatives, episches Kleinbildchen, im Detail abgeschlossen, aber nicht in einen größeren Zusammenhang gestellt.

Neben den offenkundigen Parallelen zu od. I 15 liegen Unterschiede besonders im Gewicht von erzählendem Teil und wörtlicher Rede; diese dominiert bei Horaz erdrückend, während sie im Munde des Menelaos eher eine Art Krönung der ausführlicher beschriebenen Situation darstellt. Bei beiden nehmen sie freilich den – ohnehin dem Leser bekannten – weiteren Verlauf der Dinge vorweg – sei es im faktischen (Horaz), sei es im sittlichen (Bakchylides) Sinne – , was sich wiederum zu den „inner-horazischen“ Parallelen (8) fügt.

Eine Frage, die in engem Zusammenhang mit der grundsätzlichen poetologischen Bewertung unseres Gedichtes stand und steht, ist schließlich diejenige nach einer Mythenallegorie oder ‚bloßer‘ lyrischer Version eines epischen Themas in od. I 15: bereits Plutarch (comp. Demetr. et Anton. 3 / Vit. Anton. 9o) weist auf die Gleichung Paris – Helena mit Antonius und Kleopatra hin, und Cristoforo Landino formuliert (in neuplatonischem Geist) den Gedanken einer Allegorie in seiner kommentierten Horazausgabe (Florenz 1482)(9). Andererseits ist dem Gedicht gerade von Kommentatoren, welche eine allegorische Auslegung ablehnen, der Vorwurf zu geringer Tiefenschärfe und des Fehlens eines paränetischen Elementes gemacht worden (1o), während der kunstvolle Gesamtaufbau durchaus Anerkennung findet (11).

Nun ist „pastor cum traheret …“ als Ganzes stets auf die Figur des (negativen) Helden Paris gerichtet, Helena direkt gar nicht angesprochen; dagegen steht der Dichter dort, wo er unverschlüsselt von den ägyptischen Ereignissen spricht, völlig in Übereinstimmung mit der offiziellen Kriegspropaganda Octavians, die alleine Kleopatra zur Kriegstreiberin und Gefahrenherd für Rom macht; ihr Liebhaber Antonius wird nirgendwo genannt (vgl. od. I 37, epod. 9, 11 ff.). Ein Bezug unserer Ode auf diese Vorgänge würde eine zur politischen Wirklichkeit des Horaz völlig entgegengesetzte Gewichtsverlagerung bedeuten (12); der Blick auf die augusteische Dichtung als Ganzes (13) soll dieses Argument stützen:

Im unmittelbaren zeitlichen Umfeld der Seeschlacht von Aktium stellt (nach der 1. Epode) das Stimmungsbild am Abend des Kampftages (2. Sept. 31 v. Chr.) in der 9. Epode des Horaz (s.o.) einen der ägyptischen Kriegsherrin völlig verfallenen Sklaven Antonius und die gesamte Auseinandersetzung als auswärtigen, nicht Bürgerkrieg dar. Bereits nach der Einnahme Alexandrias zeichnet die ‚Kleopatraode‘ I 37 (entstanden wohl im Spätsommer 3o) zum einen das fatale monstrum (v. 21) in Wahnwitz und Vermessenheit, zum andern aber auch den konsequenten Freitod der non humilis mulier (v. 31) im Sinne der attischen Tragödie, ergänzt darüber hinaus mit der Reaktion in Rom auf das gesamte Geschehen um Aktium die Epode 9 im Rückblick (14).

Properz widmet dem Thema zwei Elegien: in 3, 11 beschließt Kleopatra (v. 29 ff.) eine Reihe von sagenhaften Frauengestalten, welche über herausragende Männer ihre Macht auszuüben verstanden; auch in der 6. Elegie des 4. Buches (aus dem J. 16 v. Chr.), in welcher die entsprechende Passage der vergilischen Schildbeschreibung (Aen. 8, 675-713) nachgestaltet wird, läßt der Dichter –  stärker noch als sein Vorbild – Antonius völlig zurücktreten: es ist die Hand der Frau, welche römische Speere lenkt (v. 22)(15). Auch bei Ovid geht (met. 15, 826-28) allein von Kleopatra die aktive Bedrohung für Iuppiters Capitol aus, wenngleich sie als die Romani ducis coniunx eingeführt wird (16). Nicht anders schließlich das Bild in der nachaugusteischen Literatur; stellvertretend (aus dem 1. Jh. n. Chr.) ps.-Seneca, Oct. 518-22 (Nero über Antonius) und (besonders heftig sowie mit Verweis auf Helena) Lukan, b.c. 1o, 59-72 für die durchgängig ebenso negative Sicht der ägyptischen Seite wie bereits bei Properz.

Es war in der ersten Zeit nach Aktium von Staats wegen zu einer allgemeinen damnatio memoriae des Antonius gekommen; die Kämpfe selbst wurden zudem nicht als innerer Krieg (gegen Antonius um die politische Führung), sondern als Sieg über eine fremde Macht, als Verteidigung gegen das Ägypten der Kleopatra (17), und die Auseinandersetzung Octavians mit Antonius als eine private Fehde angesehen; die Bürgerkriege enden mit der Niederlage des Sext. Pompeius i.J. 36 v. Chr. Die augusteischen Dichter zeigen das allmählich milder werdende Bild eines eher fehlgeleiteten Opfers denn frevelhaften Usurpators Antonius in den Fängen der orientalischen Zauberin (des Horaz) bis zur ägyptischen Hure (des Properz). Mit dieser dominierenden und für die Ereignisse alleinverantwortlichen Kleopatra aller Augusteer ist aber die passive, stets im Hintergrund bleibende Helena der Ode I 15 ebensowenig vereinbar wie der horazische Hauptübeltäter Paris mit einem Antonius, welcher als Person (literarisch) gänzlich verschont bleibt, und dessen Handeln zumindest teilweise Verständnis – auch bei Lukan natürlich keine Billigung ! – findet.

Ohnedies ist die allegorische Deutung von od. I 15 letztlich das Ergebnis einer Art der Interpretation, die von einem Gedicht – hier aufgrund einer ohne Not geforderten Konformität der Aussageabsicht – etwas verlangt, was der Dichter offenkundig gar nicht bieten will, anstatt vor allem nach dem, was sie vorfindet, dessen poetischen Stellenwert zu bemessen. Unsere Ode ist eine lyrische Ballade, ist gewiß kein schweres Gedicht; und wenngleich die alten Stücke der frühen griechischen Lyrik vorwiegend einer (ethischen) Paränese verpflichtet sind, so finden sich auch unter diesen Gedichte, in welchen epische Episoden allein um ihrer Darstellung selbst willen behandelt werden (18). Mit diesen griechischen Verwandten und im angesprochenen Rahmen steht „pastor cum traheret …“ als freie, im Einzelnen wie im Gesamtaufbau höchst kunstvolle Zeichnung aus dem Mythos um Troja bei aller Eigenständigkeit auf ein- und derselben hohen poetischen Stufe.

Anmerkungen:

1)                 Als Textausgabe ist zugrundegelegt die Teubneriana von Fr. Klingner, Leipzig 3. Aufl. 1959 (Nachdrucke). Die Übersetzung beansprucht keine literarische Qualität, sondern versteht sich allein als Arbeitsgrundlage für die Interpretation; vgl. auch W. Willige, in: Gymnasium 64 (1957) S. 1oo-o2. – Umfassender Forschungsbericht zu Horaz (1957-1987) von E. Doblhofer, (Darmstadt 1992) [Erträge der Forschung 279]; s. zuletzt E. Lefevre, Horaz – Dichter im augusteischen Rom (München 1993) , S. 346-53.

2)                 Es kann und soll hier keine Einzelinterpretation der Verse gegeben werden; diese ist längstens und erschöpfend geleistet in dem nach wie vor unentbehrlichen und bequem zugänglichen Kommentar von A. Kießling / R. Heinze (Berlin 7193o von A. Mauersberger) [Nachdrucke], mit einem Nachwort und bibliographischen Nachträgen von E. Burck, sowie von R.G. Nisbet / M. Hubbard, A commentary on Horace: Odes b. I, Oxford: University Press 197o. Auf die Bedürfnisse der Schule ausgerichtet der Lehrerkommentar (zu den lyrischen Gedichten des Horaz) von K. Numberger (Münster 1972); mit Arbeitsaufträgen und Zusatztexten (Il. 3, 15-72 / 428-48) in: Quintus Horatius Flaccus – Carpe diem: eine Einführung in die Welt der horazischen Lyrik, für den Unterricht bearbeitet von K.H. Eller (Frankfurt a.M. 1986) [Modelle für den altsprachlichen Unterricht, Latein], S. 16-21 (auch zur Kleopatraode – s.u. S. 6 – ib. S. 27-32).

3)                 Zur Gesamtinterpretation vgl. vor allem Ed. Fraenkel: Horaz (Darmstadt 1963 [original Oxford 1957], Nachdrucke), S. 223-28 und H.-P. Syndikus: Die Lyrik des Horaz (eine Interpretation der Oden), Bd.1 (Darmstadt 1972) [Impulse der Forschung 6], S. 171-79.

4)                 In der Ode I 7 empfiehlt Horaz seinem Freund Plancus nach einer Gegenüberstellung glanzvoller Stätten Griechenlands bzw. Asiens und des heimischen Tibur (laudabunt alii … – Priamel) anhand des mythischen Loses des Teukros aus Salamis Unverzagtheit auch vor Schicksalsschlägen; III 3 preist Roms glänzende Zukunft im Munde der versöhnten Iuno, solange es nicht seine frevlerische Ahnstadt Troia wiedererstehen lassen wolle: beide Oden laufen in direkter Linie auf einen paradigmatischen Ausblick hinaus, welcher die Einleitung aus der Gegenwart des Autors nicht wieder aufzunehmen braucht. In der Danaidenode III 11 wie in der Europaode III 27 bleibt der Mythos Hauptsache, mündet die Erzählung von der Verweigerung des Gattenmordes durch die eine Danaostochter ebenso wie die Klage der phönikischen Königstochter am Strand von Kreta in eine Weissagung, welche die Zukunft der Heldin andeutet, noch nicht aber – wie in I 15 – ausführt, und damit das Gedicht nach oben hin offen läßt: auch hier wird die Sphäre des Dichters als äußerer Rahmen zum Schluß entbehrlich.

5)                 Proteus, der Robbenhirt Poseidons (vgl. Hom. Od. 4, 363-57o), wohl wie der Triton Pindars (4. Pythie) von Porphyrio dem Nereus des Horaz gleichgesetzt.

6)                 15(14) = dith. 1 der Bakchylides-Ausgabe von Snell/Maehler, Leipzig 1o197o, S. 52-54; deutsche Übersetzung in: Bakchylides – Lieder und Fragmente, griechisch-deutsch von H. Maehler, Berlin 1968, S. 87 [Schriften u. Quellen zur Alten Welt 2o].

7)                 Quelle für Bakchylides sind hier die Kyprien, ein Epos spätestens aus dem 8. Jh. v. Chr., benannt nach seinem (vermeintlichen) Autor Stasinos von Kypros (Zypern) und in Umrissen bekannt aus der Chrestomathie, Auszügen des Grammatikers Proklos vermutlich aus dem 2. Jh. n. Chr., vgl. auch den Bakchylideskommentar von Jebb, Cambridge 19o5 [ND Hildesheim], S. 218-21. Sie stellen im Rahmen des sog. ‚Epischen Kyklos‘ die Vorgeschichte der homerischen Ilias dar.

8)                 S.o. Anm. 4, zu beachten auch die Warnung Fraenkels 1963, S. 225 vor einer Einengung des Blickwinkels allein auf Bakchylides. In Verwendung und Akzentuierung übernommener formaler (wie inhaltlicher) Elemente bleibt Horaz eigenständig. F. Cairns (AJPh 92,1971, S. 447-52) weist als „parallel not in subject-matter but … in literary form“ auf Simonides fr. 543 Page hin (ib. auch zur Wahl des Nereus – nach Hes. theog. 233-36 – als Sprecher sowie zum Verhältnis Rom – Troja in od. I 15 und III 3).

9)                 „Ego autem puto poetam nostrum … admonere M.Antonium, ne Cleopatrae amore ductus adversetur Octaviano …“ Kießling-Heinze 193o, S. 75 f. gewichten die nicht zu leugnenden Unstimmigkeiten in Details im Sinne einer Mythenanalogie, ziehen diese zudem für eine Datierung der Ode auf den Winter 31/3o v. Chr. und die Aussageabsicht des Dichters heran, in Nereus‘ allegorischer Prophezeiung den Fall des Antonius und den Sieg des Westens über den barbarischen Osten zu künden. Entschiedene Zurückweisung als Überinterpretation aufgrund von ‚Systemzwang‘ innerhalb der übrigen mythologischen Oden des Dichters (mit früherer Literatur) bei Fraenkel 1963, S. 223f.; vorsichtige Zustimmung gemäß einer ganz allgemeinen Analogie der Charaktere und Schicksale noch einmal bei Numberger 1972, S. 73.

10)             Nisbet-Hubbard 197o, S. 189/9o sprechen von naiver Balladendichtung im Stile mancher Umgestaltung epischer Erzählung bei frühgriechischen Lyrikern in weitschweifige, in die Breite gehende Trivialszenen wie die Hochzeit Hektors mit Andromache bei Sappho (fr. 44 Lobel-Page), die sketchartigen Lieder auf den trojanischen Krieg bei Ibykos (fr. 282a Page) und Alkaios (fr. 283 L-P), sowie die oben (S. 5 f. mit Anm. 6/7) behandelte Antenoridenepisode des Bakchylides. Diese sei von einer ethischen Homerauslegung ebensoweit entfernt wie von der Orakelbehandlung alexandrinischer (etwa Lykophrons ‚Alexandra‘), aber auch römischer Poesie (die Vorhersagen der Parzen in Catulls carm. 64 oder der Thetis bei Statius, Achill. I 31 ff.).

11)             Syndikus 1972, S. 174 f. hebt neben der meisterhaften Handhabung der künstlerischen Mittel bei der Einzelausführung des Gedichtes besonders die zu Beginn in geradezu neoterischer Manier in Antithesen geformte äußere wie innere Gedichtsituation (Hirte – Meer, treulos – Gastfreundin, Winde – Meeresstille  …) hervor. In der Nereusrede ist Paris dementsprechend bis v. 2o als der Alles in Bewegung Setzende, im zweiten Teil als der nur noch Erleidende gezeichnet.

12)             So Syndikus 1972, S. 175 f.; vgl. zuvor auch Nisbet-Hubbard 197o, S. 19o. O.L. Smith macht (C&M 29,1972, S. 67-74) vor allem die Charakterzeichnung des Paris in I 15 zum Kriterium für seine Ablehnung der allegorischen Auffassung.

13)             Literatur: (neben den bereits Genannten insbesondere) F. Wurzel: Der Krieg gegen Antonius und Kleopatra in der Darstellung der augusteischen Dichter (Diss. Heidelberg 1941); I. Becher: Das Bild der Kleopatra in der griechischen und lateinischen Literatur (Berlin 1966).

14)             Weitere Anspielungen auf die Ereignisse in der Römerode 3, 6, 13-15 sowie in der späten Ode 4, 14, 34-4o; nur noch indirekt im Musengedicht od. 3, 4, 65-67.

15)             Bei Properz vgl. weiter Buch 2, 1, 31-34, ib.15, 43-46 und 16, 37-4o.

16)             In den Fasten 1, 711 bleiben beide namentlich ungenannt, während in der (pseudovergilischen und mit der Appendix Vergiliana überlieferten) Elegia in Maecenatem 1, 53 f. wiederum Kleopatra Rom als Mitgift für ihr stuprum begehrt; dieser Gedanke wird (vielleicht noch in augusteischer Zeit) von Manilius, astron. 1, 914-18 auf die dotalis acies in den Actia bella eingegrenzt.

17)             Entsprechend die Ausdrucksweise des Augustus, Monum. Ancyr. 25 und Sueton, Div. Aug. 22 sowie die Einbettung in frühere außenpolitische Auseinandersetzungen bei den Augusteern.

18)             Dabei mag Horaz durchaus an allen anderen Stellen den Mythos unter dem Gesichtspunkt des Ethos behandelt haben, und wir brauchen hier auch nicht der Frage weiter nachzugehen, ob und inwieweit od. I 15 ein früher lyrischer Versuch des Dichters ist, von welchem er sich später dann hin zu (sittlich–)ernsthafterer Behandlung abgewandt hat.

 

Zusammenfassung:

Horaz, Oden I 15 … und Antonius und Kleopatra … – M.P. Schmude

Mit der Ode I 15 („pastor cum traheret …„) wird ein Gedicht behandelt, welches im Rahmen der Horazbetrachtung eher ‚im zweiten Glied‘ steht ebenso, wie es hier Helden ‚zweiten Ranges‘ sind, die innerhalb des Trojageschehens dem Hauptübeltäter des zehnjährigen Krieges, dem phrygischen Hirten Paris, gegenübertreten. Neben dem kunstvollen, bewußt fragmentarischen (?) Aufbau des Gedichtes im Großen wird seine Verwandtschaft mit Erzeugnissen früher griechischer Lyrik (Bakchylides) aufgezeigt und in einem Gesamtüberblick auf entsprechende zeitgenössische Behandlungen die Frage gestellt, ob das homerische Paar Paris – Helena im Sinne einer Mythenallegorie auf die Gegenwart des augusteischen Dichters und die Auseinandersetzung des Princeps mit Antonius und Kleopatra übertragen werden will und kann.