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Zu-F-Montanari-History-of-Ancient-Greek-Literature

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Franco Montanari: History of Ancient Greek Literature – Vol. 1: The Archaic and Classical Ages; Vol. 2: The Hellenistic Age and the Roman Imperial Period. With the collaboration of Fausto Montana. Transl. from the Italian Original by R. Barritt Costa and Orla Mulholland. Berlin / Boston (de Gruyter) 2022. XXIX & 1174 S., € 290,00 (ISBN 978-3-11-041992-4).

aus: FORUM CLASSICUM 66 (2023), S. 160-163.

Das zweibändige Werk, ursprünglich erschienen Roma 1998 (Laterza), in zweiter, erweiterter Auflage 2017 (Edizioni di Storia e Letteratura) umfasst in einer überaus gehaltvollen und auf das Klarste durchstrukturierten Darstellung die Geschichte der griechischen Literatur in ihren Gattungen, Autoren und Erscheinungsformen von Homer bis Synesios von Kyrene. Biographien und Werke werden ebenso wie deren Sitz im literarischen und gesellschaftlichen Leben nach allen Seiten in ihre Epochen eingebettet und errichten ein minutiöses Gesamtbild der griechischen Antike von der Mykenischen Zeit, den Hellenic Middle Ages und der Dorischen Wanderung (‚Rückkehr der Herakliden‘) bis in die römisch dominierte Spätantike.

Die – ausweislich eines 27seitigen Inhaltsverzeichnisses auf ein Maximum an Detail angelegte – Gliederung folgt in kleinsten Schritten der ‚klassischen‘ Ordnung (welche hier bestenfalls summarisch angedeutet werden kann): eine Introduction zeichnet die Perioden der griechischen Sprache und ihrer Phänomene (Dialekte, Koiné), Text- und Überlieferungsgeschichte nach. The Archaic Age teilt sich in Epik, Lyrische Dichtung, Philosophie und Historiographie sowie Fabel. The Classical Age führt die Vorsokratiker fort und über das frühe Drama (Alte Komödie und Aischylos) zur Sophistik und Sokrates sowie zum klassischen (demokratischen) Theater einerseits, zu Epos und Lyrik des 5. und 4. Jh. v. Chr. andererseits. Von der Medizin der Zeit zeugen die Hippokratische Schule, (nach den Logographen) für die Geschichtsschreibung Herodot als father (seit Cic. leg. I 5) und Thukydides als Begründer der politischen Monographie. Die klassische Rhetorik des 5. Jh. (Lysias), die nachthukydideischen Historiker (Xenophon), Redekunst (Isokrates, Demosthenes) und Nachsokratiker (Alte Akademie und Peripatos) des 4. Jh. leiten über zur folgenden Epoche des Hellenistic Age. Hier stehen zunächst die Neue Komödie (Menander) und Tragödie sowie die Alexandrinische und Pergamenische Philologie, Textkritik und Grammatik. Die Dichtung des Hellenismus repräsentieren als Leuchtturm Kallimachos, daneben Apollonios von Rhodos (Epos), Theokrit (Bukolik) und Herondas (Mimiambus), den philosophischen Sektor bestimmen die Schulen der Skepsis (Akademie), Epikurs und die Frühe wie Mittlere Stoa. Es folgen Wissenschaft (Mathematik und Mechanik, Astronomie und Medizin), Rhetorik (Asianismus vs. Attizismus) und Historiographie (Alexander-Historiker, Polybios, Diodorus Siculus) sowie die jüdisch-alexandrinische Literatur (LXX). In The Roman Imperial Period faltet sich die griechische Literatur – auch in Richtung Fachschriftstellerei – weiter auf: Rede- und Stilkritik, professionell nunmehr in Rom, werden vertreten durch Dionys von Halikarnass, den Autor von Perì Hýpsous, Demetrios und Hermogenes von Tarsos, Geschichtsschreibung (nochmals Dionys sowie Cassius Dio oder dann im Übergang zum MA Prokop von Caesarea) und Geographie (Strabon, Cl. Ptolemaios) um die Peri(h)egetik (‚Reiseführer‘ – Pausanias) ergänzt; ein Solitär bleibt Plutarch aus dem boiotischen Chaironeía. Zugleich treten im 1. Jh. und im Umfeld der NTlichen Schriften jüdisch-christliche Autoren (Philo von Alexandria, Flavius Iosephus) auf, während die philosophisch-wissenschaftliche Literatur die Schulentwicklung aus dem Hellenismus fortführt (Plotin und der Neuplatonismus auf der einen, Galen oder Artemidor von Daldis auf der anderen Seite). Die Zweite Sophistik (im Geiste des Attizismus) verbindet einmal mehr Beredsamkeit und Philosophie (Dion von Prusa ‚Chrysostomos‘, Aelian aus dem latinischen Praeneste), und mit Lukian von Samosata erfolgt der Übergang zur narrativ-fabulierenden Novellistik des griechischen Romans (Longos, Heliodor oder die aisopischen Mythiamben des Babrios). Die kaiserzeitlichen Kompendien, alle Bereiche der kommenden Artes liberales betreffend, reichen von den Grammatikern Apollonios Dyskolos und Aelius Herodian (2. Jh.) bis zum Florilegium des Johannes Stobaios im 5. Jh. Ein nochmaliges Wiederaufblühen erlebt die Rhetorik in der ‚Späten Sophistik‘ des 4. Jh., attizistisch orientiert an den klassischen Vorbildern wie Demosthenes und bereits eingegliedert in die Auseinandersetzung zwischen Heiden- und Christentum nach der Konstantinischen Wende (Libanios von Antiochia). Einen Niedergang hingegen verzeichnet die Dichtung; im Bemühen, überlieferte Muster neu zu beleben, heben sich unter ihren Gattungen Epigramm und Epos hervor, letzteres insbesondere in Form des narrativen (Nonnos, Musaios) und Lehrgedichts, desgleichen orakelnde Hexameter der Sibyllen und spirituelle Hymnen aus dem Umfeld der Mysterienkulte (Orphiká). Zweigeteilt ist das letzte Kapitel über die griechisch-christliche Literatur – in die Phase vor Konstantin: Apostolische Väter, Apologeten, Märtyrerakten, Gnosis und Alexandriner (Clemens, Origenes) sowie in diejenige als Staatsreligion: Arianer, Eusebios von Caesarea, syrisch-palästinische und kappadokische Väter, Antiochener (Johannes Chrysostomos) und das Ende der Schule von Alexandria.

Die Epochenabschnitte im Großen beginnen mit einen historischen Überblick (The Period) und bestimmen die politischen Grundzüge der Zeit: so das Classical Age mit der Definition der namensstiftenden Idee sowie einer Beschreibung Griechenlands nach den Perserkriegen und in der ersten Hälfte des 5. Jh.; es folgen dort eine Behandlung des Perikleischen Zeitalters, des Peloponnesischen Krieges und griechischen Westens, sodann eine Darstellung der Hegemonie Spartas in der ersten und des Zugriffs Makedoniens auf Gesamtgriechenland in der zweiten Hälfte des 4. Jh., bis – wie stets – mit einer Vue d‘ensemble über die literarischen Gattungen der Schritt zum ‚eigentlichen‘ Thema geleistet wird.

Die entsprechenden Kapitel leiten methodisch zunächst in das jeweilige Génos bzw. die maßgebende geistige Strömung ein und verankern diese sodann in ihrem sozialen Umfeld. Es folgen – in zeitlicher Ordnung – die einzelnen Autoren, Leben und Werk(e), ggfs. verbunden mit Bemerkungen zur Textüberlieferung, schriftstellerische Merkmale (regelmäßig wiederkehrende Kapitel zu Komposition und Gehalt, überall zu Language and style; wo neu, auch zur Metrik), Rezeptionsgeschichte. Bei größeren Zusammenhängen, beispielsweise Hellenistische Dichtung (= Kap. IV der betreffenden Epoche), werden strukturähnliche Untergliederungen vorgenommen, hier: (2 ff.) Elegie und Epigramm – Kallimachos – Lehrdichtung – Epos – Bukolik – Tradition und Neuerung – Mimus, und innerhalb deren wiederum ein vergleichbarer Aufbau. Die engmaschige Führung in allen Abschnitten, gestützt durch Kopfzeilen: links Kapitel (Archaic Greek Epic), rechts Untergliederung (Epic cycles and post-Homeric epic), sorgt in der fortlaufenden Lektüre für kontinuierliche Orientierung; der Verzicht auf jegliche Fußnoten bzw. Anmerkungsapparat sowie eine klare und jederzeit wohlverständliche Sprachgestalt geben das Ihre hinzu.

Auch die Werkbeschreibungen im Einzelnen fügen die opera wiederum in ihren historisch-politischen Kontext (Paradebeispiel: Aristophanes) ein. Forschungsprobleme erfahren angemessene Diskussion: die Homerische Frage – Autorschaft und Genese aus der Oral poetry (Homer und die Homeriden von Chios), Weitergabe (Rhapsoden) und verbindliche Sammlung (Peisistratiden) der Gesänge wird (S. 108-126) von den antiken Quellen an (literarischen Zeugnissen; dazu Kommentaren und Scholien, insbesondere der Alexandriner) in allen wesentlichen Stationen der Debatte über Humanismus und Renaissance bis in die Philologie der Moderne (vom Unitarismus Aristarchs von Samothrake [→ S. 779 vs. Chōrizóntes] zum Analytical criticism des Abbé d‘ Aubignac) und Gegenwart bündig zusammengefasst. Die Theognideische stellt (S. 204 f.) die Frage nach Herkunft und Zusammensetzung des – im Vergleich zur Überlieferung anderer frühgriechischer Lyriker (von Pindar einmal abgesehen) – umfangreichen Corpus an (politischen – moralischen – Liebes-) Elegien aus unterschiedlichen Zeiten und dichterischen Anlässen, die Herodoteische (unitary vs. evolutionary criticism, S. 563-566) wie die Thukydideische (S. 580-583) – besonders im 20. Jh. – nach Einheit oder Komposition des Werks und Kontinuität seines Geschichtsbildes. Die Figur des historischen (→ Aristoph. Wolken) wie des literarischen (Platon, Xenophon) Sokrates hat von jeher Fragen aufgeworfen; M. sichtet (S. 418-421) akribisch und kritisch die Quellen zu Beiden – Parallelen zu Jesus von Nazareth in seiner Zeit und im Kontext der Schriften des Neuen Testaments und der jüdisch-christlichen Historiker (Josephus, Lukas; S. 1005, 1013 ff.) liegen auf der Hand. Der auf Aristophanes von Byzanz und Aristarch (s.o.) zurückgehende Kanon der Zehn Attischen Redner steht bei Dionys von Halikarnass (S. 946 f.) vor Augen, wird für Caecilius von Caleacte (Sizilien) reklamiert (S. 948) und unter (Ps.-?) Plutarch (S. 998) erwähnt. Man wünschte sich, bei aller Fragwürdigkeit solcher im Hellenismus einsetzenden Auswahlen, doch – nicht zuletzt aus dem Blickwinkel bereits antiker Literarkritik – an gegebener Stelle noch einige Bemerkungen zum Kanon der Neun Lyriker des Antipatros von Thessalonike (Anth. Pal. IX 184 und 571; Quint. X 1, 58-67, auch bei Dion. Halikarn. und Hermogenes), entweder bei den Dichtern selbst oder bei den alexandrinischen Gelehrten (→ S. 780). Nach Sappho (S. 223 ff.) behandelt M. (S. 280 f.) mit Corinna, Telesilla und Praxilla weitere Lyrikerinnen aus deren Kanon des gleichen Antipater (Anth. Pal. IX 26). Sorgsam entflicht er den Epischen Kyklos aus den Verästelungen seiner Einzelstränge und verweist auch auf gänzlich Verlorengegangenes (Herakléis, Theséis): die ‚homerischen‘, nicht-kyklisch angelegten Großepen setzen den trojanischen Sagenkreis inhaltlich voraus (S. 139), bleiben dichterisch aber eigenständig (Aristoteles, Poet. 1451 a 16-35); stofflich-genealogisch auf Theogonie und Titanomachie, Argonauticá und Thebanischen Kreis folgend, verdankt sich der Troianische in der uns vorliegenden Form mit Kýprien, Aithíopis, Kleiner Ilias, Iliupérsis, Nóstoi und Telegonía maßgeblich der Chrestomathía des Proklos (2. Jh., S. 134). Bei Alldem finden sich nicht nur Literarisch-Philologisches im großen historischen Rahmen, sondern auch sprachgeschichtliche Gesichtspunkte durchgehend berücksichtigt, dazu Archäologisches, soweit für die literarische Entwicklung von Bedeutung (etwa Schliemann, Korfmann und Homer, S. 64-68). Mit Bd. 2 und dem Hellenismus wird die Rezeption zum regelmäßigen Gegenstand von M.s History.

Die ausführliche Behandlung endet dann vergleichsweise unvermittelt: der Übergang zur byzantinischen Ära des Oströmischen Reiches und damit in die griechische Sprache und Literatur des MA bleibt mithin einem kommenden Band dieser verdienstvollen Gesamtschau vorbehalten. Ein Literaturverzeichnis als solches – im Allgemeinen wie zu Einzelnem – fehlt. Am Ende des (in durchlaufender Paginierung gehaltenen) zweiten Teiles stehen eine von E. Squeri gefertigte und alphabetische geordnete Bibliography of Translations (unter denen die Loeb Classical Library [Cambridge MA] klar dominiert) sowie ein Index antiker bis moderner Autoren, nicht allerdings ein Sach- oder etwa geographisches Register – möglicherweise wegen des äußerst genauen Inhaltsaufrisses als entbehrlich angesehen. Die Intention dieses bei allem Umfang doch kompakten und übersichtlichen Werkes von F.M. ist eindeutig die Darstellung, nicht die sekundärliterarische Aufarbeitung oder Dokumentation eines Forschungsstandes; gleichwohl gehört es gerade darum als Alles bis ins Detail überspannende Leseausgabe in die Hand eines/r Jeden innerhalb wie außerhalb von Schule oder Universität an der griechischen Literatur Interessierten.

Michael P. Schmude, Lahnstein

Cicero-zwischen-politischer-Praxis-und-ethischer-Pflichtenlehre

Cicero-zwischen-politischer-Praxis-und-ethischer-Pflichtenlehre

Cicero zwischen politischer Praxis und ethischer Pflichtenlehre –

eine Einführung in seine Schriften De re publica und De officiis

 

Mit Marcus Tullius Cicero haben wir eine der schillerndsten Figuren der antiken Geschichte überhaupt vor uns, die in ihrer Person wie in ihrer öffentlichen Karriere ein Paradebeispiel für Politiker auch unserer Tage geblieben ist und bleibt. Was er zur Politik unserer Tage zu sagen hätte, können wir aus seinem Hauptwerk De re publica herausfiltern: Über das Staatswesen, wie es sein sollte und wie es ist … (da hatte seine eigene Laufbahn schon einen ersten, heftigen Knick bekommen), oder besser: über die unterschiedlichen Formen der Staatswesen, ihre Vorzüge und Stärken, ihre Nachteile und Gefahren. Ist die Demokratie als Staatsform heute wirklich die beste? Sollte vor dem Hintergrund aktueller Herrscher das Volk über Staatenlenker abstimmen? Was hielte Cicero von Volksbegehren, überhaupt – was würde Cicero zum Verhältnis von direkter zu repräsentativer Demokratie wohl anführen?

Neben Caesar ist Cicero für uns die zentrale Figur der ausgehenden römischen Republik, bei der wir stets zwei Seiten unterscheiden müssen: er war eine Person des öffentlichen Lebens – heute VIP – zum Einen als Rechtsanwalt in zivilen wie politischen Verhandlungen, zum Anderen als aktiver Politiker im Sinne der ursprünglichen res publica, der Sache des Volkes. Seinen Verdiensten auf beiden Gebieten steht eine gehörige Portion Eitelkeit im Blick auf die eigenen Leistungen gegenüber, seinem Erfolg letztlich ein zögerliches Hin-und-Her-Taktieren zwischen den wirklich Mächtigen der Zeit im Wege.

Daneben war er aber auch ein Schriftsteller, der in Zeiten unfreiwilliger Zurückgezogenheit vom Politbetrieb maßgebliche, insbesondere philosophische Schriften von den Griechen übernommen und für seine Landsleute bearbeitet und zugänglich gemacht hat. Hinzu kommen rhetorische Abhandlungen sowie eine umfangreiche Sammlung von Briefen an Familienangehörige, Freunde und Weggefährten, in denen er zu allen wichtigen Fragen des öffentlichen und literarischen Lebens Stellung genommen hat. Er lebte und wirkte in einer Zeit des totalen Umbruchs im gesamten Bereich des gesellschaftlichen Lebens seiner Heimat und Wirkungsstätte Rom.

 

I. Werdegang und politische Karriere

Marcus wurde als Spross der alten gens (Familie) Tullia mit dem cognomen (Beinamen) Cicero (Kichererbse) am 3.1.106 v. Chr. im Landstädtchen Arpinum (Latium) südöstlich von Rom geboren. Er gehörte dem zweiten, dem Ritterstand an. Seine durch Grundbesitz vermögende Familie ermöglichte ihm (und seinem jüngeren Bruder Quintus) Studienzeiten in Rom (bis 82), Athen und Rhodos (79-77).

Seinen Durchbruch als Anwalt schaffte der homo novus (= Newcomer) mit einem ausgesprochen heiklen Prozess, in welchem er den jungen Sextus Roscius aus Ameria i. J. 80 gegen den Vorwurf des Vatermordes verteidigte, den ein Günstlings des Machthabers Sulla erhoben hatte, um seinerseits in den Besitz der Familiengüter zu gelangen. Mit dem Verfahren gegen Gaius Verres (70), der als Prätor die Provinz Sizilien hemmungslos ausgeplündert hatte, wurde er Roms führender orator; Höhepunkt einer nunmehr durchgängigen Tätigkeit als öffentlicher Redner waren die Philippischen Reden (44/43) gegen Caesars Weggefährten Marc Anton (44/43), angelehnt an die Philippika seines berühmten athenischen Vorbilds Demosthenes gegen den Vater Alexanders d. Gr.

Cicero hat alle seine Reden (110 Gerichts- wie politische Reden seit dem Jahr 81, von denen 58 erhalten sind) im Nachhinein überarbeitet und durch seinen Verleger Atticus veröffentlichen lassen.

Nach der klassischen Ämterlaufbahn (cursus honorum) – 76 Quaestor, 69 Aedil, 66 Praetor – stand er auf dem Gipfel seiner politischen Macht als Konsul im Jahre 63 v. Chr., in welchem er den Umsturzversuch des heruntergekommenen Adligen Catilina aufdeckte und dessen gesamte Putschistenbande besiegte (Zeugnis geben seine Catilinarischen Reden aus dem Prozess). Allerdings leitete seine in den eigenen Augen bedeutendste Leistung, die Zerschlagung der catilinarischen Verschwörung, zugleich seinen politischen Niedergang ein: wegen der (nicht zuvor von der Volksversammlung bestätigten) Hinrichtung der Catilinarier wurde Cicero 58 aus Rom (ins nördliche Griechenland) verbannt.

Nach seiner ehrenhaften Rückberufung 57, einem Kurswechsel zu Caesar, seiner Wahl zum Augur (53) und dem Prokonsulat im kleinasiatischen Kilikien 51 wurde er besonders in der Folge des Bürgerkriegs zwischen Caesar und Pompeius (49-46) mehr und mehr zum Kopf der republikanischen bzw. Senatspartei (Optimaten) und stellte sich, weiterhin nicht ohne auch ein gewisses Arrangement mit dem Tyrannen, seit 46 gegen die Alleinherrschaftsansprüche Caesars und dessen Nachfolger. Mit dessen Ermordung (44) erhoffte er sich von Octavian die Wiederherstellung der früheren Senatsherrschaft, während er in M. Antonius den Erben von Caesars Diktatur sah. Doch verbündete sich Caesars Neffe nicht – wie von Cicero betrieben – mit den Caesarmördern um Brutus zur Erneuerung der libera res publica, sondern mit Antonius (und Lepidus) im zweiten Triumvirat des Jahres 43. Cicero wurde daraufhin von den Killern Marc Antons am 7.12.43 in der Nähe seiner Landvilla (Formianum) bei Gaeta (nordwestlich von Neapel) ermordet – auch dies eine bemerkenswerte Parallele zum Ende des ihm wesensverwandten Demosthenes.

 

II. Literarisches Werk – De re publica

In Zeiten erzwungener politischer ‚Muße‘ entwickelte Cicero den Ehrgeiz, griechische Kultur und philosophisches Denken in Rom ‚salonfähig‘ zu machen, ausgehend von der Grundüberzeugung, dass der verantwortlich handelnde Staatsmann die Fähigkeiten des Rhetors mit den Bildungsgütern des Philosophen in sich vereinen müsse (de or. 3, 63) – eine Tätigkeit allerdings, die er stets als zweitrangig hinter seiner öffentlichen Leistung ansah.

Seine Briefe (epistulae an seinen Verleger Atticus aus den Jahren 67-44, epistulae ad familiares 62-43, dazu ad Quintum fratrem 60-54 und ad M. Brutum aus dem Jahr 43), stellen einen unschätzbaren Quellenfundus zur Geschichte der ausgehenden Römischen Republik dar.

Die wichtigsten Arbeiten auf rhetorischem Gebiet sind (nach der Frühschrift de inventione um 86) de oratore (55), Brutus und der orator (beide aus dem Jahr 46), in denen er Geschichte und Ideal römischer Beredsamkeit im obengenannten Sinne zeichnet. Fragen der Erkenntnistheorie behandeln seine Academici libri (um 45). Im Mittelpunkt seiner ethischen Werke stehen die Frage nach dem höchsten Gut des Menschen (de finibus bonorum et malorum) und die Lehren der großen hellenistischen Schulen hierzu, nach den Bedrohungen des menschlichen Glücks und dem Beitrag der Philosophie zu seiner Bewahrung (Tusculanae disputationes), in seiner Spätschrift de officiis schließlich der Konflikt zwischen bonum/honestum und utile und die Ableitung ethisch begründbarer Maßstäbe für das menschliche Handeln. Im gleichen Zeitraum (um das Jahr 44) wurden auch seine religiösen Schriften herausgegeben: de natura deorum (in der Gegenüberstellung von Stoá, Akademie und Epikur), de divinatione (gegen den stoischen Glauben an die Weissagung) und de fato (über die Kausalität menschlichen Handelns).

a. Die Schrift De re publica

Seine wichtigste staatstheoretische Schrift über die beste Form des Gemeinwesens entstand, neben dem rhetorischen Hauptwerk über den idealen Redner (De oratore, 55), in einer Phase mehr gefühlten als tatsächlichen politischen Einflusses bis 52 v. Chr. Fiktive Spielzeit des (an Platon orientierten) Dialogs ist das Jahr 129 v. Chr. an drei Tagen der Feriae Latinae  (je 2 Bücher = 1 Tag). Cicero erinnert seinen Bruder Quintus an das Gespräch des P. Cornelius Scipio d. J. (185-129 v. Chr.) mit Freunden (Laelius, L. Furius Philus, Manilius u.a.), welches ihnen durch den letzten noch lebenden Teilnehmer P. Rutilius Rufus 78 v. Chr. im kleinasiatischen Smyrna übermittelt worden sein will (rep. 1, 13).

Gemäß Ciceros Staatsdefinition in rep. 1, 39 sind Grundlagen des Gemeinwesens gemeinsames Rechtsempfinden und Nutzengemeinschaft, Gedankengut, das ihn mit der Stoá verbindet. Antrieb des Menschen zur Bildung von Gemeinwesen ist seine natürliche Veranlagung, und damit folgt Cicero dem aristotelischen Bild vom Zōon politikón, das von Natur aus auf die staatliche Gemeinschaft angelegt sei, im Unterschied zu Platon, für welchen die individuelle Unzulänglichkeit den nicht-autarken Menschen zur Arbeitsteilung im Rahmen eines staatlichen Zusammenschlusses zwinge. Bücher 1 und 2 behandeln den besten Staat: B. 1 stellt die Verfassungsformen sowie ihre Entartungen nach Platon und Aristoteles dar, übernimmt von dem romfreundlichen, hellenistischen Historiker Polybios (Mitglied des ‚Scipionenkreises‘) den Kreislauf der Verfassungen (Anakýklōsis) und mündet in die Mischverfassung (rep. 1, 69), welche die Stärken der einzelnen Formen nutze, die Schwächen hingegen durch wechselweise Kontrolle meide – verwirklicht in der Geschichte des republikanischen Rom = Buch 2. Bücher 3 und 4 (nur stückweise erhalten) fragen nach dessen sittlichen Grundlagen; zentrale Frage hier die nach dem Wesen der Gerechtigkeit: Cicero referiert bzw. gestaltet in B. 3 zwei Reden des (skeptischen) Akademikers (die Akademie war die Schule Platons) Karneades an zwei aufeinanderfolgenden Tagen im Rom des Jahres 156/155 v. Chr. für und wider die Gerechtigkeit. Für die Zuhörerschaft verunsichernd und bestürzend, dass beide gleichermaßen überzeugend waren, so dass auf Betreiben des Älteren Cato diese ‚Philosophengesandtschaft‘ (es waren noch die Schulhäupter des Peripatos, der Schule des Aristoteles, sowie der Stoá aus Athen mit angereist) ausgewiesen wurden. Philosophisches Denken hatte sich gleichwohl damit in Rom unwiderruflich ‚eingebürgert‘. B. 4 geht der Verwirklichung der Gerechtigkeit in der Gesetzgebung nach und weist auf Ciceros wenig später erschienene, gleichsam praktische Nachfolgeschrift de legibus voraus. Bücher 5 und 6 zeichnen den Staatsmann, welchen der beste Staat erfordert: B. 5 definiert ihn als sapiens et iustus vir, und mit dem Somnium Scipionis in B. 6, einer getreuen Anlehnung an die Erzählung des Pamphyliers Er am Ende von Platons Politeía vom Lohn der Gerechtigkeit nach dem Tode, setzt Cicero seinem Vorbild eines klugen, gerechten, tapferen und besonnenen (die vier Kardinaltugenden) Staatsdieners, dem Jüngeren Scipio Africanus (Numantinus, † 129 v. Chr.) ein beeindruckendes Denkmal.

b. Nachwirken

Cicero stellte De re publica als Ganzes in die Nachfolge von Platons Politeía ebenso wie de legibus (um 52?) zu dessen Nómoi. Doch während Platons Werk eine ‚U-topía‘, ein (historischer) Nicht-Ort, bleibt, verankerte Cicero sein Staatsmodell fest im Ablauf der römischen Geschichte. Eine Antwort aus christlicher Sicht gab Augustinus, seit 395 bis zu seinem Tod 430 Bischof von Hippo Regius (Numidien), in seiner Civitas Dei: verfasst unter dem Eindruck der Eroberung Roms durch den Westgotenkönig Alarich (410), wird hier der Gottesstaat vor dem Hintergrund eines christlichen Humanismus entwickelt – als Antwort auf den Staatsentwurf des Heiden Cicero. Die Auseinandersetzung mit dessen Schrift setzte indes bereits in den Divinae institutiones (304-313) des christlichen Apologeten Laktanz ein, wie Augustinus aus Nordafrika und ab 290 Rhetor und Erzieher Konstantins (des späteren Großen), der eine einführende Religionslehre für die gebildete christliche Welt entwarf.

Weitergeführt wurden die staatstheoretischen Entwürfe seit dem Humanismus und in die Neuzeit hinein durch Thomas Morus‘ Utopia (1516), Thomas Hobbbes‘ Leviathan (1651) oder John Lockes (zweitem der) Two treatises of government (1690), aber auch in Charles de Montesquieus Prinzip der Gewaltenteilung De l’esprit des lois (1748), J.J. Rousseaus Contrat social (1762) sowie den Rechtsphilosophien Immanuel Kants (1785 ff.) und G.F.W. Hegels von 1820.

c. Überlieferung

Lange Zeit war von Ciceros de re publica nur das Somnium Scipionis zum Abschluss des sechsten Buches in der von dem Neuplatoniker Macrobius (Anfang des 5. Jh. n. Chr.) kommentierten Form erhalten. Der säkulare Staatsansatz des Heiden Cicero schien durch den christlichen Gegenentwurf des Kirchenvaters Augustinus nach dem 5. Jh. überholt. Erst 1820 fand der Präfekt der Vatikanischen Bibliothek, Kardinal Angelo Mai, einen Codex rescriptus des 5. Jh. aus Palimpsesten mit etwa einem Viertel des Werkes vor Allem aus den Büchern 1 und 2. Von den übrigen Büchern sind allerdings beträchtliche Teile durch Zitate und Referate (so für B. 3 das <Argumentum Augustini> vor rep. 3, 8.) insbesondere des Laktanz und Augustinus überliefert.

 

III. Literarisches Werk – De officiis

Die Schrift De officiis [„Über die Pflichten“, verfasst Ende 44 v. Chr.] des römischen Anwalts, Staatsmannes und Philosophen Cicero gilt bis heute als ein Handbuch ethisch begründeten, praktischen Handelns: Was ist das Sittlich-Gute? Welche Formen von Nützlichkeit gibt es? Ist das Nützliche immer auch gut, oder sind Situationen vorstellbar, in denen Nützlichkeit und Sittlichkeit einander widerstreiten? Diese Fragen leuchtet Cicero in De officiis von unterschiedlichen Standpunkten her aus.

Cicero ist somit nicht nur als Politiker und Redner beispielhaft auch für unsere Tage geblieben, sondern er ist darüber hinaus der philosophische Schriftsteller, welcher die geistigen Debatten seiner Zeit aus Griechenland nach Rom und zu uns gebracht hat. Und dafür musste er sie zuerst einmal aus dem Griechischen ins Lateinische über-tragen, die Lehren der stoischen, epikureischen und akademischen Schule aus Athen im Rom seiner Zeit aufeinandertreffen lassen.

a. Cicero als Philosoph

Hintergrund seines eigenen philosophischen Werdeganges ist nicht zuletzt die Studienreise (zusammen mit seinem Bruder Quintus) nach Griechenland und Kleinasien in den Jahren 79-77 v. Chr. In Rom hatte er früh den Epikureer Phaidros kennengelernt und seit 85 bei dem Stoiker Diodotos studiert. In Athen hörte er Vorlesungen des Schulhauptes der ‚Akademie‘, Antiochus von Askalon, sowie aus der epikureischen Schule (neben Phaidros) Zenon von Sidon (Palästina); auf Rhodos wurde er Schüler und Freund des Stoikers Poseidonios. Mit seinem eigenen philosophischen Standpunkt nimmt Cicero eine Art Mittelstellung ein: da ist zum Einen die ‚skeptische’ Akademie seines ersten wichtigen Lehrers in Rom, Philon von Larisa (in Thessalien), welcher i. J. 88 aus Athen geflohen war – dieser stellte die Möglichkeit gesicherter Erkenntnis in Frage; auf der anderen Seite steht seine zweiter Lehrer, der ‚Dogmatiker‘ Antiochus – er billigte der menschlichen Wahrnehmung Verlässlichkeit zu. Antiochus unternahm in der ‚Alten Akademie‘ eine Zusammenführung von Platonismus und Stoizismus.

b. Cicero als Bearbeiter griechischer Quellen

Die Form, welche er seiner Darstellung griechischen Denkens gibt, orientiert sich stark an den Gesprächen seines großen Vorbildes Platon, des Begründers der Akademie, einer Vorläuferin unserer Universitäten, auf welche sich alle weiteren Schulgründer zurückbeziehen werden. Übertragung ist bei Cicero aber keineswegs als Übersetzung zu verstehen (durchweg allerdings bei philosophischen Fachbegriffen); vielmehr übernimmt er vorrangig aus Zusammenfassungen, Vorlesungsnachschriften oder Handbüchern Dritter und dann erst – wenn überhaupt – aus den eher trockenen, geschlossenen Abhandlungen hellenistischer Autoren. Diese gießt er in die lebendigere (gleichwohl ebenfalls künstliche) Form des platonisch-sokratischen Dialoges: er lässt die Vertreter einzelner philosophischer Schulen in Rede und Gegenrede aufeinander treffen, um sodann als ‚lachender Dritter‘ deren jeweilige Stärken zu seinem eigenen Standpunkt zusammenzuführen (→ Eklektizismus).

In De officiis verarbeitet Cicero stoische Quellen: für Buch 1, welches vom Sittlich-Guten (honestum) handelt, und Buch 2 vom Nützlichen (utile) fasst er die drei Bücher Über die Pflicht des Panaitios von Rhodos (ca. 185-109 v. Chr.), des Schulhauptes der ‚Mittleren‘ Stoá, zusammen. Für das dritte Buch über mögliche Konflikte von Sittlichkeit und Nutzen lässt er sich einen Auszug aus der Schrift Über die Pflicht des Poseidonios von Apameia (Syrien, ca. 135-51 v. Chr.), eines Schülers des Panaitios, anfertigen. Poseidonios war, während Cicero sich am Ende seiner Studienzeit 77 auf Rhodos aufgehalten hatte, dort auch sein Lehrer gewesen. Da Panaitios einen möglichen Gegensatz zwischen honestum und utile nur als Frage formuliert, ohne sie zu beantworten, und auch Poseidonios diesen lediglich streift, entwickelt Cicero hier recht selbstständig aus der stoischen Pflichtenlehre seine eigene Sozialethik.

Panaitios war in Rom Mitglied des sogenannten ‚Scipionenkreises‘ gewesen, welcher (in der Fiktion i. J. 129) den Rahmen für Ciceros Gespräch De re publica hergegeben hatte; aber darüber hinaus bestehen auch inhaltliche Wechselbeziehungen zwischen beiden Werken: so geht Cicero in De officiis zunächst einmal von der Natur des Menschen aus, welcher die vier Grundtriebe nach Erkenntnis, Gemeinschaft, Handeln und Maßhalten zugewiesen werden. Das ius (Recht), hier Teilbereich des honestum, hatte er bereits in De re publica mit utilitas (Nutzen) zusammengebracht und dort zu Grundpfeilern seines Gemeinwesens gemacht. Mögliche Spannungen zwischen den Interessen des Einzelnen und denen des Staates hatte er dabei in einem gemeinsamen Rechtsempfinden (iuris consensus) und in Nutzengemeinschaft (utilitatis communio) ausgeglichen. Platons Staatsutopie, der Politeía, lag hingegen noch eine Vorstellung von Gerechtigkeit zugrunde, welche den Nutzen grundsätzlich miteinschloss (vgl. off. III 20).

c. Die Schrift De officiis

Cicero hat diese letzte seiner philosophischen Schriften von Oktober 44 v. Chr. an auf seinem Landgut in Puteoli (heute Pozzuoli an der kampanischen Küste, westlich von Neapel) verfasst, bevor er sich Anfang Dezember nach Rom in seinen letzten politischen Kampf gegen Marc Anton, den früheren Kampfgefährten Caesars, begab. An seinen Sohn Marcus gerichtet, bleibt sie aufgrund der sich überschlagenden Ereignisse in der Stadt ohne abschließende Bearbeitung. Die Form des philosophischen Dialogs ist gegenüber früheren Schriften aufgegeben; die Abhandlung wendet sich direkt an seinen in Athen studierenden Sohn Marcus als Anleitung zum rechten Handeln und führt jedes ethische Verhalten im stoischen Sinne auf die Natur zurück: sie weckt im Menschen neben dem Streben nach Nutzen, welches allen Lebewesen zu eigen ist, den Wunsch nach sozialer Gemeinschaft (← De re publica).

Das erste Buch befasst sich mit dem Sittlich-Guten (honestum). Die Natur des Menschen fügt sich gemäß stoischer Lehre aus den vier Grundtrieben nach Erkenntnis, Gemeinschaft, Handeln und Maß; diesen entsprechen die Kardinaltugenden Klugheit (sapientia), Gerechtigkeit (iustitia), Tapferkeit (fortitudo) und Mäßigung (temperantia). Sittlich sind Handlungsweisen, die aus diesen einzelnen Triebkräften hervorgehen und – vernunftgesteuert – zu einer Harmonie im Ganzen führen und sie bewahren: in diesem Sinne sind die Pflichten definiert (I 15-17).

Folgerichtig unterscheiden Panaitios/Cicero vier Anwendungsbereiche des honestum, von denen sich der erste (sapientia, Erkenntnis) der menschlichen Natur, die drei anderen der menschlichen Gemeinschaft zuordnen. Von den drei ‚sozialen‘ Bereichen des honestum teilt sich der erste in iustitia (Gerechtigkeit) und beneficentia (Wohltun), die einander wechselseitig Grenzen setzen (I 42). Die Gemeinschaften sind abgestuft nach Menschheit im Ganzen, Volk, Gemeinde und Sippe; fundamental sind Ehe-, Bluts- und Freundesbande. Pflicht für die Gemeinde geht der beneficentia gegenüber dem Einzelnen vor (I 57). Auch für die Pflichten aus der Seelengröße (magnitudo animi), hier an die Stelle der fortitudo gesetzt, gilt ihre Anbindung an die Gerechtigkeit (I 65), und den Vorrang des zivilen Dienstes vor dem militärischen untermauern Beispiele aus der griechischen wie römischen Geschichte (I 75-78). Die Pflichterfüllung im Bereich von Maß und Ordnung garantiert zum Einen die Harmonie in allen Handlungsbereichen des honestum (I 96), zum Anderen entspricht sie im Besonderen dem Trieb zur Mäßigung und verwirklicht die Tugend der Selbstbeherrschung (temperantia). Für eine Individual-Ethik ergibt sich daraus, dass eine allgemeine Vernunftnatur alle Menschen miteinander verbindet (I 107), während der Einzelne seiner besonderen Veranlagung und Begabung, seiner sozialen Stellung und selbstgewählten Lebensbahn zu folgen hat, solange diese der allgemeinen Vernunftnatur nicht zuwiderlaufen. Und so gelangt Cicero zumindest teilweise auch zu einer Rangfolge von Formen der Sittlichkeit, welche Panaitios gar nicht thematisiert hatte: Pflichten gegenüber der Gemeinschaft gehen stets über solche, die aus dem individuellen Erkenntnistrieb erwachsen (I 153), stehen ihrerseits aber unter der Vorgabe von Maß und Ordnung (I 159).

Das zweite Buch behandelt das Nützliche (utile), aber auch hier bleibt der Wechselbezug zum Sittlichen stets wirksam: die ganze Vielfalt der Nützlichkeiten und Zwecke ist für den Menschen – auch mithilfe aller seiner natürlichen Gaben – nur erreichbar in der gemeinsamen actio (Tun) mit Anderen. Grundbedingung (II 21) für die benötigte Unterstützung sind Freundschaft (II 31 → Cic. Laelius De amicitia) und Ansehen, erworben werden diese durch die Gemeinschaftstugenden Wohltun (benevolentia, beneficia II 32) und Gerechtigkeit (iustitia II 38).

Im dritten Buch wird die Frage (bereits von Panaitios) gestellt, wie mit einem denkbaren Widerstreit zwischen honestum und utile umzugehen sei. Für den stoischen Weisen (und damit auch für Panaitios) erübrigt sich eine Antwort, weil nützlich nur sein kann, was zu Gutem führt, und allein das Sittlich-Gute ist wirklich gut. Cicero indes entwickelt eine Pflichtenlehre und damit eine praktische Ethik für den Normalbürger, welcher eine Handlung in ihrer Sittlichkeit wie in ihrem Nutzen oft gar nicht bis zum Ende überschauen kann, und gibt dafür eine formula (Regel, Norm) auf stoischer Grundlage (Poseidonios?) vor: einem Anderen etwas wegzunehmen und dadurch seinen eigenen Nutzen zu mehren, ist mehr gegen die Natur (auch des Individuums) als Tod, Armut und Schmerz, weil es das menschliche Zusammenleben und die Gemeinschaft aufhebt (III 21). Das Allen gemeinsame Naturgesetz (lex naturae) beinhaltet zugleich den gemeinsamen Nutzen Aller und verbietet, den Anderen zu verletzen (III 27). Die dafür gegebenen Fallbeispiele gliedert Cicero schließlich vage nach den vier Bereichen des honestum (III 96). Ist der Konflikt also nur ein scheinbarer, so beruht er auf falscher Einschätzung des Einzelnen, inwieweit etwa eine Handlung tatsächlich sittlich bzw. ob sie auch auf Dauer nützlich sein wird. Zugleich ist praktisches Handeln nicht nur Sache jedes Einzelnen, auch der Staat kann individuell, ‚als Einzelner‘ handeln müssen (III 46-49: dort auch ein klares Bekenntnis zu staatlicher humanitas gegenüber Fremdlingen) – praktische Ethik wird einmal zu angewandtem Völkerrecht werden.

d. Nachwirken

Der Kirchenvater Ambrosius, Bischof von Mailand, hat seine christliche Ethik De officiis (ministrorum – der Kirchendiener) Ende des 4. Jh. in unmittelbarer Anlehnung, teils wörtlicher Übernahme aus Cicero gebildet, wobei er Beispiele aus der antiken, sprich: römischen Geschichte durch solche aus dem AT ersetzt, um die ältere und höhere Autorität der jüdisch-christlichen ‚Weisheit‘ zu belegen. Die Schrift bleibt für die mittelalterliche Pflichtenlehre wegweisend.

Renaissance und Aufklärung entdecken die Humanität des ciceronischen Originals von Neuem, und für Voltaire am Hofe Friedrichs II. d. Gr. wie für die Moralphilosophie des 18. Jh. galt De officiis als vorbildliches ethisches Modell. Überhaupt entfaltet Cicero sein Nachleben nicht durch ein bestimmtes philosophisches Denksystem, eine Schule, einen Lehrsatz oder ein markantes Schlagwort – vergleichbar etwa dem Zon politikón des Aristoteles. Vielmehr wirkt er als politische, literarische und philosophische Gesamtpersönlichkeit, wirkt er insbesondere durch seine Fähigkeit, Fragestellungen in unterschiedliche Richtungen zu erörtern und verschiedene Lösungsansätze darzulegen, ohne eine Antwort dogmatisch vorzugeben. So ist er nicht nur auch für die Moderne der lateinische Unterrichtsautor geblieben, sondern darüber hinaus die öffentliche Gestalt, welche man – neben Caesar und Augustus – mit Römertum schlechthin assoziiert bis gleichsetzt.

Michael P. Schmude

 

Literatur

Bringmann, K., Cicero (Darmstadt 22014) [Gestalten der Antike, hg. v. M. Clauss]

Fuhrmann, M., Cicero und die römische Republik (München/Zürich 41997)

Giebel, M., Marcus Tullius Cicero (Reinbek 22013) [Rowohlt Monographie]

Grimal, P., Cicero: Philosoph, Politiker, Rhetor (München 1988).

Pina Polo, F., Rom, das bin ich. Marcus Tullius Cicero. Ein Leben (Stuttgart 2010)

Stroh, W., Cicero: Redner – Staatsmann – Philosoph (München 22010) [Beck-Wissen].